Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
Ecke gesetzt und persönlich von ihr bedient. Und wie! Forellen! – Und immer wollte sie etwas Neues von Onkel Dolf wissen, was für ein Gesicht er zuletzt gemacht habe, und so weiter, mehr als sie selber wußten. Nachdem sie endlich alles ausgeforscht hatte, was herauszuziehen war, begab sie sich zu Gesima ins Herrenzimmer hinüber, kehrte aber von Zeit zu Zeit wieder zu ihnen in die Bauernstube zurück, gleichsam als lebendiger Bindestrich zwischen dem Mädchen und den Buben.
Allmählich begannen die hinter dem Schoppen lagernden Bauern an den Kadetten mit Fragen zu stochern, woher sie kämen, wohin sie wollten, wie sie hießen, und so weiter. Ob ihre Urgroßmutter, die alte Gottebas Salome von Sentisbrugg, immer noch am Leben sei, erkundigte sich ein dürrer, hagebuchener Armenpfleger, während er sich mit den knöchernen Fingern hinter den Ohren kraute wie ein Kakadu. Und als sie dies mit großer Entrüstung als selbstverständlich bejahten, munkelte er: »So selbstverständlich ist das nicht; es ist schon manches Fröschlein kopfüber in den Schönthaler Wasserfall gehupft, seit das schöne Salomeli von Sentisbrugg mit dem jungen Schulmeister von Buchsingen auf der Burghöhe um die Wette gelaufen ist und dazu gesungen hat: ›Holderipantoffel, holderi, der Himmel ghört dem Herrgott, und d'Welt ist mi.‹ Wenn ihr eurer Urgroßmutter das nächste Mal guten Tag sagen wollt, um nachzufragen, ob es ihr jetzt mit ihren Beinen besser gehe, so müßt ihr sie hinter der Kirche aufsuchen, unter einem Rosmarinsträuchlein.«
Dagegen protestierten die Kadetten mit zornigem Knurren.
»Wie alt mag sie denn jetzt sein?« tönte eine Frage.
»Jedenfalls hoch in den Achtzigen, näher dem neunzigsten.«
»Die alte Bas Salome von Sentisbrugg?« ergänzte ein anderer. »Die ist ja Matthäi am letzten. Der Marti, der Postillon, hat es heut abend berichtet.«
»Das ist nicht wahr«, krähte Hansli, »wir haben ja heute noch mit ihr gesprochen.«
Einer Entgegnung wehrte Therese mit einem abmahnenden ›Bst‹, indem sie nach den Buben deutete; und rücksichtsvoll verstummte das Gespräch.
Der Fuhrmann aber nahm seinen Schoppen in die Hand und ließ sich mit den Worten: »Setz dich, liebe Emmeline«, neben den Kadetten nieder. »Wo habt ihr denn eure feine Gesponsin gelassen? Gesima, oder wie sie heißt?«
»Auf der andern Seite, im Gastzimmer.«
»Wartet nur, bis sie einmal tausend Wochen alt ist, da würdet ihr gerne jeder einen Fünfliber zahlen, wenn ihr noch einmal mit ihr zusammen abends nach Sonnenuntergang in die Friedlismühle spazieren dürftet. Mag leicht sein, einer oder der andere von euch nagt sich dannzumal die Fingernägel bis zum Ellenbogen ab, aus Reue darüber, daß ihr stundenlang in der Wirtsstube gesessen seid, statt mit ihr im Herrenzimmer. Ja, die hats hinter den Ohren, die weiß, wo Bartel den Most holt, die wird euch schon einmal zeigen, was Trumpf ist, darauf könnt ihr euch heilig verlassen.« Hierauf begann er zu seufzen: »Es ist ein eigen Ding um das Weibervolk. Zuerst, fünfzehn Jahre lang, sieht sie kein Mensch an; dann plötzlich haben sie ein Herrgottslämpchen am Hals hangen, daß sie glitzern wie Johanneswürmchen, und man meint, sie seien die leibhaftigen Engel. Und schließlich, wenn der Docht ausgebrannt ist, hat man eine Hexe im Haus, daß man froh ist, wenn man draußen in der Welt herumhaudern darf, bei harter Arbeit und saurem Wein in Regen und Schnee, lieber als daheim hinter der warmen Suppe.« Im Anschluß daran begann er nach einer Pause über das menschliche Leben zu philosophieren. »Es mahnt mich immer an den Sentisbrugger Hauenstein: man gibt sich des Teufels Mühe, um hinaufzugelangen, und kaum ist man oben, so geht es wieder hinunter und noch viel böser und ruinöser. Zuletzt kommen wir doch alle miteinander bei der nämlichen Herberge an: beim Wirtshaus ›zu den stillen Männlein‹.«
Bei diesen Worten stand der Armenpfleger unwirsch auf, zahlte seine Zeche und stapfte mit steifem Gangwerk aus der Stube.
»Wohin mit den Kälbern, Xaverli?« grüßte der Fuhrmann durch das offene Fenster auf die Straße.
»Nach Bischofshardt zum Metzger. Der Landammann spendiert dem Kantonsrat auf den Sonntag ein Essen.«
Der Xaverli ließ seinen Viehwagen einen Augenblick halten, und sämtliche Kälber begannen zu blöken. Die breiten Lichtmassen, welche aus dem Gasthof auf die Straße quollen, beschienen die großen runden Menschenaugen der lechzenden Tiere, und man konnte sehen, wie sie ihre gespenstisch bleichen Köpfe verdrehten, um dem Xaverli die Hand zu schlecken. Dann rasselten die Räder weiter, und das Blöken verstummte.
Eine lange Zeit wurde kein Wort mehr geredet. Plötzlich hieß es: »Habt ihr ihn gesehen? gerade diesen Augenblick ist er an der Mauer vorübergeschlichen, heim zu.«
»Wer?«
»Der Narrenstudent.«
»Was tut er eigentlich den ganzen Tag im Walde?«
Und jetzt ging es über den Narrenstudenten los, nicht gehässig, aber spöttisch, überlegen und empört. Wie er sich lächerlich kleide, anders als alle andern Menschen, mit einem Regenschirm gegen die Sonne, mit Handschuhen und waschleinenen Unterhosen, wie ein Mädchen, mit einer Brille auf der Nase, wie ein alter Mann, zum Lesen sogar mit zwei Brillen aufeinander, – wie er sich im Hardtwalde in der Nähe des Althäusli ein Hüttchen zum Faulenzen zusammengevattert habe, mit Büchern und Heften und allerlei Schnickschnack. Auf der Falkenfluh habe man ihn einmal dabei überrascht, wie er die Welt zwischen den Beinen angeguckt habe, den Kopf zuunterst, angeblich, weil auf diese Weise die Farben glänzender herauskämen.
»Laßt den Narrenstudenten in Frieden«, mahnte Therese, »er tut ja keinem Menschen etwas zuleid.«
»Aber ein Volksfeind ist er, der den gemeinen Mann verachtet und niemand ein freundliches Wort gönnt. Sein Vater, der Statthalter, wenn er vorübergeht, wünscht jedem einen guten Tag und erkundigt sich, wie das Korn und die Kartoffeln stehen; der Narrenstudent, o je –, der kann nicht einmal Hafer und Roggen voneinander unterscheiden.«
»Es ist keineswegs gesagt«, versetzte Therese, »daß das die besten Volksfreunde sind, die jeden Menschen anlächeln und dem Volk mit Schmeicheleien schöntun.«
»Item, er ist ein Sonderling. Und er kann von Glück sagen, daß er einen so braven, allgemein geachteten, hochmögenden Mann zum Vater hat.«
»Der Niedereulenbacher Sizilienverein hat ihn einmal in den Fingern gehabt.«
»Warum?«
»Die ›Rose von Tannenheim‹ in den Spott gezogen, wo sie mit vielen Kosten gegeben haben, sogar mit einem Passivsaldo von mehr als hundert Franken.«
»Der Sentisbrugger Turnverein auch.«
»Was hatte er mit dem?«
»Sie haben ein Stabturnen aufgeführt, im Sentisbrugger Gemeinderatssaal, und er hat ihnen nachgesagt, sie wären eitler als das affigste Weibsbild. – Ohne den schönen Dolf wäre es ihm damals schlimm gegangen; und ich wollte ihm noch heute nicht raten, allein in der Dunkelheit ums Sentisbrugger Schulhaus zu streichen. Sonst läßt man ihn allgemein in Frieden, man hat sich alsgemach an seine Narrheiten gewöhnt; höchstens, daß ihm etwa in der Dämmerung ein Stein nachfliegt.«
Ob dieser Schilderung keimte in Gerold, der mit gläubiger Andacht dem Femgericht zuhörte, der Wunsch, der Zufall möge ihm den Ruhm vorbehalten, den kantonalen Lindwurm zu züchtigen. Das wäre, dachte er, gerade ein hübscher Heldenanfang für einen elfjährigen Siegfried, nicht zu leicht und wieder nicht zu schwer, denn was da Brillen trug, getraute er sich, über den Haufen zu schlagen, groß oder klein, unbesehen.
»Laßts nur gut sein«, bemerkte ein kleines, feistes, mit einer Botentasche behangenes Männlein, »den Narrenstudenten fischt man eines Morgens aus der Aar.« Das sagte er so zuversichtlich und bedeutsam, als ob er mehr wisse, als er sagen wolle.
»Das möchte ich denn doch nicht behaupten«, mäßigte ein anderer; »aber abgesehen davon, treibt ers ohnehin nicht lange. Er hat die Institution seiner Mutter; alle ihre Geschwister sind an der Schwindsucht gestorben, und sie selber spinnt auch keinen langen Faden mehr.«
»Kein Wunder, bei dem täglichen Verdruß mit ihrem Mann wegen des Sohnes.«