Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
nicht ohne Zuversicht und Selbstbewußtsein. Sie waren ja doch nicht die ersten besten Buben, sondern Kadetten, sie trugen Uniform mit goldenen Knöpfen, Gerold sogar mit Granaten auf den Knöpfen, sie konnten einen Säbel und eine Patrontasche vorweisen, sie durften sich mithin ein wenig als seine Kameraden betrachten; gewiß wird er ihnen einen freundlichen Gruß, vielleicht gar, o Wonne, ein holdes Wort gönnen. Es galt bloß, sich ihm bemerkbar zu machen. Darum stolzierten sie in militärischer Haltung vor dem Fenster auf und ab, warfen sich in die Brust, hüstelten, sängelten, streckten sich auf den Zehen. »Zeig deinen Säbel«, riet Hansli, »vielleicht macht das Eindruck.« Also zog Gerold den Säbel und salutierte damit vor dem Fenster. Als auch das nichts fruchtete, kletterte Hansli am Sims in die Höhe, um den schwarzen Roßhaarschweif auf seinem Tschako wirken zu lassen.
Jetzt kroch eine mürrische Alte, verdrossen wie das Regenwetter, aus der Haustür. Was sie wollten, fuhr sie die Buben unwirsch an, mit mißtrauischer Miene.
»Nichts; nur den Dragoner ansehen«, antwortete Hansli kleinlaut.
»So kommt ehrlich und rechtschaffen in die Stube«, bellte sie, »und trinkt einen Schoppen Wein, wie sichs gehört, aber nicht wie die Bettler vor dem Wirtshaus herumstreichen ohne einzukehren.«
»Wir trinken keinen Wein.«
»Dann schert euch vom Fenster weg!« und verschwand mit einem Blick des Hasses und der Verachtung.
Nun richteten sie ihre Werbungen an das Pferd, in der Hoffnung, auf diesem Umwege die Gunst des Reiters zu erschmeicheln; liebkosten dem Gaul den Hals, das Maul, das Kreuz, wagten sogar ab und zu den Sattel und die Steigbügel anzurühren, bescheiden, mit heiliger Scheu. Ob dieser Beschäftigung erleuchtete den Gerold ein gescheiter Einfall. Er erinnerte sich gelesen zu haben, ein Freier pflege seine Geliebte mit heimlichen Geschenken zart zu überraschen, Blumensträußen und dergleichen. Einen Blumenstrauß besaß er leider nicht, wohl aber den Fünffrankentaler vom Götti Statthalter. Den schob er nun mit feinfühliger Gebärde behutsam in den Pistolenhalfter des Sattels.
Da schoß der Dragoner mit dem Kopf aus dem Fenster wie der Teufel aus einer Schachtel. Was sie an seinem Gaul zu schaffen hätten, wolle er wissen; der gehöre ihm, nicht ihnen. Darauf nannte er den einen einen Lausbuben, den andern einen Saububen und beide zusammen zwei Krötenbuben. Und wenn sie sich nicht sofort packen, werde er herauskommen und sie bei den Ohren nehmen.
Also mit Schimpf abgefertigt, trabten sie wieder von dannen, niedergeschlagenen Mutes, mit hangenden Köpfen. Neben der Schande der verschmähten Liebeswerbung quälte den Kanonier noch das nutzlos verschwendete Silberstück; nicht sowohl der Verlustschaden selber, als die Gewissenssorge, ob er mit der Dahingabe eines geschenkten Gutes nicht etwas Unrechtes begangen habe, eine Versündigung gegen das achte Gebot: ›Du sollst nicht stehlen.‹ Eigentlich gestohlen war das ja nicht, allein man hatte ihnen ja in der Schule so eindringlich bedeutet, daß die zehn Gebote eine viel größere Tragweite hätten, als ihr Wortlaut zu sagen schien; kaum daß man sich unvorsichtig bewegte, so hatte man sich gegen eines der bösen Zehn versündigt. Zum mindesten hatte er sich einer leichtsinnigen Verschleuderung schuldig gemacht; mithin war er ein Vergeuder wie der verlorene Sohn. »Gelt, du erzählst es keinem Menschen«, bat er seinen Bruder, nachdem er ihm, ohne den Geschwindlauf zu unterbrechen, seine Missetat bekannt hatte. Das gemeinsame Mißgeschick erweichte des Bruders Herz, so daß er ihm unverbrüchliches Schweigen gelobte.
»Wenn wir jetzt nur nicht zu allem noch die Post verfehlen!« seufzte Gerold und drängte zu verdoppelter Eile.
Waren sie weit gelaufen! Die Strecke wollte kein Ende nehmen. »Dort kommt die Post!« ertönte Hanslis Schreckensruf. Richtig, ungefähr zehn Minuten von ihnen entfernt erschien der Postwagen aus der Klus und schwenkte, ihrer verzweifelten Zeichen ungeachtet, nach der Friedlismühle, zwischen den Bäumen verschwindend.
»Zu spät!« jammerten ihre Herzen.
Gerold stellte den Lauf ein und hielt dem Bruder eine Ansprache: »Jetzt nur eines nicht: nur ja nicht hitzig nachlaufen, nachdem es doch einmal zu spät ist; das wäre das Unvernünftigste, was ein Mensch in solchem Fall tun kann. Denn sonst geschieht unfehlbar folgendes: sowie der Postwagen merkt, daß man ihm nachläuft, bleibt er absichtlich stehen, bis man ihm ganz nahe gekommen ist, dann auf einmal fährt er im letzten Augenblick höhnisch davon, und je mehr man sich darüber ärgert, desto mehr freut es ihn. Den Gefallen wollen wir ihm nicht tun. Also nur ganz ruhig und gemächlich im Schritt gehen, es kommt auf das nämliche hinaus.«
Das leuchtete dem Infanteristen ein, und so zogen sie langsam im Schritt weiter, froh, dem tückischen Postwagen seine boshafte Schadenfreude zu vereiteln.
Bald konnten sie ihn von weitem sehen, den abgefeimten Reisekasten, wie er neben der Friedlismühle stille hielt, mit harmloser Miene, als ob er auf sie wartete.
»Trau ihm nur nicht, dem falschen Fritz!« warnte Gerold, »laß dich nicht fangen! er spekuliert einzig darauf, daß wir ihm nachrennen, dann fährt er augenblicklich fort, darauf kannst du dich verlassen.« Und zum Trotz verlangsamten sie nochmals ihre Schritte.
Und immer, immer hielt er noch auf dem Fleck, der Hinterlistige, wie angenagelt, so daß sie ihm, wie zögernd sie auch schlendern mochten, trotzdem stetig näher und näher rückten. Über diese Standhaftigkeit beschlich sie Verwunderung, und in der Verwunderung saß die Hoffnung. »Weißt du, was ich glaube«, rief Gerold, »wenn wir laufen wie der Blitz, so kommen wir trotz allem noch rechtzeitig, aber so schnell als du nur kannst.« Und mit gewaltigen Sprüngen begannen sie einen Hetzlauf zu rennen. Da tönte ein Posthorn und klatschte eine Peitsche, und wackelnd reiste der Postwagen in die Weite.
»Siehst du ihn jetzt, siehst du ihn, den gelben Salamander, den verschmitzten?« knirschte Gerold, »was habe ich dir gesagt? Sobald wir anfingen zu rennen, so lachte er mit dem Schwanze und trottelte höhnisch davon. Wären wir ruhig im Schritt weitergegangen, so hätten wir ihn überrascht.« Und in seiner Wut schleuderte er dem heimtückischen gelben Betrüger seinen Säbel nach.
Hansli spottete über diese ohnmächtige Strafexekution. »Du bist genau so verrückt wie Xerxes, als er das Meer peitschen ließ.« Gesagt, und warf seine Patrontasche hinter dem Säbel drein.
»Das eine Gute ist immerhin dabei«, tröstete Hansli, »jetzt sind wir wenigstens der Gesima los und ledig.«
»Wieso?«
»Weil sie mit der Post davongefahren ist.«
Die Tatsache mußte Gerold als wahrscheinlich zugeben, allein einen merklichen Trost verspürte er nicht darin; eher fast das Gegenteil. Ob sie gleich nur ein Mädchen war, so hatte er sich halt schon ein wenig an Gesima gewöhnt, und mit einem Male kam ihm die ganze Welt langweilig und dumm vor.
»Und was jetzt weiter?« fragte Hansli.
»Mir einerlei«, knurrte der Kanonier.
»Nach meiner Meinung gehen wir einfach zu Fuß nach Bischofshardt.«
»Mir einerlei.«
»O weh, da kommt die Therese, paß auf, jetzt gibt es eine Strafpredigt.«
»Mir einerlei.«
Es gab keine Strafpredigt, bloß eine milde Frage um Aufschluß über ihr rätselhaftes Verhalten. Warum sie so langsam im Schneckentempo angerückt wären, wie wenn sie es absichtlich darauf angelegt hätten, die Post zu verfehlen. Zehn lange Minuten sei es ihr gelungen, den Postillon hinzuhalten, aber länger habe sie es nicht verantworten können. Was sie jetzt beginnen wollten? Das kleine Fräulein wäre der Ansicht, sie könnten alle drei zusammen zu Fuß weiter; sie habe selber schon zweimal den ganzen Weg von Bischofshardt nach Schönthal zu Fuß gemacht. »Also, wenn ihr einverstanden seid –«
»Ja, ist sie denn nicht mit der Post fortgefahren?« fragte Gerold.
»Sie wollte durchaus nicht ohne euch einsteigen. Dort steht sie auf der Treppe.«
»Schöne Geschichte, schöne Geschichte! die Post verfehlt!« spottete Gesima, indem sie die beiden Hände mit gespreizten Fingern erhob.
Darauf machten sie sich alle drei auf den Weg.
»Glückliche