Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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Küchentür hereingetreten war. Darauf wandte er sich zu den Kindern: ob sie nicht ihrer Reisegefährtin gute Nacht sagen wollten, sie gehe jetzt zu Bett.

      »Nein«, trotzten sie.

      Nachträglich dauerte jedoch den Gerold die schnöde Weigerung; es tat ihm geradezu weh, so dauerte es ihn, und schnell eilte er hinaus, um Gesima womöglich noch einzuholen. Sie stieg eben die Treppe hinauf, hinter zwei kerzentragenden Mägden. Eins zwei war er ihr nach, und zur Einleitung, er wußte selbst nicht warum, packte er sie mit vollem Griff am Schopf und zog ihr den Kopf hinten herüber. Sie streckte regungslos die Pfötchen von sich, wie eine Katze, die man aufhebt, ließ das Mäulchen tief hangen und schaute ihn mit großen Augen an, von denen man fast nur das Weiße sah. Ein Zuck, und sie wäre auf dem Boden gewesen; allein er wollte ihr ja kein Leid antun, bewahre; deshalb gab er sie sofort wieder frei, worauf sie mit geschwinden Sätzen die Treppe hinauf flüchtete. Nun reute es ihn aber wieder, daß er sie am Schopf gepackt hatte, statt ihr freundlich gute Nacht zu wünschen, wie seine Absicht gewesen war. Darum sprang er ihr nach, und da sie sich in ihrer Angst in den Winkel eines blinden Ganges verirrt hatte, versperrte er ihr mit seinem Körper die Ausflucht. Hier gedachte er zum Zeichen seiner Reue ihr etwas zu schenken, fand jedoch nichts Schenkenswertes in seiner Tasche als ein rosenfarbiges Papier; das überreichte er ihr. »Ich danke«, flüsterte sie und machte einen hübschen Knicks. Zeit seines Lebens hatte noch kein Mensch »ich danke« zu ihm gesagt, und das verwirrte ihn so, daß er sie geistesabwesend angaffte. Seine Verblüffung benützte sie hurtig, indem sie aalgleich an ihm vorbeiglitt und sich zu den umkehrenden Mägden rettete. »Gute Nacht«, rief er ihr gutmütig nach, erhielt jedoch keine Antwort. Darauf schlich er wieder in die Wirtsstube, nicht ganz zufrieden mit sich selber.

      »Ihr geht jetzt, denk ich, auch besser zu Bett«, meinte Therese, »die Augen fallen euch ja zu vor Schläfrigkeit.«

      »Durchaus nicht schläfrig«, bestritten sie eifrig, und um nicht zwangsweise zu Bett gebracht zu werden, eilten sie flugs durch den Hausgang die Freitreppe hinunter, um die Hausecke. Es war finstre Nacht, mit Sternen am Himmel, aber warm, fast heiß; ein Käuzchen wimmerte von einer nahen, unsichtbaren Bergwand, und die Grillen verführten einen unsinnigen Lärm. Bei ihrem Streifzug gerieten sie von ungefähr in einen gewaltigen Wagenschauer, der mit Fuhrwerken jeder Art vollgepfropft war. Hier erkletterten sie den Bock einer ungeheuren Riesenkutsche, knöpften das Schutzleder, das ihnen bis an den Hals reichte, auf beiden Seiten zu, so daß sie da saßen wie zum Rasieren, und schnupperten wollüstig den Duft der Lederwichse.

      »Sie liegt jetzt im Sterben«, hörten sie draußen auf der Landstraße einen Vorüberziehenden melden, »sie röchelt schon.«

      »Was ist das, ›röcheln‹?« fragte Hansli leise den Bruder.

      »Ich weiß nicht genau, etwas Ähnliches wie schnarchen.«

      »Kannst du röcheln?«

      »Röcheln kann man erst, wenn man stirbt.«

      »Tut eigentlich das Sterben weh?«

      »Natürlich, warum würden sonst alle weinen, wenn jemand stirbt.«

      »Und das Heiraten?«

      »Jedenfalls viel weniger; sie machen ja alle bei einer Hochzeit lustige Gesichter. Und gesetzt auch den Fall, so bleibt doch immer ein großer Unterschied: mit dem Sterben ist alles aus, während das Heiraten vorübergeht.«

      Hierauf gab es eine kleine Pause. Dann begann Hansli von neuem: »Gibt es auch wohlriechende Tiere?«

      »Eine einfältige Frage!« verwies Gerold strenge, denn er wußte die Antwort nicht.

      Jetzt abermals eine kurze Pause. »Warum«, fragte Hansli wieder, »warum sieht man eigentlich niemals einen Großvater über einen Schemel springen oder auf dem Dach herumklettern, oder eine Großmutter in einen Bottich schlüpfen?«

      Diesmal begnügte sich Gerold mit einem schläfrigen Knurren statt der Antwort.

      Hernach kam eine lange Pause der Zufriedenheit. Und da die Zufriedenheit währte, währte auch die Pause. Draußen auf der Straße murmelte der plätschernde Brunnen, stetig und ebenmäßig; aus weiter Ferne, von der Klus her humpelte der hustende Brummbaß der Tanzmusik vom Leuen, plump und drollig, als ob eine lebendig gewordene Runkelrübe schief um den Saal herumwalzte, die Wurzelspitze nach unten und der grüne Pflanzenschopf oben. Allmählich steckten sie einander an, der Brummbaß und der Brunnen, so daß man nicht wußte, welcher Ton diesem, welcher dem andern gehörte; die Brunnenröhre vervielfältigte sich, bekam hundert Leuenrachen, die Rachen klappten sämtlich auf und zu, im Takt des Brummbasses, schließlich blieben sie sperroffen stehen, stumm und versteinert. Jetzt erschienen dem schlummernden Gerold Traumgesichte.

      Ihm schien, er stände vor der Freitreppe der Friedlismühle, aber statt ›Friedlismühle‹ stand über der Haustür geschrieben: ›Gasthof zu den stillen Männlein‹. Ein schauerlicher, tausendfältiger Lärm, übertönt von dem Donnergebrüll des Götti Statthalter und dem Blöken angstvoller Kälber umtoste den stillen Gasthof, ähnlich dem Tosen der Schönthaler Fabrik. Jetzt kam ein unendlicher Zug von Schlachtopferkälbern die Stufen der Freitreppe heraufgestiegen, mit ihren großen traurigen Menschenaugen sich nach Gerold umschauend; oben auf der Treppe standen sie still, wackelten mit den Köpfen und Beinen im Takt des Brummbasses, dann stiegen sie auf der andern Seite die Treppe hinab. Aber mit einem Male waren es nicht mehr Kälber, sondern Menschen, die Großeltern, die Urgroßmutter, der Onkel Dolf und alle andern, die er lieb hatte. Und siehe da, er selber, Gerold, war mit in ihrer Reihe und schaute ihn von der Treppe herunter an, und der Hansli hinter ihm, der ihm mit den Fingern spöttische Zeichen über die Schultern gabelte. – Aber wer röchelt denn so? Erschrocken, mit schnarchendem Aufschrei fuhr er in die Höhe, stöhnend, die Augen geblendet von Lichtschein.

      »Da also sind sie, die Ausreißer!« lachte die Stimme des Friedliswirtes, und eine laternenbewaffnete Scharwache umringte die Kutsche. Nun wurde das Nest ausgeräumt, der fest schlafende Hansli von der Therese auf die Arme geladen, Gerold taumelnd und schwankend vom Wirt abgeführt.

      Unterwegs nach ihrem Schlafzimmer kamen sie an einem märchenhaften Himmelbett vorüber, mit Schleiern und Spitzen umhangen wie für ein Schneewittchen. Es lag auch wirklich so etwas Weißes darin, das setzte sich empor, rieb sich die Augen und schnellte dann mit einem kleinen Schrei unter die Decke. »Gute Nacht, Gesima«, lallte schlaftrunken Gerold.

      Als er dann in das linde Gastbett verpflanzt war, wo Leib und Seele in köstliche Untiefen versanken, schlugen alsbald die Träume wieder über seinem Geist zusammen.

      Ihm träumte, er säße am Weidenbächlein der Klus und schaute in das Wasser, das eilends einem Wasserfall zustrudelte. In einem Papierschifflein kam die Urgroßmutter das Bächlein herabgefahren, aber ganz klein wie ein Kind, und nicht mehr krank, sondern frisch und fröhlich, jung und lieblich; im Vorüberfahren pflückte sie links und rechts Blumen vom Uferrand. »Guten Tag, Urgroßmutter«, grüßte er. Da spritzte sie ihm mit der Hand Wasser in die Augen. Und wie er die Augen wieder auftun konnte, war es nicht die Urgroßmutter gewesen, sondern Gesima, welche sich neckisch nach ihm umkehrte und ihn auslachte.

      Der tückische Postwagen

       Inhaltsverzeichnis

      Als Morgenlied pfiff ein Knecht eine Polka, gegenüber im Tenn des Heupalastes, von dessen Dache die Täuberiche gurrten. Dann geschah vom Stalle her ein Poltern und Wiehern, begleitet von melodischem Schellengeläute. Immer neue Glockenspiele stampften heran, in allen musikalischen Farben, bald mit geschüttelten Akkorden, bald mit leise bewegten Einzelgesängen. Und all das Klingeln erzählte Reisemärchen von blauen Bergen und abenteuerlichen Dörfern, in mutiger Schnellfahrt zurückgelegt unter wettsegelnden Wölklein.

      »Was ist für Wetter?« erkundigte sich Hansli gähnend.

      Gerold schlug argwöhnisch die Augen auf. Die Fensterläden waren geschlossen, so daß es ziemlich dunkel um ihn herum war. Aber oben, hart unter der Zimmerdecke, kreuzte eine Schar Fliegen in scharfen Wendungen


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