Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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der Abschied wehe tat, desto stärker stampften sie.

      Der Onkel Dolf mußte offenbar krank sein, denn er sah bleich aus, hielt sich abseits von den Knaben und sprach auf dem ganzen Wege kein Wort zu ihnen. Sie aber machten unterdessen ihrem Groll, mit einem Mädchen reisen zu müssen, mit gedämpfter Stimme Luft, indem sie alle Unarten und Lächerlichkeiten der Mädchenrasse höhnisch zusammentrugen: ihre komische Erscheinung mit den unvernünftig langen Haaren und Röcken, mit den kindischen Trippelschritten, mit den geschwollenen Körperlinien, – ihre schmähliche Feigheit, so daß sie vor dem bloßen Anblick einer blanken Waffe sich die Augen, vor einem kleinen Pistolenschuß die Ohren zuhielten, – ihre verächtliche Schwachheit: eine ganze Schulklasse erwachsener Mädchen von einem einzigen schneeballbewehrten Buben in die Flucht zu schlagen, – ihre Eitelkeit und unmännliche Ziersucht, immer ein Spiegelein vor dem Gesicht und ein bunter Lappen am Hals und in den Haaren. – »Und hast du gesehen, wie sie schwimmen?« flüsterte Gerold, »ekelhaft!« »Zu allem obendrein sind sie noch falsch und hinterlistig und lügen«, berichtete Hansli, »der Briefträger hats zum Posthalter gesagt, ich habs gehört; und der kanns wissen, er ist alt genug.«

      Da störte der Dolf unversehens ihre Unterhaltung; schade! noch nie hatten ihre Ansichten so übereingestimmt. »Seht ihr dort unten im Tal zwischen den Wäldern den gelben Fabrikschlot? Das ist Schönthal; ihr könnt jetzt unmöglich noch fehlen, in einer starken halben Stunde seid ihr dort.« Und zeigte ihnen mit dem Finger den Schlot. Dann stellte er die Kadetten zu beiden Seiten der Straße auf, Front gegen die Wiese und Rücken gegen Rücken. »Kannst du ein Geheimnis bewahren, Gerold?« zischelte er ihm ins Ohr. Gerolds Blicke leuchteten stolz. »Diesen Brief gibst du heimlich dem Marianneli im Althäusli, aber ja niemand anders als ihr, und falls du das Marianneli nicht treffen solltest, so zerreiß den Brief. Verstanden?« Hiemit nahm er ihm den Tschako ab und steckte den Brief in das Hutfutter. Hernach kommandierte er mit lauter Stimme: »Kadettenbataillon Aarmünsterburg, Augen zu!« und steckte dem Gerold allerlei in die Frackschöße, dem Hansli in die Patrontasche. (»Streichhölzer«, dachte Gerold, »ich riechs«; »Pulver«, erriet Hansli, »ich merks.«) »Alles gehört beiden gemeinsam«, erklärte Dolf, »aber Gerold hat den Oberbefehl darüber. – Achtung! Bataillon Aarmünsterburg, Augen auf! Front nach Schönthal! Richt' euch! Vorwärts, Feldschritt, marsch!« Da marschierten die Kadetten zu Tal, und der Dolf kehrte nach Hause zurück, bergauf, heim nach Sentisbrugg.

      Sobald er hinterm Rank verschwunden war, untersuchten die Buben ihre Geschenke. Richtig, wie sie vermutet hatten: Streichhölzer und Schwefelhölzer, Zunder und Pulver. Aber in welchem unglaublichen, fabelhaften Reichtum! So viel hatten sie in ihren kühnsten Hoffnungsträumen kaum beisammen geschaut, geschweige denn in der Wirklichkeit. Wohl an die vier Pfund des feinsten Jagdpulvers! – Gerold rang stöhnend nach Atem vor Überglück, Hansli tanzte wie besessen auf dem Fleck, dann blitzten sie einander aus den Augen einen Schwur entgegen. »Jetzt, ehe es zur Schule geht, das Leben genießen, gründlich, bis zum letzten Pulverkorn, hernach komme, was da wolle!« Und stürmten in wahnsinnigem Lauf in den Wald, um einen abgelegenen Schlupfwinkel zu erspüren, durch Busch und Strupp, Dickicht und Dorn, über Wasser und Steine, blindlings, ohne Aufenthalt, aufwärts nach den Flühen. Eine einsame heiße Felsenkammer, deren jähe Mauern von stillem Buchenwald überwachsen waren, empfing sie; hoch über Fluh und Wald kreiste ein leises Raubvogelpaar. »Hier!« herrschte Gerold und begann die kriegerische Alchimistenware auf dem glühendsten Felsentisch auszubreiten. Aber ehe er die Hochzeit gestattete, hielt er zuerst dem kleinen Infanteristen vor dem Tiegel eine ernste Festpredigt, von der Last der Verantwortlichkeit redend, die er, als der Ältere, für seines Bruders Leben auf dem Gewissen trage, hernach vor den Tücken des Schießpulvers warnend, welches, von Berthold Schwarz Anno 1330 in Freiburg erfunden, mit wahrhaft teuflischer Hinterlist sich tot zu stellen pflege, um einem genau in dem Augenblick, da man anfange zu blasen, ins Gesicht zu springen; endlich dem Bruder pyrotechnische Erörterungen über Lauffeuer, Feuerteufel und Erdminen gönnend, nebst den Rezepten und Handgriffen für die Zubereitung eines jeden dieser Gerichte.

      Nachdem Hansli mit begeistertem Blick nicht bloß die blindeste Disziplin zugesichert, sondern überdies Überraschungen der Klugheit in Aussicht gestellt, machten sie sich gierig ans Werk, worauf binnen kurzem unter ihren Schwarzkünsten die stille Felsenklause sich in eine donnernde, flammende und qualmende Hölle verwandelte, in welcher die beiden Kadetten wie zwei verklärte Salamander wirtschafteten. Fauchend pufften die Lauffeuer um den Sims des Gemäuers, blitzgeschwind, in abenteuerlichen Schlangenwindungen, gefolgt von träge nachkriechenden Wolkenkarawanen. Blutrote Funkengarben entsprühten zischend und knatternd den Feuerteufeln, höllisch anzusehen, doch gänzlich ungefährlich – man durfte sogar das Gesicht darüber halten; ohnmächtige, selbstmörderische Vesuve, weiter nichts. Das Herrlichste aber waren doch die Minen. Freilich, Zeit brauchten sie! Zeit! Oder was meint ihr denn? Ohne Schaufel und Pike die Erde auszuhöhlen, einzig mit den Fingern und einem kleinen Taschenmesser, das macht sich nicht so schnell! Und dann hernach noch Gras und Blätter, Reiser und Steine herbeischleppen, aus allen Weltgegenden, zum Auffliegen – wenn ihr glaubt, das gehe nur so im Handkehrum, so täuscht ihr euch gewaltig. Allerdings wurde man dafür auch belohnt. Der Knall, wenn die Mine krachend aufflammte! Und die Vergnügungsflüge der wie verrückt herumwirbelnden Hölzer und Kiesel in der Luft! Und wenn das Feuerwerk von Knall und Flug fertig war, kam erst noch das Beste: ein schwarzlockiger Rauchball bolzgerade über die Buchenwipfel steigend, gefolgt von kleinen verspäteten Erdbeben, und ganz zuletzt wuschelten noch einige Pulverwölklein gleich Maulwürfen durch das Moos. Jedesmal, wenn eine Mine aufgeflogen war, sprangen sie hinzu und tanzten im Rauch; wenn vollends ihnen nachträglich noch vereinzelte Hölzer und Steinchen um die Köpfe kartätschten, so wußten sie sich vor wahnsinniger Wonne und Bruderliebe gar nicht mehr zu helfen. Überhaupt, wie zeigt man eigentlich seinem Bruder, daß man ihn gern hat? In dieser Zweifelsnot fraßen sie Pulver und fletschten einander mit dem Schwefelatem an. Vielleicht war das nicht der übliche Ausdruck der Sympathie, gleichviel, sie verstanden sich in dieser Sprache.

      »Das knallt schön!« erscholl eine tiefe Männerstimme, als sie eben wieder eine Mine losgelassen hatten. Und wie sie sich umsahen, hielt ein Landjägerwachtmeister mit Ehrenzeichen auf der Brust und goldenen Schnüren am Ärmel hinter ihnen. Gerold stand vor Schreck versteinert, und Hansli hockte, er wußte selbst nicht wieso, plötzlich auf einem Felsblock oben. »Wir tun nichts Böses«, kreischte er von dort, »der Onkel Dolf hat es uns erlaubt.« Der Wachtmeister beruhigte sie lächelnd. Ein Landjäger, belehrte er, bedeute nicht notwendig das Gefängnis, ein solcher habe auch noch andere Obliegenheiten in der Welt. Zum Beispiel seien die Landjäger die Untergebenen des Regierungsstatthalters, welcher sie, wenn er wolle, unter anderm zum harmlosen Botendienst benütze. »Mazzmann ist mein Name, und der Statthalter von Schönthal, euer Götti, hat mich geschickt, nachzusehen, wo ihr bleibet und ob euch nicht etwa ein Unglück zugestoßen sei, oder ob ihr euch vielleicht verirrt habet. Ich könnte nicht gerade behaupten, daß es schwierig gewesen wäre, euch zu finden, man hat ja das Pulvern fast bis auf die Landstraße gehört und den Rauch über den Bäumen gesehen. Doch kommt jetzt; ihr werdet Hunger haben.« Das war eine Idee; Hunger, ja Hunger hatten sie.

      Beim Götti Statthalter

       Inhaltsverzeichnis

      Wie er lachte, der Götti Statthalter, als er ihnen bei den ersten Häusern von Schönthal entgegenkam! lachte, lachte, schon von weitem, mit einem aus tiefster Brust schallenden Gelächter, daß man, ob man wollte oder nicht, mitlachen mußte. »Ihr seid ja Mohren!« rief er ihnen zu. Dann lärmte er alles Volk links und rechts aus den Häusern und zeigte mit den Fingern nach den herankommenden Kadetten. »Die schaut an, die, die!« donnerte seine Löwenstimme, »das, das, das sind doch einmal echte, wahre, gesunde, unverdorbene Buben! so, so, so sollten sie sein.« Dazu knirschte er, ballte die Fäuste und blickte zornig in die Ferne.

      Zum Gruß nahm er den Hansli auf seine linke, den Gerold auf seine rechte Seite und drückte sie zärtlich gegen sich, so daß seine weiße Weste ganz schwarz von dem Abdruck ihrer Pulverköpfe wurde. »Wieviel Uhr meint ihr eigentlich, daß es sei?« schmunzelte er mit pfiffigem Augenzwinkern. »Elf Uhr!« riet der Kleine, »ein Uhr!« steigerte Gerold. –


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