Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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vorweisen, alle! – Fahrkarten gefälligst», forderte der Schaffner, die Hand gegen Viktor vorstreckend. Nach Erledigung des leidigen Geschäftes war der Bahnhof entschwunden; und allerlei Straßen rannten von links und rechts dem Zug entgegen. «Nun, Viktor, schenkst du uns denn kein Grüßlein zum Abschied?» riefen die Häuser im Vorbeilaufen.

      «Nein», versetzte er trotzig. «Bitte, tut mir den Gefallen: nur keine gleisnerische Schlußakt-Rührszene! Meint ihr, ich sähe nicht auf euren Dächern die Hohnaffen hüpfen und die Spottdrosseln von euren Bäumen grinsen?» Mählich erhellte sich das Düster; Landhäuser, Gärten, Baumreihen entwichen, die einen nach hinten, die andern seitwärts; endlich sprang aus dem freien Feld der lichte Tag in den Wagen.

      Jetzt erst erwachte völlig sein Geist. Mit ihm die Erinnerung; mit der Erinnerung der Groll: «Frohlockt! ihr habt gesiegt; ich fliehe, ein Überwundener, Schmachbedeckter. Doch überwunden von wem? Von der Gewöhnlichkeit, von der Sippschaft, von der hölzernen Stumpfherzigkeit.» Zu finsterm Gewölk sammelte sich sein Groll; das Gewölk ballte sich zum Grimm, und der Grimm kochte den Fluch.

      Da traf ihn eine Stimme, daß er zusammenschrak: die Stimme der Strengen Herrin.

      «Was trägst du, in der Tasche versteckt, Heimliches mit dir fort?» fragte die Stimme.

      «Eine Schrift, von welcher niemand weiß, als ich und du allein.»

      «Und von wem zeugt diese Schrift?»

      «Sie zeugt von dir, gestrenge Herrin.»

      «Und wann hast du dieses mein Zeugnis geschrieben?»

      «Ich habe den ersten Zug geschrieben jenen Abend, als ich diese unselige Stadt betrat; und den letzten Zug habe ich verwichene Nacht geschrieben.»

      «Und was habe ich zu dir gesprochen, verwichene Nacht, nachdem du den letzten Zug geschrieben?»

      «Du hast zu mir gesprochen: ‹Ich nehme dein Zeugnis an, und weil du unbeirrt und unbefleckt trotz Pein und Leidenschaft und Torheit getreulich Zeugnis von mir abgelegt hast, will auch ich von dir Zeugnis ablegen: siehe, ich will dich auf den Gipfel des Lebens erhöhen und den widerspenstigen Ruhm der Menschen an den Hörnern zu deinen Füßen zwingen›, so hast du zu mir gesprochen.»

      «Ja, so habe ich zu dir gesprochen. Und nun willst du Undankbarer die heilige Spanne Zeit, darinnen du solches errungen hast, mit deinem Fluch verunehren? Merk auf, was ich dir befehle: Stimme die Saiten deiner Seele und singe und frohlocke und segne diese Stadt mit allem, was darinnen ist; und jede Stunde, jedes Vorkommnis, jedes Leid, das dir widerfuhr; von den Menschen angefangen, die dir weh getan, bis zu dem Hunde, der nach dir gebellt hat.»

      Traurig gehorchte er; stimmte mit Mühe und Gewalt die Harfe seiner Seele und sang und frohlockte aus seinen Wunden, und sein Gram segnete seufzend alles, was hinter ihm lag, von den Menschen, die ihm unrecht taten, bis zu dem Hunde, der nach ihm bellte.

      «Wohl», sprach die Stimme. «Empfange den Lohn deines Gehorsams; schau auf, schau um.»

      Und siehe da: draußen vor dem Fenster neben dem Wagen, im Gleichschritt mit dem enteilenden Zuge, sprengte auf weißem Renner Imago; nicht die unechte menschliche Imago, namens Theuda, die Frau des Statthalters, sondern die Wahre, die Stolze, die Seine. Und von ihrer Krankheit war sie jung genesen, und ein fröhlich Siegeskränzlein hatte sie im Haar. «Ich habe auf dich gewartet», lachte sie zum Fenster herein.

      Staunend rief er: «Imago, meine Braut, wie mochte das Wunder geschehen, daß du von deiner Trauer genasest? Und zu welches Sieges Feier trägst du das Krönlein im Haar?»

      Sie gab ihm die fröhliche Antwort: «Ich sah deine standhafte Treue durch Trübsal und Schmerzen: darob bin ich genesen. Ich sah dich aus den Strudeln der Leidenschaft ohn' einen Makel emportauchen: darob setzte ich mir vor Freuden ein Krönlein ins Haar.»

      «Und kannst du mir auch vergeben, Imago, meine hehre Braut, daß ich närrischer, verblendeter Mensch ein sterblich Trugbild mit deiner Hoheit verwechselte?»

      Sie lachte: «Deine Tränen haben deine Narrheiten gewaschen.» Nach diesen Worten sprengte sie mit übermütigem Jauchzen voraus, den Zug überholend.

      «Urteile jetzt», begehrte die unsichtbare Stimme, «nennst du mich noch eine Strenge Herrin?»

      Ergriffen betete seine Seele den Dank: «Heilige Herrin meines Lebens, dein Name lautet ‹Trost und Erbarmen›. Wehe mir, wenn ich dich nicht hätte; wohl mir, daß ich dich habe.»

      Die Mädchenfeinde

       Inhaltsverzeichnis

       Abschied von Sentisbrugg

       Beim Götti Statthalter

       In der Friedlismühle

       Der tückische Postwagen

       Gerold und Gesima

       Das verräterische Springseil

       Beim Narrenstudenten

       Im Althäusli

       Die Regimentstochter

      Abschied von Sentisbrugg

       Inhaltsverzeichnis

      Noch bis zum letzten Feriendonnerstagabend hatten sie gemeint, die armen Kadettenbüblein, es könne einfach nicht sein, daß sie wieder fort müßten von Sentisbrugg, in die mürrische Stadt und den hässigen Zank der Schule. Sie hatten sich eingebildet, im schlimmsten Fall, wenn jede Hoffnung geschwunden wäre, so daß sie längst nicht mehr daran dächten, werde sich zu allerletzt die Natur ins Mittel legen und irgendeine rettende Katastrophe stiften, zum Beispiel ein Erdbeben – warum denn nicht? das komme ja vor – oder eine Überschwemmung, oder eine Lehrerseuche, oder eine plötzliche Kriegserklärung, was weiß ich. Und den langen, schönen Donnerstagnachmittag waren sie auf der Gaisfluh gelegen, geduldig auslugend, ob nicht vielleicht die französischen Kürassiere links den Berg heraufgesprengt kämen oder von rechts die badischen Jäger mit finstern Waffenröcken und schmetternden Trompeten.

      Erst jetzt, als sie nach ergebnisloser Erwartung niedergeschlagen heimkehrten, mit Efeu, das ihnen die Hirtenmädchen umgehängt, überwuchert wie zwei wandelnde Gartenlauben, und im Dämmerzwielicht gewahrten, wie die Großmutter erbarmungslos den Koffer packte, begriffen sie, daß sie von der ganzen Welt verraten waren. Da kletterten sie in ihrem Elend zuoberst auf den Ofen, leerten den Kater, der sich dort in einer Jacke eingenistet hatte und nicht wußte, will er weichen oder nicht, auf den Stubenboden und duckten sich in den Winkel. Und wie sie nun von da oben im Dämmerschein die Herrlichkeiten überschauten, die sie morgen verlassen mußten, das Uhrgehäuse mit der Geißel darin und dem Großvater daneben, dem seßhaften, dem man so bequem auf die Knie springen konnte, und die Fliege, die verschlafen auf dem Tisch herumspazierte und morgen, ach Gott, wenn sie schon längst fort waren, noch hier herumspazieren durfte, die Glückliche, verspürten sie solch ein unleidliches Weh, daß sie anfingen zu wimmern. Weil aber die Klagetöne so unerwartet natürlich hervorkamen, daß es sie selber erbarmte, gerieten sie auf den Einfall, man könnte möglicherweise auch Großelternherzen damit erweichen. Deshalb fuhren sie nun mit ihrem Jammer absichtlich fort, erst


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