Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
mich umbuhlen. Herzlose Menschen! stumpf und fühllos wie das Tier! Siehe da, meine arme Seele überflutet von reiner, heiliger Liebe wie ein brandend Meer, ich begehre zum Entgelt um das Opfer meiner Jugend, meines Lebensglückes nichts als ein winziges, geiziges Tröpflein Liebe für mein durstiges Herz – was sage ich ‹Liebe›, oh, nicht einmal Liebe; nichts als die Erlaubnis, ungestraft lieben und leiden zu dürfen. Und was gebt ihr mir dafür? Spott und Gelächter. Wohlan denn, demütigt mich, nehmt Kübel und Kannen, stürzt eimerweise über meinen Scheitel allen Unrat der Schande, ich werde auch das zu ertragen wissen. Das aber sage ich euch, es wird eine Zeit kommen, wo vor meine Persönlichkeit andersartige Menschen mit ihrem Urteil herantreten werden, Menschen, die ein Herz und Gemüt haben; die werden mir die beschmutzten Wangen mit Ruhm abwaschen, und wenn sie meine Wunden gewahren, werden sie sprechen: ‹Der war kein Narr, sondern er war ein Dulder.› Und meine arme, mißhandelte Liebe, die mir heute zum Verbrechen ausgelegt wird, um deretwillen ich von einer herzlosen Frau genarrt und von einer zweiten herzlosen Frau verunglimpft werde, ich sage euch, manch eine wird dereinst, wenn ich tot bin, in ihrem Herzen sehnlichst wünschen, so geliebt zu werden, wie ich liebte, und jene beneiden, der ein solcher mit solcher Liebe huldigte.»
Kaum hatte er diese Rede gerufen, so erwachte er wieder und war wie zuvor. «Verzeihen Sie mir», bat er trübe, « nicht ich habe das gesagt, sondern das Übermaß des Schmerzes hat es geschrien.» Hiermit schritt er zum Klavier und langte nach seinem Hut.
«Aber es verspottet Sie ja kein Mensch!» klagte sie. «Niemand nennt Ihren Namen anders als mit Wohlwollen und Hochachtung. Und was im besondern Frau Direktor Wyß betrifft, so ist sie Ihnen in warmer Sympathie aufrichtig zugetan und tief betrübt darüber, die unschuldige Ursache zu sein, daß Sie sich ihretwegen so viel unnützes, zweckloses Leid schaffen. – Und mir, mir Herzlosigkeit vorzuwerfen, wie können Sie, lieber Freund, mir das antun! Sagen Sie nicht ‹herzlos›, sagen Sie das mir nicht, sagen Sie das nicht mir!» Es tönte leise und klang doch wie ein Schrei.
Doch seine Sinne waren verschlossen, seine Augen blickten abwesend. Sie umgehend, tat er einige Schritte nach der Tür; dann, sich erinnernd, kehrte er um und verneigte sich. «Gnädige Frau», hub er an, «es bleibt mir noch übrig, Ihnen meinen Dank auszusprechen. Ich finde die Worte nicht; ich kann nur sagen: edle, treue Freundin, Dank, innigen Dank für alles. Und bewahren Sie einem reichlich Bestraften, der wohl manches versehen mochte, aber keinem Menschen etwas Böses wollte, ein nachsichtiges Andenken.»
«Sie reisen?» fragte sie tonlos.
Er nickte. «Morgen früh, so früh als möglich, so früh, als ein Zug abgeht.»
«O Gott!» schrie sie auf. «Und wohin?»
Er zuckte die Achseln. «Weiß ich's? Einerlei.»
«Ach mein lieber, lieber Freund», jammerte ihre Stimme. Und in dem Augenblick, da er ihre Hand erhob, um sie zu küssen, küßte sie die seinige.
Dann riß sie das Fenster auf und spähte in die Nacht. Wie sie den Schatten seiner Gestalt am Gartentürchen wahrnahm, rief sie ihm mit lauter Stimme nach: «Ich glaube an Sie und an Ihre Größe und Ihr Glück.»
Am nächsten Morgen früh, in nebelnasser Dämmerfinsternis, wanderte er, wie beschlossen, reisegerüstet zum Bahnhof, noch nicht völlig aufgewacht, einem Traum nachstaunend, dessen selige Farben bis in die öde Wirklichkeit hereinblühten.
Und, o Schmach! von ihr hatte ihm wieder geträumt, trotz allem. Erst auf dem Bahnhofplatze schaute sein verschlummerter Geist träge um sich. An diesem selben Tage, dessen Beginn ihn jetzt umdämmerte, wird sie ihn heute abend erwarten! «Heute abend», wie das alt ist! Vergangen, ehe nur geschehen. Übrigens nicht das mindeste Gefühl bei dem Gedanken an sie zu spüren, überhaupt keinerlei Abschiedsstimmung, weder Rührung noch Groll, höchstens ein fader Geschmack von Ekel im Gaumen; gleichgültig, wie ein Fremder, verließ er die herbe Heimat.
Ein Schalter war erleuchtet, mit einem Beamtengesicht zwischen dem geöffneten Rahmen. Da können wir also gleich fort. Nachdem er über dem Schalter die Richtung abgelesen hatte, heischte er den Namen irgendeiner fernen Stadt im Auslande.
«Zweiter Klasse?» tönte die Frage.
«Dritter», antwortete er, einem unklaren Bedürfnis folgend; sei es, um sich vor dem Zusammentreffen mit Bekannten zu schützen (die Unwahrscheinlichkeit des Zusammentreffens in dieser Morgenstunde genügte ihm nicht, er wollte gänzlich sicher sein), sei es zum Sinnbild seiner Erniedrigung; es paßte besser zu seiner schimpflichen Flucht: dritte Klasse.
Bei seinem Eintritt in den Wagen bemerkte er gleich auf der ersten Bank, hart neben der Tür, ein freundliches Männlein von bescheidenem Aussehen. «Ein bescheidener Mensch, ein guter Mensch», sagte er sich, «der sei mein Nachbar.» Wie er jedoch sein bißchen Gepäck unterbringen wollte, wehrte das Männlein eifrig ab: «Halt, halt, Herr! dort oben liegen meine Beine.» Nicht gelaunt, heute müßige Späßlein zu enträtseln, stellte Viktor verträglich anderswo ein und nahm dann gleichgültig Platz, sich seitwärts schiebend, um sein Gegenüber nicht an die Knie zu streifen. Das Männlein aber blinzelte schlau: «Herr! wegen meiner Knie brauchen Sie nicht so viel Umstände zu machen; die spüren's nicht, wenn man sie stößt.» Hiermit schlug er eine Decke auseinander, und siehe da, er hatte gar keine Beine! «Die haben sie mir im Spital abgeschnitten», erklärte er schmunzelnd, beinahe stolz. Darauf begann er redselig seine Leidensgeschichte zu erzählen. «Was ich ausgestanden habe, das glaubt kein Mensch», lautete der Kehrreim. Da ging Viktor in sich: «Dem hat's doch noch mehr weh getan!» – «Bürgisser ist mein Name», schloß die Erzählung, «Leonhard Bürgisser von Ötlingen; oder Lienert, wie man bei uns sagt; sonst ein Schreiner.» Nach dieser Auskunft schwieg er befriedigt.
Die Maschine stampfte in regelmäßigen Stößen, so daß Viktor, der die Nacht nicht viel geschlafen hatte, unvermerkt einnickte. Da tupfte ihn sein Nachbar auf die Knie, daß er aufschreckte. «Sehen Sie doch», zischelte der Beinlose, «sehen Sie doch den mordsmäßigen Blumenstrauß mitten im Winter, den das feine, vornehme Fräulein dort spazierenführt, vorn bei der zweiten Klasse! Den hat die auch gern, für den sie alle die köstlichen Blumen gekauft hat; sehen Sie, beständig hat sie mit dem Nastuch an den Augen zu schaffen. – Aber wenn er jetzt nicht bald kommt, so kommt er zu spät; der Zug sollte sogar eigentlich schon abgefahren sein. – Bst! still! jetzt kehrt sie um, gegen uns zu: passen Sie auf. – Und Maienblümlein sind auch darunter; man riecht's sogar von hier. – O jerum, du armes Frauelein! sehen Sie, jetzt bei der dritten Klasse, wo sie weiß, daß kein Mensch sie kennt, fängt sie an zu schluchzen.»
Viktor, nachdem er zuerst das Geschwätz ungeduldig mißachtet, schaute schließlich doch hinaus, mechanisch, wider seinen Willen. Eine schlanke und, soviel er in der düsteren Halle zu unterscheiden vermochte, ausnehmend wohlgestalte Dame schritt draußen mit einem Blumenstrauß vorbei, das Gesicht im Taschentuch verborgen, die Schultern vom Weinen geschüttelt. Darob schnitt ihn eine schmerzliche Vergleichung: «Mir – o weh! keine Gefahr! – mir bringt niemand einen Blumenstrauß. O nein! eher eine Handvoll Disteln, wenn sie von meiner Abreise wüßten.» Hiermit wandte er den Kopf ab und rückte in bittern Gedanken vom Fenster weg.
«Einsteigen!» mahnten plötzlich die Rufe der Schaffner. «Endlich!» scholl aus den Fenstern die höhnische Antwort. Wagentüren wurden zugeschmettert, dann wartete ein Weilchen Stille. «Fertig!» Ein schriller Pfiff. – Da wurde hinter ihm die Wagentür aufgerissen; zwischen kalten Luftstrichen hauchte Blumenduft herein – doch nur einen Augenblick, dann schlug die Tür wieder zu. «O nein, Frauelein», lachte der Schreiner der Verschwundenen nach, «der, den du suchst, sitzt nicht in der dritten Klasse. Aber wenn du nicht schnell abspringst, nimmt dich der Zug mit. – Hören Sie die Schaffner, wie sie aufbegehren? Sie sind aber auch in ihrem vollen Recht; denn wenn es einmal ‹Fertig!› geheißen hat, so hat niemand mehr die Abfahrt aufzuhalten, einerlei ob vornehm oder nicht.»
Ein nochmaliger gebieterischer Pfiff des Zugführers; dann rollten die Räder schwerfällig vom Fleck. Erleichtert seufzte Viktor auf «Auf Nimmerwiedersehn!» gelobte er sich, während sein Blick an den Pfeilern der Bahnhofhalle gierig die erlösende Fortbewegung ablas. – «Doch halt! wart! Ist denn das nicht Frau Steinbach, die dort über die Schienen nach der Station zurückeilt, einen