Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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war er außer Sicht, so schritten die tapfern Kadetten stracks zum Angriff.

      Gerold zerrte dem Mädchen das schwarzweiße Barett, das sie schwebend auf dem Hinterhaupte trug, über die Stirn mit der barschen Bemerkung, ein Hut gehöre auf den Kopf, nicht dahinter. Zugleich mit der Mütze wanderte jedoch ein Lockenbusch über die Schläfe, welcher nun krausemause über die Augen wehte, weshalb er jetzt zu einer mühseligen Abhilfe genötigt war, indem er jedes Härchen einzeln unter den Rand des Barettes zurückdrängte. Wenn er aber eines glücklich untergebracht hatte, kamen an einem andern Orte sechs neue boshaft zum Vorschein, so daß er mit dem Coiffieren gar nicht fertig wurde.

      Während er sich noch damit abplagte, rückte Hansli auf den Plan. Sie solle ihm die Alpen hersagen, heischte er protzig. Gesima faßte den Horizont ins Auge und zählte ohne Zaudern: »Jungfrau, Eiger, Mönch, Schreckhorn, Wetterhörner, Finsteraarhorn, Blümlisalp.« Und was sie benannte, bezeichnete sie zugleich mit dem Finger.

      Hansli sah scharf nach, ob sie nicht etwa pfusche. Als jedoch jede Zacke ihren zugehörigen Namen erhalten hatte, urteilte er gnädig: »Gut, mein Kind, du kannst deine Geographie! Jetzt wollen wir indessen erfahren, wie es mit der Multiplikation steht. – Aufgepaßt! Wieviel macht zwölf mal sieben?« trat jedoch verblüfft zur Seite, da sie das Exempel schneller im reinen hatte als er selber.

      Nun nahm Gerold, der inzwischen zerstreut nach den Schneebergen gegafft hatte, das Verhör auf. Wie hoch das Finsteraarhorn sei, prüfte er.

      »Wenn du oben bist, kannst dus sehen.«

      Empört über diese ungebührliche Antwort, runzelte er drohend die Stirn und ballte die Faust. »Der kommt zeitlebens nie aufs Finsteraarhorn«, höhnte Hansli, »höchstens aufs Faulhorn.« Jetzt wendete Gerold seine drohende Stellung gegen den Bruder. Da klang in der Ferne ein Vesperglöcklein, auf- und abflackernd wie der zitternde Silberblitz eines Bächleins zwischen den Erlen. Sofort intonierte der Kanonier mit dröhnender Stimme: »Goldne Abendsonne.« Flugs fiel Hansli ein, Gesima stimmte ebenfalls zu, und so zogen sie alle drei singend aus der Klus auf die Landstraße, Gesima jetzt in der Mitte, die Buben zu beiden Seiten.

      Ein haushoher Lastwagen, mit sechs normännischen Nilpferden bespannt, knarrte schwerfällig vor ihnen her, der Fuhrmann in gebückter Haltung neben den Tieren einherkeuchend, als ob er ihnen müßte schleppen helfen. Er gab den Kindern seine Befriedigung über ihren lieblichen Gesang kund, welcher dem Herzen wahrhaft wohltue, erlaubte sich dagegen über ihre Erscheinung eine freche Bemerkung. Sie sähen nebeneinander aus, meinte er, und machte ein geistreiches Gesicht, wie die Schaufeldame zwischen dem Herzkönig und dem Ecksteinbuben.

      »Und dem Schwarzpeter davor«, ergänzte Gesima spitzig. Der Fuhrmann belobte das Mädchen wegen ihrer Schlagfertigkeit und erkundigte sich nach ihrem Namen. Mit dieser Frage entfachte er jedoch Zank. Nämlich die Knaben behaupteten, Gesima wäre ein häßlicher Name, wogegen Gesima einwandte, was häßliche Namen betreffe, so seien jedenfalls Gerold und Hansli häßliche Namen, denn wenn sie schöne Namen hätten, würden sie Artur und Oskar heißen.

      Er möchte indessen durchaus nicht etwa der Anlaß sein, verwahrte sich der Fuhrmann, daß sie ihren Gesang seinetwegen unterbrächen; im Gegenteil, falls sie nichts dawider hätten, wolle er gerne mithelfen, so gut oder so schlecht er es verstände.

      Die Kinder erklärten den Zuschuß eines Basses für annehmbar, und nach kurzer Verständigung sangen sie alle vier mit vereinten Kräften: »Es zieht mich in die Ferne.« Der Fuhrmann grölte greulich, allein das verdroß ihn nicht. »Falsch!« strafte Hansli jedesmal, wenn er einen Fehler machte. Später suchten sie wieder ein anderes Lied zusammen und so fort, indem jeder aus seinem Gedächtnis hervorklaubte, was zum gemeinschaftlichen Konzert taugen mochte.

      So oft ein Quartett verklungen war, umkreiste der Fuhrmann einmal seinen Wagen, um den Rossen ein melancholisches »Hü« zuzurufen und ihnen mit dem Peitschenstock den Takt anzudeuten; hernach gesellte er sich wieder zu seinen Kameraden, um sich das Losungswort zu einer neuen Nummer zu holen. Bisweilen ließ er auch die Pferde ein wenig ausschnaufen, während er sich an den Rädern zu schaffen machte. Man könne nie wissen, entschuldigte er das Versäumnis, ob man je wieder einmal zusammenkäme und wie viele von ihnen das nächste Jahr um diese Zeit noch am Leben seien. Aber er fürchte, es gäbe morgen ander Wetter. Es gefalle ihm nicht, wenn man die Alpen gar so schön sehe, daß man meine, man könne sie mit den Händen greifen wie einen Zuckerstock, und der Himmel sei ihm auch viel zu bunt, gerade wie wenn ein Flachmaler seinen Farbentopf darüber geworfen hätte.

      Die Fledermäuse segelten schon um die Dächer, als die Kinder mit dem Fuhrmann bei der Friedlismühle anlangten. Auf der stattlichen Freitreppe standen die Wirtsleute übereinander postiert, wie die Altersstufen in einem Bilderbogen. Mit erhobenen Armen riefen sie den Ankommenden entgegen, wohin sie wollten, bei Nacht und Dunkel. Und auf die Antwort, der Statthalter hätte ihnen gesagt, der Wagen des Herrn Landammann warte auf sie bei der Friedlismühle, kam der Bescheid: »Davon hat der Kutscher nicht das mindeste gewußt, kein Mensch hat ihm deutlich gesagt, was er machen soll; ein halbes Stündchen hat er noch hier gewartet, für alle Fälle, dann ist er eben heimgefahren, in der Meinung, ihr würdet heute nacht noch in Schönthal bleiben.«

      »Das gleicht wieder dem Statthalter!« tönte ein Ruf.

      »Nun, da laß ich einfach schnell anspannen und die Kinder nach Schönthal zurückbringen. Oder, noch besser, ich fahre selber.«

      Unterdessen hatte sich jedoch eine stattliche, ungewöhnlich große Jungfer an die Buben herangemacht. »Hat euch niemand in Sentisbrugg einen Auftrag nach der Friedlismühle gegeben?« flüsterte sie.

      »Freilich«, sagte Gerold, »ich solle sagen, es sei alles in Ordnung.«

      »Hast du etwa Briefe?« rief sie gierig.

      »Ja«, antwortete er und kramte die Briefe hervor.

      Trotz der Dunkelheit erbrach die Jungfer einen Umschlag mit fiebernden Fingern und fing an zu lesen. Plötzlich beging sie einen Freudensprung »Juchhu« und lief wie ein Windhund zurück die Treppe hinan, um die Briefe vorzuzeigen.

      Jetzt änderten sich mit einem Male der Text und die Tonart. Sie könnten ja, hieß es, schließlich auch hier übernachten und morgen mit der Achtuhrpost nach Bischofshardt weiterreisen, sie seien ja hier gut aufgehoben und müßten morgen nicht so früh aufstehen, als wenn sie wieder rückwärts führen und von Schönthal die Post nähmen. Abgesehen von der unnützen Aufregung, die sie daheim verursachen würden, wenn sie in der Nacht plötzlich wieder in Schönthal ankämen. Es dauere doch immerhin eine kleine halbe Stunde, bis der Wagen angespannt wäre. Zur völligen Beruhigung könne man ja einen Knecht nach Schönthal schicken und den Herrn Balsiger und den Statthalter davon verständigen. Oder ob sie vielleicht etwas dagegen hätten, hier zu übernachten? An freundschaftlicher Fürsorge würde man es ihnen jedenfalls nicht fehlen lassen.

      Mit einem bedenklichen Fragezeichen im Gesicht wandte sich Gesima nach den Kadetten, ihnen stillschweigend die Antwort zuweisend. Hansli, dem die Aussicht auf unverhoffte Abenteuer das Herz verjüngte, stupfte den Bruder heimlich mit der Faust in den Rücken, einladende Grimassen schneidend. Auch Gerold mochte lieber in der Friedlismühle als in Schönthal übernachten, schon deshalb, weil ihm vor der gewalttätigen Freundschaft seines Götti Statthalter graute. Aber wieviel es denn kosten würde, erkundigte er sich bange, sie hätten nämlich jeder nur einen Fünffrankentaler bei sich.

      Der Friedlismühlewirt lachte: »Ein Fünffrankentaler? Was meint ihr denn? Glaubt ihr, die Friedlismühle sei eine Räuberhöhle? Übrigens kostet es für euch gar nichts; ihr gehört ja jetzt sozusagen zur Familie, und ich betrachte euch alle drei zusammen als meinen lieben Besuch.«

      Und ehe sie eigentlich eingewilligt hatten, wurden sie als Zustimmende behandelt und die Treppe hinauf geleitet. »Ihr dürft mich ›Therese‹ nennen«, raunte die große Jungfer vertraulich, »oder auch ›Tante‹, wenn ihr lieber wollt.«

      »Lieber Therese.«

      Der Friedliswirt in Person komplimentierte Gesima, die kostbare Kantonsprinzessin, wie einen Lotteriegewinst ins feine Gastzimmer. Die Kadetten dagegen baten sich die Gunst aus, sich in der Bauernstube


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