Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
von ihrer Hand; und darüber hatte sie gesetzt: «Hochgeehrter Herr» und darunter «Ihre Theuda Wyß». Ob er sich schon vorsagte, das sind leere Formeln, so erhob und berauschte es ihn trotzdem, daß sie ihn einen hochgeehrten Herrn zu betiteln nicht für unwert erachtete. Mit der Unterschrift aber unternahm er ein listiges Kunststücklein: er schnitt mit der Nagelschere von den drei Worten «Ihre Theuda Wyß» kreisum die zwei ersten säuberlich aus, das dritte unterschlagend. Siehst du jetzt: sie unterschreibt sich «Ihre Theuda». Das heißt meine Theuda; sie bekennt sich demnach als mir gehörig. Und versorgte das gefälschte Bekenntnis in die Kapsel seiner Uhrenkette. «Nun hab' ich sie sozusagen in meinem Besitz», jubelte sein Herz.
Jetzt überlief ihm die Seligkeit in die Nerven, daß er vor Ausgelassenheit irgend etwas recht Närrisches hätte beginnen mögen, er wußte nur nicht, was. Einstweilen stellte er sich vor den Spiegel und schnitt Grimassen, oder er ahmte Tierstimmen und menschliche Dialekte nach, was bei ihm den Gipfel der Fröhlichkeit bedeutete. Nein wirklich, im Ernst, er wußte nicht mehr, ob es ihm eigentlich wohl oder weh tue, so unausstehlich glücklich war er.
Herzeleid
Eines Tages jedoch wußte er's, ob es ihm wohl oder weh tat.
Er hatte sie eines Vormittags, als er Frau Doktor Richard besuchte, dort vorgetroffen, munter gestimmt und zu harmlosen Scherzen aufgelegt wie er selber; kurz, sie «verstanden sich» heute. So war man denn in traulichem Geplauder sitzen geblieben, länger verweilend, als beabsichtigt gewesen, wie an die Stelle gebannt durch den freundlichen Geist der Stunde.
Vom Nachhall der Übereinstimmung betört, entschlüpfte ihm unten auf der Straße, wie sie ihm zum Abschied mit gutem Blick die Hand reichte, eine kindische Frage: «Und Sie kommen also jetzt nicht mit mir?»
«Natürlich nicht», antwortete sie belustigt, «hoffentlich nicht.»
«Wohin denn sonst?»
«Diese Frage! Heim zu meinem Mann und meinem Buben, die hungrig aufs Mittagessen warten.»
«Und ich? ich bin also ausgeschlossen?»
«Ei, durchaus nicht. Kommen Sie nur mit; mein Mann wird sich freuen.»
Sie war nicht sein! Und wie eine Katze, die einen Schuß bekommen hat, floh er nach Hause. Sie war nicht sein! Und er, der gemeint hatte, seine Liebe wäre wunschlos! Als ob es menschenmöglich wäre, jemand zu lieben, ohne allermindestens seine bleibende Gegenwart zu begehren. Sie war nicht sein! Schlimmer noch: sie gehörte einem anderen, einem Fremden! Gewußt hatte er ja das freilich längst; allein heute zum ersten Male spürte er es auch, da sie ihn verließ, um zu einem andern zu ziehen. Und das nannte sie «heimgehen»!
Die Katze, wenn sie den Schuß hat, verkriecht sich; doch das Schrot nimmt sie mit, und die Wunde, die anfänglich mehr schreckte als schmerzte, beginnt im stillen Winkel und arbeitet. Welch ein unerhörtes Vorrecht! was für eine empörende Ungleichheit! Tag für Tag, Jahr um Jahr bis ans Ende der Ende soll der andere mit ihr wohnen dürfen, er nie. Nicht einen Sommer, nicht einen Monat, nicht einmal ausnahmsweise einen Tag. Jenem alles, ihm nichts. Und nicht bloß mit ihr wohnen, sondern – hinweg, Gedanken! Denn weil der dort ohnehin zuviel hat, schenkt sie ihm zu ihrer Gegenwart noch Liebe und Freundschaft obendrein. Ist jener traurig, so tröstet sie ihn; ist er krank, sie härmt sich um ihn; stirbt er, ihre Sehnsucht folgt ihm übers Grab; gibt es eine Auferstehung, ihr erwachender Blick sucht jenen. Was hat denn der Anmaßliche für einen einzigartigen Wert voraus, daß ihm solch ein schwindelhafter Preis zuteil wird? Ist er etwa nicht auch ein Mensch? oder besitzt er für sich allein mehr Vorzüge und Verdienste als die übrige Menschheit zusammen?
Und keine Hoffnung! Nichts zu ändern! weder zu erklügeln noch zu ertrotzen; rundum nirgends eine Möglichkeit. Im Gegenteil: jede vorüberziehende Stunde, so bei Tag als Nacht, so bei Regen wie Sonnenschein, welches auch sonst ihr Inhalt sei, eines tut ihrer jede sicherlich, die eine wie die andere: sie gräbt die Kluft zwischen ihm und ihr tiefer, schürzt das Band mit jenem enger. Die Angewöhnung, das Verständnis, die gemeinschaftlichen Erinnerungen, die gegenseitigem Dankverpflichtungen, das nimmt ja doch nicht ab; im Gegenteil, das mehrt sich, das häuft sich. Das Kind, das beide vereint, wird je länger, desto mehr ihre Sorge und Teilnahme beanspruchen, mithin die Eltern noch inniger befreunden; es ist ja auch nicht gesagt, daß es das einzige bleibe, es kann möglicherweise ein Brüderchen oder ein Schwesterchen erhalten; warum nicht? wer will's ihnen wehren?
Ach, hatte er sie unterschätzt, die Macht der Ehe, als er sie für eine Art Statthalterei betrachtete, meinend, es ließe sich billig teilen: jenem, dem Statthalter, der Leib und ihm die Seele! So scharf er auch sah, eines hatte er bei seiner Unerfahrenheit doch übersehen, die Hauptsache: das Mysterium des Fleisches, die tierische Gewalt des Naturtriebes, der die Mutter nötigt, Himmel und Erde um eine Kraftbrühe für ihr Kind herzugeben, der die Frau zwingt, das Herz dem Leibe nachzuwerfen, mit allen Fibern dem Manne angehörend, der sie körperlich geprägt, der sie aus der Jungfrau zur Frau und Mutter umgewandelt hat, verurteilt, diesen einen zu lieben, auch wenn sie ihn verachtete. Puppe, Bebé und Papa, diese drei Worte erschöpfen den Lebensinhalt des Weibes. O ihr Toren, die ihr euch darum kümmert, ob euch jene liebt, die ihr zur Frau begehrt! Herzhaft! lache ihres Abscheus, schleppe sie zum Altar; denn die Ehe ist stärker als der Haß, dauerhafter als die Liebe.
Eine Jungfrau wankt mit dem Verhaßten zur Kirche wie zum Schlachthof, leichenfahl, den Tod im Herzen, das einem andern gehört; frag nach zwanzig Jahren nach: «Kinder, freut euch, der Papa kommt morgen heim.» – «Wenn nur dem Papa kein Unglück zustößt!» Der andere dagegen, der einst Heißgeliebte, wenn der stirbt, so erhält er bei der Todesnachricht ein kleines Wehmütchen, wenn's hoch kommt ein mühsam erquetschtes Tränelein; nachher heißt es wieder Papa. Das ist die Macht der Ehe.
Nein, keine Hoffnung. Einen Naturtrieb bekämpfen? Narrheit. Gegen die Weltgesetze streiten? Wahnsinn. Die Wahrheit sprach zu ihm: «Verdammt auf ewig», und sein Gram gestand: «So ist es.»
Da ward er inne, daß, wer einen Menschen zu seinem Gott macht, sich einen Fluch pflanzt. Sind sie zu beneiden, die einen überweltlichen Gott haben, einerlei, was für einen; wäre er ein Zornbold wie Jehova, ein Ungeheuer wie Moloch; denn kein Gott keiner Religion ist unerbittlich, keiner verstößt in die Hölle, wer ihm liebend naht, keiner spricht zum Verzweifelnden: «Ich kenne dich nicht.» Und wäre selbst einer der Himmlischen fühllos wie Stein, eines ist er jedenfalls nicht: er ist nicht kleinlich. Man stößt auf keinen Direktor Wyß zwischen sich und ihm, man hängt nicht von der Gewogenheit eines Kurt ab, die Madonna der Christen gebärt kein Rudel von Buben, um deretwillen sie Himmel und Erde vergäße. Einen Menschen anbeten: nicht viel gescheiter als einen Wurm anbeten. Mit hellem Geiste sah er das ein; allein Einsicht heilt keine Entzündung. Sieh ein, daß das Gift, das dein Blut zu Eiter zersetzt, nur ein verächtliches Körnlein Schmutz ist, der Brand frißt trotzdem weiter.
Eben darum aber, weil seine Liebe Religion war, weil ihm in Theuda-Imagos symbolischem Antlitz alles Leben der Welt mitklang wie im Mutterangesicht die Heimat, verspürte er sein Leiden am schmerzlichsten in den edelsten Teilen der Seele. All die Andeutungen und Bedeutungen, all die Lichter, Gesichter und Gedichter, die da über die Brücke gewandelt kommen, welche die Wirklichkeit mit der Geisteswelt verbindet, langten wund an, mit einem blutigen Stich; sein gesamtes Lebensgefühl erkrankte zu einem sehnsüchtigen Heimweh; Heimweh nach ihr, Heimweh nach der gemeinsamen Heimat aller Geschöpfe, Heimweh nach sich selber. Denn er war ja sie; aber – o Höllenwunder der Unmöglichkeit! – sie war nicht er.
Und da er ein Mensch von Geist war, gezwungen, wenn er gebissen wurde, wissen zu wollen, was für eine Schlange ihn biß, mochte er sich mit seiner Vernunft über das Wunder der Lieblosigkeit unterhalten; zwecklos, wohl wissend, daß ihm die Erkenntnis nichts nützen würde, nur weil er als Denker nicht anders konnte als denken. Herzeleid aber stellt nicht das Denken still, im Gegenteil, es nötigt die Gedanken zu nagen. «Bist du wach? hast du Zeit? kannst du mir das Rätsel lösen, wie es seelenmöglich ist, daß ein Mensch, dem man das höchste Gut, den einzigen Trost auf Erden, also die Liebe schenkt, einem