Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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verblüfft. »Die Uhr geht nicht«, versetzte Gerold geschwind, mit gescheitem Blick. »So halt sie ans Ohr.« Sie ging. Jetzt strich er ihnen zärtlich über die Wangen. »Gute Buben«, schmeichelte er, mit kosendem Ton, etwa so, wie man zu einem Pferde spricht, während man ihm den Hals streichelt. Und auf dem ganzen Weg bis zur Statthalterei mußte klein und groß heraus, um die gesunden, unverfälschten Naturbuben zu bewundern.

      »Halt! still! kein einziges Wort des Vorwurfs!« wehrte er einer schwachen, blassen Frau, die mit entsetztem Gesicht und erhobenen Armen aus der Statthalterei hervoreilte, »nicht eine Silbe des Tadels! Ich würde dem Himmel auf den Knien danken, wenn einer der Buben da mein Sohn wäre, statt –« Den Rest des Satzes verschluckte er, doch seine Augen rollten vor Zorn und Haß. Die schwache Frau aber kehrte um und verschwand. »Haltet euch nur an mich«, sagte er hierauf vertraulich zu den Kadetten, »meine Frau meint es ja gewiß seelengut, allein vom Kindergemüt versteht sie so wenig wie die übrigen Frauen, wenigstens wenn es sich um Knaben handelt.«

      Als er jedoch die beiden nur so an den Eßtisch setzen wollte, der draußen fast auf der Straße zwischen den Oleanderbüschen gerüstet war, erschien seine Frau wieder, um Einspruch zu erheben, zwar mit tonloser, beinah versagender Stimme, doch mit zähem, entschlossenen Willen. Sie dulde und erlaube es einfach nicht, daß jemand in so verwahrlostem Zustande mit kohlschwarzen Gesichtern und Händen und zerrissenen und staubigen Kleidern sich an den Tisch setze; erst müßten die Kinder gewaschen und notdürftig hergerichtet werden und überhaupt wieder halbwegs menschlich und anständig aussehen. Und behielt schließlich die Oberhand, trotz dem Achselzucken des Statthalters und seinem Maulen über die Herzlosigkeit und Grausamkeit des weiblichen Geschlechtes.

      Also wurden die Kadetten in eine Schlafstube neben dem Höfchen befördert, dort von der Statthalterin und der Monika ausgezogen, ihre Kleider zum Schneider, ihre Schuhe zum Schuhmacher geschickt (»aber sofort! und so geschwind als nur möglich, nur das Allernotwendigste, denn in einer Stunde müßten die Kinder wieder verreisen«), sie selber, einer nach dem andern, Gerold voran, auf den Tisch gestellt, eingeseift, gekämmt, gestriegelt und gebürstet. Während dieses Geschäftes hörte man durch die Wand den Statthalter im Nebenzimmer spektakeln: »Ihr, der Ihr einen Kutscher vorstellen wollt, und noch dazu einen herrschaftlichen, Ihr solltet doch wissen, daß man einem Pferd, ehe man es anspannt, zu fressen gibt; geschweige denn einem Menschen.« Ob er denn keinen Funken Gefühl in der Brust habe, daß er zweien armen unschuldigen Kindern, die von morgens acht Uhr bis nachmittags vier Uhr nichts im Magen gehabt haben, zumute abzureisen, ehe sie gegessen hätten.

      Der Kutscher schien etwas zu erwidern, was man nicht verstehen konnte. »Das ist nichts als elendes, faules, einfältiges Geschwätz«, lärmte der Statthalter weiter, »Ihr kommt noch bequem nach Bischofshardt. Im Gegenteil, in der Abendkühle gibt es weniger Staub, und die Bremsen sind den Pferden nicht mehr so aufsässig. Nur ein Tierquäler ohne Herz und Gemüt kann auf den Einfall kommen, bei dieser infernalischen Hitze ein paar arme unschuldige Rößlein auf der Landstraße in Schweiß zu jagen. Und dem Wagen wird es wohl auch kein Rad abknappen, wenn er noch ein Viertelstündchen wartet.«

      Dann blieb es eine geraume Weile still nebenan. Hernach tönte es: »Guten Abend, Herr Statthalter.« »Guten Abend, Herr Balsiger; was gibts Gutes? womit kann ich aufwarten?« »Ich glaube, Herr Statthalter, es ist besser, wir lassen Gesima allein abfahren, und die Buben kommen morgen vormittag mit der Post nach; falls Sie etwa nicht Platz für beide haben sollten, so bin ich gerne bereit, den einen von ihnen, oder auch beide, über Nacht zu mir zu nehmen.«

      »An und für sich hätte ich durchaus nichts dagegen, daß die Buben die Nacht in Schönthal blieben«, antwortete der Statthalter nach einer kleinen Pause, mit nachdrücklicher Betonung, »denn es sind brave, gesunde, unverdorbene Buben. Sie sind mir auch nicht feil, niemand braucht sie mir abzunehmen. Aber bei mir heißt es: ein Wort ist ein Wort; es ist zwischen uns abgemacht worden, sie sollten heute mit Gesima in des Landammanns Wagen nach Bischofshardt fahren.«

      »Bei mir heißt es ebenfalls: ein Wort ist ein Wort. Aber es war abgemacht worden, um zwei Uhr werde man fahren, und jetzt ist es bald fünf, und bis die Buben gegessen haben, kann es sechs Uhr werden.«

      »Sechs Uhr ist nicht zu spät; in zwei Stündlein ist ein Wagen von hier in Bischofshardt.«

      »Meinetwegen, so sei es sechs Uhr, wenns nicht anders sein kann; aber dann muß ich dringend bitten, nicht eine Minute später.«

      »Auf eine Minute früher oder später wirds auch nicht ankommen.«

      »Ich bitte um Verzeihung, wenn es um vier Stunden Verspätung nicht angekommen ist, so kommt es schließlich auf eine Minute an.«

      Jetzt erhob plötzlich der Statthalter seine Stimme zum donnernden Gebrüll, daß die Wände zitterten: »Herr Balsiger, ich bin ein einfacher Gemütsmensch. Aber wenn ich auch von Kunst und Ästhetik und Klassik und all dem überspannten Zeug nichts verstehe, so weiß ich doch, was recht und unrecht ist, und vielleicht besser als mancher, der sich wunder wieviel auf seine Bildung zugute tut. In welchem Gesetz, Herr Balsiger, steht denn geschrieben, daß ich nicht ebensogut ein Anrecht auf ein wenig Freude in der Welt haben sollte wie ein anderer? Bis dato kenne ich keinen solchen Paragraphen. Aber das hätte ich nicht von Ihnen erwartet, Herr Balsiger, daß Sie mir geizig und neidisch die Minuten vorrechnen würden, um mir das Stündchen Gegenwart der braven Naturbuben zu verkürzen. Ich bin ein Gemütsmensch, Herr Balsiger, ich habe auch einen Lichtblick nötig. Woher aber soll ich den sonst beziehen? Jedenfalls nicht von meinem Max. Weshalb übrigens gerade ich dazu verdammt bin, einen solchen Duckmäuser zum Sohne zu haben, ist mir noch heutigen Tages ein Rätsel. Da machen sie ein gewaltiges Wesen und Geschrei über den Sentisbrugger Dolf wegen ein paar Liebeleien und einiger lumpigen tausend Franken Schulden. Ich tauschte mit Vergnügen den Max gegen den Dolf. An dem Dolf ist doch wenigstens Natur und Rasse, und wenn er auch ein bißchen über die Schnur haut, mein Gott, das sind Jugendstreiche, die man strafen, aber auch verbessern und verzeihen kann, und oft geben die wildesten Füllen später die besten Rößlein. Dagegen so ein weibischer, saft- und kraftloser Kopfhänger, der einem nicht ehrlich und offen in die Augen sieht, vom Morgen bis zum Abend in den Wäldern herumschleicht, sich von aller Welt absondert, an keinem gesunden körperlichen Spiel, an keinem fröhlichen Fest, an keiner Versammlung teilnimmt, sich besser dünkt als alle andern und doch hinten und vorn nichts ist und nichts kann – die Galle überläuft mir, wenn ich nur daran denke.«

      »Daß wir zwei über Ihren Max verschiedener Meinung sind«, erwiderte der Herr Balsiger ruhig, »wissen wir schon lange. Doch jetzt ist nicht von Max die Rede, sondern von Gesima und den Buben. Ich wünsche einfach einen bestimmten Bescheid. Kann ich darauf rechnen, daß die Buben punkt sechs Uhr reisefertig sind? Wenn ja, gut, so wartet der Wagen; wenn nein, so laß ich Gesima allein fahren. Also, ich bitte um eine deutliche Antwort; ich denke, das wird wohl kein unbilliges Ansinnen sein. Oder?«

      Da lenkte der Statthalter ein. »Gut, gut, einverstanden, ich habe ja nie im mindesten etwas dagegen gesagt. Aber die Kinder können ja ebensogut direkt von hier abfahren; schicken Sie doch einfach um sechs Uhr den Wagen zu mir. Und Gesima soll ein halbes Stündchen früher kommen, damit die drei Kinder Zeit finden, Freundschaft zu schließen.«

      »Das hat etwas für sich. Also ich schicke ungefähr in einer halben Stunde die Gesima und um sechs Uhr den Wagen.«

      »Abgemacht. Und nichts für ungut, nicht wahr, Herr Balsiger? Ich bin ein einfacher Gemütsmensch und verstehe nicht, meine Worte auf die Goldwaage zu legen. Auf Wiedersehen.«

      »Auf Wiedersehen.«

      All die Zeit, da der Statthalter redete, hasteten der Statthalterin Hände, welche den Gerold pflegten, in aufgeregter Eile; wenn er mit der Antwort einsetzte, zuckte sie zusammen, als ob man ihr an einen hohlen Zahn rührte; erhob er die Stimme, so suchte sie den Atem; wie er aber gegen den Sohn wetterte, irrte sie fieberhaft in der Stube umher und faßte allerlei Gegenstände an, ohne zu wissen, was sie tat oder tun wollte.

      Nachdem Gerold als erster säuberlich hergestellt und angekleidet war, entließ ihn die Statthalterin. »Sobald dein Bruder gleichfalls fertig ist, könnt ihr essen.« Der Götti Statthalter jedoch, empört über diese, ›Grausamkeit‹, befahl, dem Gerold sein Essen


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