Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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      «Man ist einem Menschen erst dann hoch überlegen, wenn man ihn nach seinem Wert einschätzt, und wie windig schon der Kurt sein mag, solange er dir etwas verzeihen darf, setzest du ihn über dich. Frisch! hier ist Feder, Tinte und Papier; schreib dem Kurt ein Wort des Bedauerns, so sinkt er in die Versenkung, und du bist einer häßlichen Last ledig.»

      Und das Herz schmeichelte: «Er bleibt trotz allem ihr Bruder.» Und der stolze Ritter mahnte: «Dem königlichen Hauptmann der Strengen Frau tut es keinen Abbruch, wenn er freiwillig einen Fehler eingesteht und ihn wieder gutmacht.»

      «Ich kann nicht; ich will nicht», knirschte sein Grimm. Siehe, da erschien im Zimmer ein himmelblauer Fleck, der Fleck vergrößerte sich, Harfenrauschen ertönte, und durch die Harfen rief eine Stimme, ihre Stimme: «Geben Sie acht, vor der Haustür kommen noch drei Stufen.»

      «Imago», schrie seine Liebe, «du Hohe, du Gute, du Edle! ich glaube.» Und schrieb in fieberhafter Hast dem Kurt eine Entschuldigung; kurz und stolz, aber auch redlich und aufrichtig, wie man soll; ohne sich um das gebührende Wort zu drücken.

      Tags darauf erhielt er eine mit Bleistift geschriebene Postkarte ohne Unterschrift:

      «Geräuschvoller Hühnerflug der Begeisterung!

       Philosophen die Clowns der Universitäten!!

       In die Oberste die Taube gefahren! Famos!!!»

      Frau Keller, welcher er den Wisch vorzeigte, löste ihm das Rätsel: das war die Handschrift des Kurt; die sonderbaren Sätze waren Zitate aus Viktors Kraftsprüchen, die offenbar dem Kurt unbändiges Vergnügen gemacht hatten; das Ganze bedeutete eine Art Versöhnungsurkunde.

      «Nicht wahr, originell? genial?» meinte sie begeistert.

      «Siehst du jetzt, Viktor?» belobte die Vernunft. «Ist dir nun nicht leichter und freier zumute? Ich bitte um Antwort.» Viktor antwortete: «Mir ist nicht bloß freier und leichter zumute, sondern auch höher und vornehmer.»

      «Drum also fahre fort. Die erste Hälfte ist getan, vollbringe auch die zweite; lerne Ehrfurcht vor ihrem Vater.»

      Da sprach Viktor zu sich selber: «Er war ihr Vater; die Sprache seines Angesichtes ist demnach verwandt mit der Sprache aus Theudas Angesicht. Gut; vor seinem Angesicht mag ich die Ehrfurcht lernen.» Ging hin und kaufte sich in der Buchhandlung das Kopfbild des Staatsmannes Neukomm, um es als Vorbild an die Wand zu heften. Allein, wie er nun den zuversichtlichen, überzeugungsbuchenen Charakterkopf mit dem inhaltlosen Feuerblick darin näher betrachtete, übermannte ihn plötzlich der alte Hohn, so daß er hurtig das Bild unter eine Lage Papier versteckte, mit einem wuchtigen Briefbeschwerer darauf, damit der Charakterkopf nicht etwa heimtückisch hervorkrieche.

      «Immerhin, er bleibt halt trotz allem ihr Vater», bettelte das Herz. «Er wird schwerlich ohne Verdienste sein, daß sein Denkmal in Marmor vor dem Rathaus steht», überredete die Vernunft. Da hob er den Briefbeschwerer ab und holte den Staatsmann in Gnaden wieder hervor, den er jetzt wirklich an die Wand heftete, allein verkehrt, die Bildseite nach innen, gegen die Tapete, die leere Rückseite nach außen; denn sooft er versuchte, das Blatt umzudrehen, jubelte ihm der Hohn die Ehrfurcht von dannen.

      «Ich möchte aber doch», schalt sich Viktor bekümmert, «dem Gebote Theudas gehorchen; denn Theuda ist Imago. Siehe, ihr Vater liegt im Grabe; das Grab ist ernst; wohlan, an seinem Grabe will ich mir den Hohn abgewöhnen.» Und ließ sich auf dem Friedhof das Grab des Staatsmannes Neukomm zeigen. Wie er vor dem Grabe angekommen war, grüßte ihn eine Stimme aus dem Boden: «Wen suchst du?»

      «Den Geist des Staatsmannes Neukomm.»

      «Es gibt hier keine Staatsmänner», erwiderte die Stimme, «und keine Geister mit Namen. Ich war, als ich noch über dem Boden wandelte, ein hilfloser Mensch wie alle Menschen, ein machtlos Geschöpf, das da geboren ward, seufzte, sorgte und starb wie die übrigen Geschöpfe. Verzeihung jenen, die mir wehe taten, Heil denen, die mich liebten. Zwei treue Menschen, meine Ebenbilder, meine beiden Kinder, schritten weinend hinter meinem Sarge, mein Andenken mit ihrer Trauer heiligend; Segen über den, der ihnen wohl will. Bist du ein Mensch, in Lebenskraft auf Erden wandelnd, so schenk mir Nachricht von meinen Kindern.»

      Da sprach Viktor: «Deinen Kindern ergeht es wohl; sie sind geliebt und geachtet bei den Menschen; und der vor deinem Grabe steht, will ihnen beiden gut Freund sein.» Bei diesem Wort verwandelte sich plötzlich das Denkbild des Kurt und wurde fein und anmutig.

      Da seufzte die Stimme: «Dafür, daß du mir von meinen Kindern Nachricht gebracht, schließe ich mit dir den Bund des Dankes; und dafür, daß du meinen Kindern gut Freund sein willst, den Bund des Segens.»

      Nachdem Viktor wieder zu Hause angelangt war, konnte er das Bild umdrehen. –

      Und wieder schickte Viktor seine Seele zu Theudas Seele: «Dein Gebot ist erfüllt; ich habe mich mit deinem Bruder ausgesöhnt, ich habe mit deinem Vater einen Bund geschlossen. Glaubst du nun an meine Bekehrung?»

      Ihm kam der Bescheid: «Ich traf ihre Seele auf der Zinne ihres Hauses stehend, die Türme und Schanzen der Stadt zählend. Herniederschauend erteilte sie mir die strenge Antwort: ‹Ich bin eine brave Bürgerin, meinem Volke und meinem Vaterlande leidenschaftlich ergeben. Hinweg, Ruchloser, der du die Sitten und Gebräuche deines Vaterlandes verspottest; eh' daß ich an deine Bekehrung glaube, tue Buße und lerne Eintracht mit deinem Volke.›»

      Ob diesem Bescheid überschäumte sein Zorn in wilder Woge. «Weib», schrie er, «zwar heilig bist du, aber arm an Geiste. Zur Göttin taugst du, nicht zum Gott. Spann's nicht zu scharf! Mein Herz ist dein; nimm meine Andacht, läutre meine Seele; doch meine Überzeugung, Weibsbild, pfusch nicht an! – Geh hin, o meine Seele, und sag ihr das.»

      Ihm kam der Bescheid: «So wahr ich Theuda bin, die da heißt Imago: ehe du nicht Fried und Freundschaft mit deinem Volke schließest, gebe ich nichts auf deine Bekehrung.»

      Da begann Viktor zu toben und zu rasen und lästerte seine Göttin und verwünschte sie und beschimpfte sie mit gefiederten und gehörnten Namen, wie der Bandit die Madonna, wenn ihm der Postraub mißlang.

      «Wenn du dann des Unfugs müde bist», bemerkte die Vernunft, «so will ich auch etwas reden. Nämlich, unter uns gesagt, ihr Verlangen ist durchaus gerecht; denn du bist ein politisches Ungeheuer.»

      «Meinst du?»

      «Ich meine es nicht bloß, sondern das steht zweifellos fest. Von Kindesbeinen ein Waldmensch und nachträglich durch deinen Auslandssitz vollends verwildert. Pendelst durch die Straßen deiner Vaterstadt wie ein Indianer auf der Oktoberwiese, der einen freien Nachmittag bekommen hat. Ist das natürlich? ist das erträglich? Her mit dir! Setz dich auf den Schulschemel; etwas Patriotismus kann dir, weiß Gott, nicht schaden. – Nur keine Angst; bloß das Allernotdürftigste; es verlangt ja kein Mensch von dir, ein Schützenfestredner zu werden.» Sprach's, nötigte den Viktor auf die Schulbank und erzählte ihm vom «Volke», wie es fühlt, wie es arbeitet, wie es sich sorgt und kümmert, beschrieb ihm das Räderwerk der freien Verfassung, bewies ihm deren ursächlichen Zusammenhang mit der Entwicklung der persönlichen Eigenart und des mannhaften Charakters und lehrte ihn schließlich die Politik als eine Unterart Idealismus begreifen; «ein rebsteckendürrer Idealismus, zugegeben, immerhin ein Idealismus».

      Fromm lauschte Viktor der Unterweisung, erst ächzend, hernach bereitwilliger. Plötzlich sprang er auf, mit leuchtenden Augen. «Ich will das Obligationenrecht studieren.»

      «Da haben wir's: jetzt springst du natürlich gleich wieder in den gegenüberliegenden Stadtgraben? Es kann ja einer auch ohne das Obligationsrecht ein braver Bürger sein.» Viktor aber versteifte sich halsstarr: «So wahr ich ein braver Bürger bin, ich will das Obligationenrecht studieren.» Ließ die Vernunft im Stich, ging hin und schaffte sich das Obligationenrecht an, entlieh von links und rechts Verfassungsurkunden und Stadtgeschichten, je trockener, desto lieber; bestellte das Amtsblatt, verfolgte in der Zeitung die Reden der Stadträte («etwas schwülstig, meine Herren! um so besser, ich nehm's für Kasteiung»); schob seine Füße durch Altertumssammlungen, pflanzte sich vor baufällige Mauern und


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