Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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bediente er eigenhändig den hungrigen Kanonier mit der Sorgfalt eines Krankenwärters, redete ihm beweglich Appetit zu, lobte ihn wegen seiner Natürlichkeit, liebkoste ihn mit weichen, schmelzenden Seufzertönen, wie wenn man einen Kanarienvogel lockt, damit er einem Zucker aus dem Munde nehme, so daß Gerold in Wonne und Freundschaft schwamm. Bis zum Gemüse, da änderte sich die Szene. »Das sind Rapünzlein«, schmeichelte der Statthalter, »oder Schwarzwurzeln, wenn du das besser verstehst. Die habe ich eigens für euch kochen lassen; liebst du die Rapünzlein?«

      »Nicht gar so sehr.«

      »Sags nur offen, du brauchst dich nicht zu fürchten, ich bin doch kein Tyrann. Ja oder nein?«

      »Nein.«

      Da schickte ihm der Götti Statthalter einen häßlichen, stechenden Blick zu: »Nun gut; es zwingt dich ja kein Mensch, sie zu essen, wenn du sie nicht magst. Aber was ich nicht leiden kann, das ist, wenn man sich ziert und Faxen macht und Komödie spielt. Da hast du die Rapünzlein, die du so gerne magst; also laß die Stempeneien, greif zu, iß, und laß dirs schmecken; es sind genug da.« Hiemit häufte er ihm den Teller voll Rapünzlein, und Gerold mußte sie wider Willen aufessen.

      »Es sind noch mehr da, falls du etwa wünschest. Willst du noch mehr? sags offen!«

      »Nein, ich danke.«

      Der Götti Statthalter runzelte die Stirn und rollte die Augen. »Gerold, Gerold«, drohte seine Stimme mit feindseliger Betonung, »ich habe dich bisher für einen gesunden, unverdorbenen, wahrhaftigen Buben gehalten. Was ich auf den Tod nicht ausstehen kann, das ist ein hinterhältiges, duckmäuserisches Benehmen. Also gesteh es ehrlich und aufrichtig, wenn du noch mehr begehrst, und sag nicht nein.« Und schob ihm abermals den gehäuften Teller voll hin. So oft Gerold, der einfach nicht mehr konnte, mit Essen einhalten wollte, warf ihm der Götti einen hässigen Blick zu, wenn er dagegen weiter würgte, nannte er ihn einen guten, braven Buben. Schließlich, als es dem angsterfüllten Opfer gelang, sich von dem halsnotpeinlichen Stopftisch zu retten, »Gelt, wir zwei verstehen einander?« triumphierte der Götti Statthalter, hängte ihm eine Flinte über die Schulter, drückte ihm ein Signalhorn in die Hand: »So, jetzt spaziere das Dorf hinab und zeig dich.«

      Gehorsam spazierte Gerold durchs Dorf, mitunter einen Ton durch das Signalhorn tutend. Dabei geriet er an einer höllisch tosenden Fabrik vorüber, auf den Turnplatz; dort setzte er sich auf die Wippschaukel, und blieb halt von selber sitzen, die Glieder ein wenig müde, der Körper schwer, die Seele schläfrig, der Blick von einer Steinkugel gefesselt, die in der Lohe lag und merkwürdige Wunder von Licht und Schatten offenbarte. Da rasselte der Sentisbrugger Postwagen mit dem Marti auf dem Bock an ihm vorüber und hielt zwei Häuser weiter unten still.

      »Ich hatte gemeint, ihr wäret schon längst schnurrentum kurrentum in Bischofshardt«, rief ihm der Marti zu, während er vom Bock sprang.

      Den Postwagen mochte er sich näher ansehen. Dieser beneidete gelbe Wagen also hatte noch vor einer Stunde das Glück, das Haus der Großeltern zu schauen, oder, wer weiß, vielleicht sogar den Großvater und die Großmutter selber oder den Onkel Dolf! Und der Staub hier auf seinem Schulterleder ist Staub von Sentisbrugg! Und wie sonderbar: nach ihm von Sentisbrugg abgefahren, jetzt mit ihm gleichzeitig hier und in einigen Minuten vor ihm weg nach Bischofshardt! Ein eigentümliches Denkgefühl, als stieße die Vergangenheit mit der Deichsel neben ihm vorbei der Zukunft ein Loch in den Rücken.

      Während seines Rundgangs um den Wagen schenkte er dem Inhalt einen Blick. Hinten in der großen Omnibusabteilung war nichts Lohnendes: farbloses, graubraunes Volk. Dagegen vorn im Sonntagsbehälter, oder, wie der Marti ihn taufte, im »Affenkasten«, wo die Nixverstandewu einzusteigen pflegten, saß ein feines, junges Dessertmenschenpaar, die Frau mit einem Gesicht wie eine Prinzessin aus dem Märchen, obwohl ganz einfach gekleidet, und der Herr hatte Augen, welche mehr Augen waren als andere Augen. Diese Menschen nun gefielen ihm; deshalb stieg er auf den Wagentritt und steckte den Kopf durch das Fenster, um sie sich anzuschauen; da winkten sie ihm beide freundlich lächelnd zu. Als sie aber anfingen, im verstohlenen sich zu umschlingen wie die Schlangen und einander abzuküssen, schämte er sich und trat vom Postwagen zurück.

      Jemand schupfte ihn an die Schulter: der Hansli.

      »Sie ist jetzt da.«

      »Wer?«

      »Das Modegeschöpf, das Mädchen, die Gesima.«

      »Wie sieht sie aus?«

      »Lächerlich: eine rote Mähne bis ans Ende der Welt, eine Kappe ohne Schirm auf dem Kopf wie ein Teller, ganz dünne Beinchen und ein schwarzweißer Rock wie ein Damenbrett.«

      Und beide lachten laut auf ob solch einer Menge komischer Eigenschaften. Dann zogen sie heim, um sich an der possierlichen Gestalt des kuriosen Modegeschöpfes zu erlustigen.

      Ein prachtmäßiger, himmelblauer Zweispännerwagen wartete vor der Statthalterei mit einem ebenso blauen Kutscher auf dem Bock, der eine unendlich lange Geißel steif aufrecht hielt wie ein Ulan die Lanze; aber er schien schlechter Laune und hatte einen ganz roten Kopf. Ob sie nicht wüßten, wann man endlich abfahren könne, fragte er die Buben, ohne sich nach ihnen umzudrehen oder auch nur den Kopf zu bewegen, und worauf man denn eigentlich noch warte.

      Ehe sie ihm jedoch antworten konnten, kam der Götti Statthalter aus der Haustür geschnoben:

      »Dieses verdammte Zappeln und Drängen und Zwängen habe ich nachgerade bis zum Halse satt. Ich bitte um höfliche Antwort auf eine höfliche Frage: Wer hat hier dem andern zu befehlen? der Kutscher dem Regierungsstatthalter? oder der Regierungsstatthalter dem Kutscher?«

      »Ich bin dem Herrn Landammann Weißenstein sein Kutscher. Der Herr Landammann hat mir befohlen, spätestens um sechs Uhr mit den Kindern in Bischofshardt zurück zu sein; jetzt ist es halb sieben, und wir sind noch immer in Schönthal.«

      »Mit dem Landammann werde ichs schon ausmachen; das geht mich an. Ihr habt Euch nicht darum zu kümmern.«

      »Ich habe mich freilich um den bestimmten Befehl meines Dienstherrn zu bekümmern.«

      »So fahrt denn! fahrt! fahrt in des Teufels Namen! wenn Ihrs vor Bauchweh nicht länger aushalten könnt!«

      »Ja, ists ernst gemeint? Darf ich mich darauf berufen, Sie hätten mir befohlen, ohne die Kinder heimzufahren?«

      Jetzt zweifelte der Statthalter und zauderte; dann antwortete er in verträglicherem Ton: »Wer hat denn jemals behauptet, Ihr solltet ohne die Kinder fahren? Ich meinte bloß: fahrt einstweilen ruhig und langsam gegen die Friedlismühle voraus, die Kinder kommen in einer halben Minute nach.«

      Da lüpfte der Kutscher die Schultern, erhob die Geißel und setzte den Wagen in Gang.

      Mit Wollust hatten die Buben dem Zank beigewohnt, nun aber, nach dem letzten Aktschluß, stürmten sie ins Haus. »Im Höfchen ist sie«, belehrte Hansli; deshalb bogen sie vom Hausgang in die Schlafstube, um von dort das Modegeschöpf fürs erste einmal unbemerkt zu beobachten.

      Richtig, da war sie leibhaft im Höfchen, auf einem Paar riesiger Stelzen zwischen den Kapuzinerblumenbeeten umherhopsend, daß ihre rote Mähne hoch über das Läubchen hinweg die Luft fegte, wie der Turbanschweif eines galoppierenden Pascha.

      Mit Siebenmeilenschritten gabelte sie den Wänden entlang, bald tiefer, bald höher steigend und die hölzerne Schere regelmäßig auf- und zuklappend; schwenkte dann stolpernd nach der Mitte, beschrieb dort mit den Zirkeln zwei Viertelskreisbogen, einen links herum, den andern rechts herum, und spreizte endlich die steifen Storchenbeine spazierend auf dem Fleck, wie die Rekruten beim Strafexerzieren, indem sie zugleich ein Liedlein von ihrer Staffelei erklingen ließ.

      Vor Zeiten, als sie noch ein lutschendes Sabbelfräulein gewesen, sang sie, habe sie mit einem Kadetten vorlieb genommen. Seit sie jedoch die Schule besuche, fordere sie, wie billig, einen fertigen, garantierten, patentierten Offizier. Der müsse sich indessen sehr beeilen, denn wenn sie einmal in Pension käme, sei dann ein Major das Allerniedrigste, womit sie sich begnüge; billiger könne sie es unmöglich geben.

      Das Liedlein reimte sich, und zur besseren Behauptung


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