Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
– «Mäßig.» – «Wenn du die Herzogin von Aragonien und Kastilien liebst, liebt sie dich wieder?» – «Wird ihr schwerlich einfallen.» – «Wenn du eine Schnecke liebst, liebt sie dich wieder?» – «Könnte sie schon gar nicht.» – «Nun also, da hast du's. Je tiefer hinunter mit der Seele, desto weniger Liebe. Liebe bedingt Seelenfülle, Lieblosigkeit verrät Stumpfheit. Punktum.»
«Und das alles klar zu wissen, haarscharf einzusehen, es ist nur dein eigenes Phantasie-Ei, das dir aus dem Gläslein dieses kleinen Weibleins entgegenguckt, und trotzdem verdammt zu sein, dieses kleine Weiblein, das du weit überschaust, überfühlst und überdenkst, wie den Heiligen Gral zu begehren, nach ihr zu lechzen wie ein Verdurstender nach dem rettenden Quell! Wie erklärst du das?»
«Torheit, Torheit, mein Lieber!» lachte die Vernunft. «Doch üb du nur ruhig deine Torheiten weiter; das verspricht mir, daß dereinst noch etwas Vernünftiges aus dir wird.»
So unterhielt er sich mit der Vernunft über seinen Fall. Deswegen wurde ihm nicht um den geringsten Grad besser; im Gegenteil. Es ging ihm wie mit den Zahnschmerzen: je mehr man daran denkt, desto ärger wird es; und wenn man versucht, nicht daran zu denken, so zwingt einen der Schmerz, an den Schmerz zu denken. Wohin sollte er aber auch seine Gedanken retten, daß sie nicht den Schmerz vorfänden? Ob er jenseits des gestirnten Himmels in die Religion, ob er in den strahlenden Schöpfungsäther der Poesie flüchtete, immer stieß er auf seine Verdammnis, immer begegnete er diesem einen unseligen lieben Menschengesicht, das ihn überall hin verfolgte, um ihn von überall her mit seinem schönen kalten Blick zu vernichten.
O ihr Gedankenlosen, die ihr über das Leid unerwiderter Liebe lächelt! Nehmt, eine Mutter sähe ihr verstorbenes Kind, ihr einziges, aus dem Grabe steigen, lieblich und schön, von Himmelsglanz verklärt; sehnsuchtschreiend stürzte sie ihm entgegen; das Kind jedoch kehrte sich von ihr ab, fremden Blickes, mit verächtlichem Lippenrümpfen: «Was will mir die dort?» Würdet ihr da lächeln? Genauso war ihm zumute; das teuerste Stück seiner selbst aus ihm herausgerissen, gesondert umherwandelnd und ihn verleugnend. Und das tat so grausam, so unleidlich weh, daß er manchmal meinte, es dürfe einfach nicht sein, weil er es nicht ertragen könne.
Allein er war kein Schwächling, vielmehr standhaft und zäh. Darum rief er seinen Verstand zu Hilfe. «Da! so steht's. Leben muß ich; ertragen kann ich's nicht. Also was?»
Ihm antwortete der Verstand: «Komm, ich will dir etwas zeigen.» Und führte ihn vors Schlachthaus. «So, jetzt, denk' ich, kannst du's ertragen.» Hierauf, nachdem sie wieder zu Hause angelangt waren, fuhr er fort: «Siehst du, die ganze Kunst besteht darin, nichts Unheilvolles zu tun; tu lieber gar nichts. Beiß die Zähne zusammen, oder schrei meinetwegen, wenn's nicht anders geht; nur schrei nicht mit den Händen. Die Stunde besiegen ist alles; wer die Stunde besiegt, besiegt den Tag; wer den Tag besiegt, besiegt das Jahr; nur immer gerade jetzt nichts Verderbliches begehen. Die Stunde aber besiegt ein Mann – und du bist ja ein Mann –, vorausgesetzt, daß er gesund ist – und du bist ja gesund –, mit Arbeit. Darum laß die Schmerzen machen, das ist ihre Sache, sie können's allein; du arbeite; du weißt, was.»
Er wußte, was. Und da die Arbeit im Dienste seiner Strengen Herrin geschah, die da eine mächtige Göttin ist, flohen vor ihrem Odem die Quälgeister hinter den Vorhang, von wo sie allerdings dann und wann heimtückisch hervorschossen, um ihm einen raschen Stich zu versetzen, doch sich ebenso schnell wieder versteckten.
Freilich, selbst die schärfste Arbeit bringt Pausen; oder sie hört auch einfach auf, abends in müdem Zustande. In solchen Stunden kamen die Überfälle zahlreicher und gefährlicher. Auf der Bibliothek standen, ordentlich gereiht, sämtliche Jahrgänge einer Monatsschrift; während er sorglos darin blätterte, schreckte er plötzlich zurück, wie von einer Schlange gebissen: einer der Bände trug nämlich die Jahreszahl der Parusie; so daß er künftig jeder Zeitschriftensammlung in weitem Bogen auswich.
Er kam an einer Frauenkleiderhandlung vorüber. Im Schaufenster prangte ein weißer Rock mit grünen Knöpfen. O sengender Sonnenstich der Erinnerung! Sie hatte in der Parusie einen weißen Rock und einen weißen Gürtel, mit grünen und goldenen Fäden gewirkt.
Und ähnliches. Unter den scheinbar harmlosesten Gegenständen lauerten Skorpione. Dieser Kamm scheint doch unschuldig, nicht wahr? und dieses Papiermesser auch? Eitel Tücke und Gleisnerei! denn diesen Kamm hatte er sich zwei Wochen vor der Parusie gekauft! das Papiermesser das Jahr darauf während der «fliegenden Hochzeit». Und jedesmal schrie das getroffene Herz auf: «Es kann, es darf ja nicht sein; es ist ja ganz und gar unmöglich.» – «Tatata!» mahnte der Verstand, «keine Gaukeleien! Es ist; folglich wird es wohl möglich sein.» Und schleunig duckte er die winselnde Hoffnung.
Immerhin, von Stunde zu Stunde tapfer kämpfend, kam er über die Tage leidlich hinweg; meistens siegreich, zuweilen unentschieden, niemals geschlagen.
Aber die Nächte! Wo im Traum das tagsüber unterdrückte, doch keineswegs vernichtete Heimweh seiner Seele, nun nicht mehr von Arbeit, Wille und Verstand gebändigt, freiledig emporstieg, wie die Dampfsäule aus einem siedenden Kessel, nachdem der Deckel abgehoben worden! Keine Nacht ohne Traum, und kein Traum ohne sie. Und unfehlbar vermählte ihn der Traum mit ihr, behauptend: «Ich bin die Wahrheit, das Gegenteil ist Trug und Täuschung.» Und nicht vereinzelt dichteten die Träume, jeder für sich ein besonderes Ganzes darstellend, heute dieser Traum, morgen ein anderer; nein, der Traum der jeweiligen Nacht bezog sich rückwärts auf die Träume der vorangegangenen Nächte wie eine Romanerzählung auf die früheren Kapitel; seine Träume bildeten Kette. So daß er ein förmliches Doppelleben führte: nachts, herzlich mit ihr vereint, von ihrem Lächeln beleuchtet, von ihrem Liebesblick besonnt, mit ihr plaudernd und kosend, ein Leben voll süßer, goldener Seligkeit; tags ein hoffnungsloses Schmerzensdasein in der Trübsal uferloser Verdammnis. Oh, wozu erwachen! Daß doch niemals die Enttäuschung einsetzte! daß der wonnige Traumwahn auch den Tag tröstete!
«Wenn's nur das ist», meinte die Phantasie, «dem ist bald abgeholfen.» Und eins, zwei, ohne seine Einwilligung abzuwarten, hatte sie den Guckkasten aufgerichtet und die Vorstellung begonnen: Unmöglichkeiten, auf Lügenfüßen stehend, immerhin denkbare Unmöglichkeiten, wofern man von den Lügenfüßen absah.
Eine demütige Greisin hielt auf seiner Schwelle; dahin die Schönheit, zerstoben die Freunde und Anbeter, das erloschene Auge um ein Liebesalmosen bettelnd. «Auch du, natürlich», klagte ihr Blick, «nun ich alt und häßlich bin, kennst mich nicht mehr.»
Er aber rief. «Theuda, meine Braut, umsonst, daß du dich bemühst, die ewige Jugend deiner Schönheit unter der entliehenen Maske des Alters zu verhehlen; denn sie verrät der Glanz der Parusie, der dich umstrahlt. Doch warum stehst du demütigen Blickes auf der Schwelle? Sieh, ich beuge vor deiner Hoheit ehrfürchtig die Knie.»
Ihm antwortete Theuda: «O Wunder der Gnade! Heute, da ich alt und häßlich bin, wird mir aus einem einzigen Herzen der Liebe mehr, als mir von allen Menschen zusammen in meinem ganzen Leben geworden.»
«Gelt?» lachte die Phantasie, «das gefällt dir?» Und fuhr fort zu spielen.
Im Krankenbett sah er sie liegen, von Beulen entstellt, von den Nächsten verlassen, ein Ekel den Menschen. Er aber nahte ihr andächtig wie einem Altar.
«Das ist hingegen kein schönes Bild», tadelte er die Phantasie.
«Soll auch keines sein, denn das ist ja eben das Schöne daran, daß deine Liebe sogar den Ekel übermag. Doch wart, ich habe noch etwas.» Und fuhr fort zu spielen.
Eine Lasterhafte schaute er, von der Welt verurteilt, verstoßen, verspien; dem Trunk ergeben, im Rausch auf dem Boden sich wälzend.
«Pfui!» schalt Viktor entrüstet, «pack auf! was für eine sträfliche, hirntolle Vorstellung! Sie, die Züchtige, die Reine, die Hohe!»
«Aber wenn?» zischelte die Phantasie, «wenn? Sag ehrlich, was würdest du in diesem Falle tun? Würdest du, würdest du sie mit dem Fuß fortstoßen? würdest du das? Du schweigst? Schon gut, ich weiß jetzt genug. Übrigens hab' ich auch allerlei in anderm Stil. Vielleicht ein durchsichtiges Kartenspiel gefällig? Nicht? Schade, da hast du unrecht, es sind wunderhübsche Sächelein darunter.