Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
Da begegnete ihm Frau Steinbach. «Kommen Sie heute nachmittag zu mir», verlangte sie kurz, im Vorbeigehen, mit fremder Stimme, «ich habe mit Ihnen zu reden.»
Verstimmt, wie von einem kalten Regenschauer überrascht, trieb er weiter; nunmehr ohne Musikbegleitung. «Ich habe mit Ihnen zu reden.» Ob er schon nicht von ferne erriet, was in aller Welt die Rede aufrühren werde, ahnte ihm doch Verdrießliches; denn es ist selten etwas Erfreuliches, wenn jemand mit einem «zu reden hat». Meinetwegen; ich schüttle es ab wie die Ente das Wasser. Einzig Theuda-Imago bestimmt mein Heil oder Unheil; bei ihr steht ja gegenwärtig alles aufs herrlichste.
«Mein Herr, Sie machen sich lächerlich», empfing ihn Frau Steinbach streng und kalt, ohne ihn anzublicken.
Unwille verfinsterte sein Gesicht. «Womit?»
«Bitte, verstellen Sie sich nicht; Sie wissen ganz gut, was ich meine.»
«Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen widerspreche. Ich verstelle mich nie und habe keine Ahnung, was Sie meinen.»
«Nun, dann werde ich's Ihnen sagen: mit Ihrem ebenso törichten wie unverantwortlichen Benehmen bei Direktors.»
«Darf ich um Belehrung bitten, was Sie dazu berechtigt, mein Benehmen töricht und unverantwortlich zu nennen?»
«Nun, wenn das etwa nicht töricht ist, eine verheiratete Frau mit Liebesergüssen zu belästigen, die Ihrer Liebe nicht bedarf, der Sie vollkommen gleichgültig sind und wo Sie sich höchstens die Brosamen des Mitleids erbetteln können? Wenn das nicht töricht sein soll! Unverantwortlich aber, oder, falls Ihnen der Ausdruck zu stark klingt, unrecht muß ich es nennen, daß Sie versuchen, sich zwischen rechtschaffene, pflichtgetreue Eheleute hineinzudrängen; glücklicherweise umsonst.»
Jetzt errötete er mit heftigem Blutschwall; zugleich vor Scham und Empörung. Wie das brennt, wenn ein Dritter weiß, was unter vier Augen geschah! Grimmig entgegnete er: «Darüber, was ich verantworten kann oder nicht verantworten, darüber werde ich Herrn Direktor Wyß Rede stehen, wenn er es wünscht, aber nur ihm, niemand sonst. Hier hingegen, wo ich töricht und lächerlich gescholten werde, gestatte ich mir die Bemerkung, daß ich in meinem Gedächtnis Gründe finde, die mich zu der Überzeugung berechtigen, Frau Direktor Wyß gewähre mir denn doch ein wenig mehr als die Brosamen ihres Mitleides und ich sei ihr auch nicht gar so vollkommen gleichgültig, wie Sie in so schmeichelhafter Weise anzunehmen belieben.»
Da wandte sie ihm ihr Gesicht zu und trat einen Schritt näher: «Ach, Sie armer, junger, naiver Herr! Ja, naiv, trotz Ihrem überlegenen Geist und Ihrer Welt- und Menschenkenntnis. Meinen Sie denn wirklich, Sie Ärmster, weil eine Frau Ihre Liebesgeständnisse duldet und nicht ungerne anhört, das beweise das mindeste für ihre Herzensneigung? Natürlich hört sie's gerne; selbstverständlich! Ist das doch ein Triümphlein für sie. Und ein klein, klein wenig Blümleinspielen innerhalb der Grenzen des Erlaubten wird sie sich wohl auch nicht haben entgehen lassen; vielleicht ist sie darin ein bißchen zu weit gegangen, das kann ich nicht wissen. Übrigens, was heißt hier zu weit gehen? was für ein Sittengebot verwehrt ihr denn, mit jemand, der sie in unschicklicher Weise belästigt, umzuspringen, wie sie mag? Sie sind ihr ja doch nicht verwandt; sie hat nicht die mindeste Verpflichtung, Sie zu schonen. Wer eine Frau in eine schiefe Lage bringt, muß sich's eben auch gefallen lassen, wenn es ein bißchen krumm zugeht; das ist sein Fehler, nicht der ihrige. Doch gesetzt selbst den Fall, Sie hätten einigen Eindruck auf ihr Herz gemacht, und das scheint mir, aus Ihren Worten zu schließen, in der Tat der Fall zu sein – es wäre auch nichts Verwunderliches, Sie sind ja doch nicht der erste beste –, was haben Sie damit gewonnen? Ein oberflächliches, flüchtiges Gefühlchen, das beim ersten Ruf des Schicksals zerstiebt. Lassen Sie morgen ihr Kind oder auch nur ihren Mann krank werden, was sind Sie dann? wer sind Sie ihr? Eine Null, nein, weniger als eine Null, ein Abscheu, dessen bloßen Anblick sie nicht einmal erträgt. Frau Direktor Wyß, wie ich Ihnen schon früher sagte, ist eine einfache, brave, gerade Frau, die keinen andern Gedanken hat als ihr Kind und ihren Mann; alles, was Sie bei ihr erreichen können, ist, daß Sie sich bloßstellen und sich unglücklich machen, möglicherweise auch, wenn das sträfliche Spiel fortdauert, daß Sie sie ins Gerede bringen; sie hat ja auch Freundinnen. Jetzt handeln Sie, wie Sie wollen und wie Sie's mit Ihrem Gewissen vereinigen können; ich maße mir nicht an, Ihnen Ihre Pflicht vorzuschreiben. Wie indessen ein geistig hervorragender, selbstbewußter und zum Selbstbewußtsein berechtigter Mensch wie Sie es aushält, von der gnädigen Nachsicht ihres Mannes zu zehren, ist mir unbegreiflich; gefallen Sie sich in dieser Rolle?»
«Ja, weiß er's denn?» stammelte er.
«Ob er's weiß? Diese Frage! Natürlich weiß er's; selbstverständlich weiß er's; selbstverständlich hat sie ihm getreulich jedes Wort, jede Träne, jeden Kniefall hinterbracht. Das war nicht bloß ihr Recht, sondern sogar ihre Pflicht; unterließ sie es, so hätte sie's mit ihrem Gewissen zu tun bekommen.»
Da biß er sich auf die Lippen und senkte die Stirn. Plötzlich gewahrte er einen Gedanken, der schon lange unbeachtet vor ihm gestanden hatte. «Und Sie, Sie selber, gnädige Frau, woher, wenn mir die Frage erlaubt ist, woher wissen Sie das alles so genau?»
«Nun, natürlich von ihr. Sie weiß ja doch, daß ich Ihre nächste Freundin bin; mithin war sie sicher, mir mit der Erzählung Ihrer Demütigung weh zu tun; diesen Genuß wird sie sich doch nicht versagen; das ist einmal unter uns Frauen so Brauch. Und sie hat richtig gezielt! Anhören zu müssen, wie Sie Ihre Würde, Ihren Stolz vergessen, wie ein ernster, bedeutender Mann, an welchen man glauben möchte, Taktlosigkeiten begeht, sich wie ein schmachtender Jüngling zu Kniefällen erniedrigt, das schmeckt bitter. Mehr als einmal war ich auf dem Punkt, Sie zu mahnen; allein ich habe keine Lust, in andrer Leute Wohnung einzubrechen wie eine Salutistin; wer mich geflissentlich meidet, wer mir die Ehre seiner Besuche nicht gönnt, dem will ich mich nicht aufdrängen; auch hatte ich immer noch eine kleine Hoffnung, Sie würden sich schließlich von selber auf Ihren Wert besinnen. Bis ich Ihnen dann heute zufällig begegnete.»
«Also, kurz gesagt, Frau Direktor Wyß in Person hat Ihnen alles und jedes, was zwischen uns unter vier Augen geschah und gesprochen wurde, haarklein mitgeteilt?»
«Kurz gesagt: ja.»
«Und alles auf einmal? oder zu wiederholten Malen? Jeweilen die neueste Zeitung? – Sie schweigen? Dann brauche ich keine weitere Antwort.»
Ihm war, er ersaufe in Schande wie eine Maus im Nachttopf. Die Geschichte seiner selbstlosen, andächtigen Liebe von der Geliebten kolportiert wie ein Feuilletonroman im Stadtblatt; Tag für Tag eine Nummer, «Fortsetzung folgt»! Die Tränen, die ihm das unerträglichste Herzeleid erpreßte, ein heiliges Herzeleid, das weit über der Welt in der Heimat aller Seelen wurzelte, dem nüchternen Urteil Unbeteiligter vorgewiesen, zur verstandesmäßigen Prüfung.
Frau Steinbach aber, da sie ihn so kleingeschlagen sah, gedachte seine Zerknirschung zu benützen, um einen rettenden Willensschluß aus ihm hervorzustrafen. « Also was wollen Sie? was hoffen Sie? worauf warten Sie?»
«Ich warte darauf», antwortete er feindlich, «ob Sie mich nun endlich genügsam erniedrigt zu haben glauben oder ob Sie belieben, mich noch länger zu mißhandeln.»
Betroffen schaute sie ihn an. Er war gänzlich verändert; wie ein fremder, finsterer Dämon starrte er ihr entgegen.
«Oh, sehen Sie mich nicht so an», rief sie schmerzlich. «seien Sie doch nicht ungerecht! ich meine es ja gut mit Ihnen; es geschieht, das wissen Sie doch, aus lauter Freundschaft.»
Allein seine Augen rollten, sein Mund verzerrte sich. Plötzlich war er aufgesprungen, erhob den Arm und rief mit lauter, bebender Stimme, als spräche er in die Ferne: «Wenn ich diese gräßliche Stunde erlebe, wenn ich schimpflich hier stehe wie ein abgestrafter Schulbub, mit Lächerlichkeit übergossen wie ein geprellter Liebhaber am Schluß einer Posse, ein Spielball herzloser Menschen, so erleide ich das, weil ich meinen Fuß auf den Weg zur Größe setzte. Ich hätte es anders haben können: Ruhm und Ehre, Ansehn und Reichtum, Glück und Liebe lagen zu meinen Füßen; ich sah es glänzen, ich brauchte es bloß aufzuheben. Hätte ich's getan, hätte ich als ein Wicht gehandelt, die Niederung vorziehend, ich schwelgte heute in Wonne und Seligkeit, geliebt