Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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warf er ihr in jähem Zorn den Guckkasten über den Kopf Mußte er sie indessen wahnwitzig lieben, daß seine Phantasie sich getraute, ihm solche Unbilder zu bieten!

      Die Erinnerung, daß es einst seiner Willkür anheimgestellt gewesen, statt der gegenwärtigen Hölle den Himmel einzutauschen, daß sechs lange Monate das Glück geduldig vor seiner Tür auf- und abwandelte, seiner Erlaubnis gewärtig, die Erwägung, daß er nicht allein ihre huldreiche Gewogenheit, die ihm jetzt als der unerreichbare Gipfel der Gnade erschien, sondern in atemstickendem Reichtum ihre gesamte Person, Leib, Liebe und Leben mit einem einzigen Wort hätte erwerben können, prägte seine Qual mit tragischem Stempel. Hart an der Reue streifte die Erinnerung vorbei, berührte sie jedoch nicht, auch nicht einen Augenblick. Wohl ihm! denn bereute er, so rettete ihn nichts vor Verzweiflung. Nein, er bereute nicht, ob ihm schon die Sehnsucht das Herz wie mit Zangen zerrte. Deshalb fühlte er sich auch beim kläglichsten Geschrei seines Herzens gar nicht einmal unglücklich. Es glänzte etwas wie Glorie um sein Weh; ähnlich der Glorie des Märtyrers, dessen Mund zwar während der Folter jammert, dessen Glieder sich gegen den Henker sträuben, der aber selber zur nämlichen Zeit freudig seinen Gott bekennt. Darob erhöhte sich sein Gefühl zur Passion; seine Seele schritt auf dem Kothurn, sein Geist wogte rhythmisch; der Blick seines Auges, dem der tragische Schmerz jede Träne verweigerte, ward ekstatisch, in solchem Grade, daß eines Tages ein Augenarzt ihn auf offener Straße anhielt, mit dem Gesuch, die erstaunliche Merkwürdigkeit beglaubigen zu dürfen.

      Allein, wo Ekstase gedeiht, wächst auch die Anfechtung. Auch ihm widerfuhr sie, die Stunde der Anfechtung.

      Direktors feierten in diesen Tagen den Geburtstag ihres Bübleins, des kleinen Kurt; und Viktor, ob er schon sonst zu keinem Menschen mehr zu bewegen war («ein komischer Mensch! kaum, daß man gemeint hatte, es wäre alles gut, spielt er wieder den Einsiedler!»), erachtete es für richtig, bei diesem Anlaß nicht zu fehlen; aus Geschmacksgründen. Irgendein allegorisches Anspiel, vom andern Kurt, dem Ohm und Paten des Geburtstagkindes, ersonnen (dieser geniale Mensch nämlich schüttelte nur so aus dem Ärmel, wozu andere Wochen und Monate brauchen), wurde aufgeführt, worin der Mutter, also der Frau Direktor, die Rolle einer Fee zukam, so daß sie ihre nichtsnutzigen Verslein im weißen Gewande sprach, mit zwei mächtigen Flügeln behaftet, die schwarzen Locken aufgelöst, auf dem Scheitel ein flittergoldnes Krönlein. Schon während der Aufführung, angesichts der hehren Erscheinung im Himmelsgewande, nahm sich sein Herz meuterische Bemerkungen heraus: «Da sieh, du Tropf, du Ehefeigling, was du verscherzt hast.» Wie dann nach Beendigung des Stückes Theuda im Feenkleide verbleiben mochte, also daß Göttin und Menschenweib, Rolle und Wirklichkeit, durcheinanderspielten und das Kind herumgereicht wurde und weihevoller Friede von der Stirn der beglückten Mutter leuchtete, Ort und Stunde und alle Anwesenheit mit Huld und Güte segnend, da begann sein Herz einen solchen unsinnigen, unbändigen Aufruhr wie nie zuvor in seinem ganzen Leben: «Und wenn alle Götter des Himmels und alle Religionen der Erde und sämtliche Pflichten, Erhabenheiten und Weisheiten vereint auf mich einschrien, ich behaupte ihnen ins Gesicht: es gibt im Weltall keinen Wert, der den Besitz der Geliebten aufwöge, und keinen Lohn im Himmel und auf Erden, der für den Verlust dieses Kleinods entschädigte. Wer diesen Preis hätte haben können und hat ihn verschmäht, und wäre es auf Geheiß des allmächtigen Gottes in Person, der ist kein Märtyrer, kein Held, sondern er ist einfach ein Narr. Recht und billig, daß dich der Fluch der Verdammnis zermalmt.»

      Da eilte er heim auf sein Zimmer und rief in seiner Not seine Strenge Frau an, nicht anders als wie der Gläubige seinen Gott.

      «Hilfe!» stöhnte er, «ich vermag's nicht mehr allein. Die Freundin, die du mir verlobtest, deine Tochter, die du mir vermähltest, mit feierlichem Spruch uns ewiglich verbindend, Imago, meine eheliche Braut und Gattin, sie kennt mich nicht, Imago sieht an mir vorbei. Oh, mißverstehe nicht den Schrei meines gefolterten Herzens. Keine Reue befleckt den zuckenden Wunsch meiner blutenden Seele. Flösse die Zeit rückwärts, zum zweiten Mal mir die Entscheidung vor die Füße spielend, ich würde zum zweiten Male entsagen; ja, das würde ich. Auch will ich ja gerne leiden und entbehren, wehmütig, doch gläubig und freudig. Aber warum denn so gräßlich, warum so unmenschlich? Ist es denn ein so unerhörtes Verbrechen, groß zu sein, daß ich dafür über Menschenkraft bestraft werde? Wenn es sein darf, so mildere den Spruch meiner Verdammnis. Öffne deiner Tochter Augen, daß sie mich nicht ganz und gar verleugne; sprich ihr zu, daß sie mich ihren edlen Freund nenne, daß sie mir wenigstens einen Blick der Erinnerung, einen einzigen, gewähre. Leg ihr das ans Herz, befiehl ihr das. Darf es nicht sein, so leihe mir deinen Beistand, damit ich nicht unterliege.»

      Da war ihm, als schwebte der Schatten der Strengen Frau durch das Zimmer. Gestärkt stand er auf und litt, was zu leiden war.

      Konvulsionen und Illusionen

       Inhaltsverzeichnis

      Inzwischen waren die Winterfeiertage angekommen, Weihnacht mit ihrem schnellen Sprung, hernach der langsam daherkriechende Silvester. Selbstverständlich hielt er sich überall fern; denn ohnehin kein Freund von Familienrührseligkeiten und Kalenderhumanitäten «(muhen das ganze Jahr fühllos aneinander vorbei und bimmeln in der Neujahrsnacht Bruder Lieblich»), brauchte er gegenwärtig wahrlich keine Wachskerzen, um zu wissen, was Wehmut ist.

      Dagegen die üblichen Höflichkeitsbesuche am Neujahrsmorgen durfte er anständigerweise nicht unterlassen. So machte er denn geziemlich die Runde, wobei er die schwierigsten Gänge, den zu Frau Steinbach und den zu Direktors, ans Ende schob.

      Nicht wohl war ihm zumut, wie er in dem trauten Gartenhaus der Frau Steinbach die Treppe hinaufstieg. «ohne Anzüglichkeiten», mußte er sich sagen, «oder zum mindesten vorwurfsvolle Mienen werde ich schwerlich abkommen.» Allein nichts von alledem; mit unbefangener Freundlichkeit, als wäre er gestern hier gewesen und nicht ein Vierteljahr weggeblieben, empfing sie ihn, höchstens etwas zurückhaltender als früher.

      «Ich habe in der Silvesternacht», berichtete sie lächelnd, «Ihre Zukunft ausgekundschaftet; Sie wissen, mit geschmolzenem Blei im Wasser. Aberglaube, zugegeben; immerhin, wenn das Orakel günstig lautet, so mag man ihm gerne Glauben schenken. Und was das Orakel mir von Ihnen erzählt hat, das glaube ich wirklich. Nämlich Sie werden einmal eine liebe, treue Frau bekommen, anspruchslos und selbstlos, jung und anmutig, die Ihnen von ganzem Herzen zugetan ist und Ihnen das Leben zur Freude macht; dazu ein paar liebe, gute, schnupperige, kußliche Kinder – kurz, Sie werden glücklich sein.»

      «Ich? glücklich sein?» wiederholte er, tieftraurig.

      «Ja, glücklich. Und zwar so glücklich, wie ein Mensch auf Erden nur sein kann, ob Sie es schon vielleicht in diesem Augenblick nicht glauben; ich fühle es, ich weiß es, Sie werden glücklich sein, denn Sie haben das Talent zum Glück. Und wissen Sie, was ich tue? Ich liebe Ihre künftige Frau schon jetzt, ohne sie zu kennen. Ob ich's erlebe, kann ich nicht wissen; ich hoffe es, es wäre meine schönste Stunde. Sollte es nicht sein dürfen, so grüßen Sie mir Ihre liebe Braut herzlich von mir, und sagen Sie ihr, daß ich sie innig segne für alles Zarte und Gute, das sie Ihnen antun wird.»

      «Seine Frau, seine Braut», was für Worte, was für Vorstellungen! Und mit Traurigkeit getränkt, zog er verstört weiter, zu Direktors.

      Er traf sie im Empfangszimmer, das Kind auf dem Schoß, freudig erregt von Festtagen, Geschenken und Besuchern. Treuherzig, ein bißchen nachlässig, bot sie ihm die Hand mit dem üblichen Neujahrsgruß: «Ich wünsche Ihnen recht viel Glück und Gesundheit zum neuen Jahr und alles Gute.»

      Das sagte sie! sie wünschte ihm Glück! Von einem jähen Schwall von trostlosem Weh überwältigt, verließ er ohne Gegengruß noch Abschied das Zimmer («entschieden ein komischer Mensch, der Viktor»), stürzte durch die Seitengassen, hernach durch die Vorstadt – o die unendliche Stadt, die zahllosen Menschen, die neugierigen Blicke! –, dem rettenden Walde zu. Doch er gelangte nicht bis zum Walde; denn kaum daß er von ferne den Saum der gastlichen Tannen gewahrte, riß es ihn zu Boden, mitten in den Schnee, eine Beute unsinniger Schluchzer. Da galt keine Überwindung, keine Scham; so wie einer, der Arsenik im Leibe hat, im dichtesten Menschengewühl hinstürzt


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