Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
den Unterschied von Goethe und Schiller von sich gebend, in unerbittlichem Klavadatsch, daß es einen zum Erbrechen hätte erbarmen mögen. Es half nichts, Pseuda mochte sagen, was sie wollte, er war wirklich ein scheulederner Andreas, der Wixel.
Mit der Männerfreundschaft also war es auch nichts. Dann etwas anderes. Theater? Puh! was für ein Theater in dieser Stadt! Überhaupt liebte er nicht das Theater. Vielleicht ein Konzert? Gut; versuchen wir's mit einem Konzerte. Aber, o weh, da saß sie in der zweitvordersten Reihe, und mit einem Male tönten alle Instrumente falsch. Auch Besuche wurden ihm verleidet, dadurch, daß man ihm überall von einer gewissen sogenannten Frau Direktor Wyß sprach. «Wissen Sie nichts Neues von Frau Direktor?» – «Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?» und ähnliches. Dann suchte er mühsam an der Zimmerdecke in seiner Erinnerung: «Frau Direktor Wyß? Wo habe ich doch diesen Namen schon einmal gehört?» Sogar auf der Straße wurde er angeredet, damit er Nachricht über das Befinden einer Frau Direktor Wyß erteile, die ja doch gar nicht vorhanden war. Nein, er wußte zwar, daß es aufdringliche Weiber gibt, allein eine so unverschämt klebrige, harzige Klette wie diese sogenannte Frau Direktor Wyß hätte er doch nicht für möglich gehalten. Oh, diese Kleinstadt, wo man beständig über die nämlichen Menschen, oder wenn nicht über die Menschen, doch über ihre Namen stolpert! Wohin vor dieser unseligen, unvermeidlichen Direktorsgattin sich retten? Man müßte hinaus, weit hinaus aufs Land flüchten können, wo keine Ziege von ihr weiß.
Nun, warum denn nicht? Wozu ist denn die Eisenbahn da? Er erinnerte sich, einmal aus ihrem Munde den Ausruf vernommen zu haben: «Merkwürdig, ich bin in meinem ganzen Leben noch gar nie in Lengendorf gewesen.» Dieses Lengendorf war demnach erinnerungsrein, pseudasauber. Also fuhr er mit der Eisenbahn nach Lengendorf. Dort angekommen, gestattete er sich, um das Bewußtsein ihres Nichtvorhandenseins gründlich auszukosten, ein kleines, abgefeimtes Lustspielchen: Kaum ausgestiegen, begab er sich zum Bahnhofsvorstand und bat ihn mit der ausgesuchtesten Höflichkeit um die Gefälligkeit einer Auskunfterteilung. Er wäre nämlich nach Lengendorf gekommen, um eine gewisse sogenannte Frau Direktor Wyß zu besuchen; ob er vielleicht die große Liebenswürdigkeit haben würde, ihm den Weg nach ihrer Wohnung zu erklären. Der Stationsvorstand erstaunte, schüttelte den Kopf und rief den Kassier zu Hilfe; dieser den Türmann, der Türmann den Knecht vom «Hirschen» und den Kutscher vom «Storchen». Sämtlichen war der Name Frau Direktor Wyß unbekannt. Der Polizeidiener, ferner einige Herumstehende mischten sich in die Frage. «In Lengendorf», lautete einstimmig der bedauernde Bescheid, «wohnt eine Frau Direktor Wyß nicht»; und betrachteten den Viktor mit Beileidsmienen. Dieser aber frohlockte in seinem Herzen: «Siehst du jetzt, du anspruchsvolle, zudringliche Person, nicht einmal das Dasein deiner Wenigkeit ist bei den Menschen bekannt; folglich, was dünkst du dich so über alle Maßen wichtig?» Diese saubern Lengendorfer, die von Frau Direktor Wyß nicht einmal den Namen kannten, taten ihm's an; und mit herzgewinnender Leutseligkeit, wie ein Fürst, der inkognito abgestiegen ist, bezauberte er alles Lebendige, was ihm über den Weg lief, durch seine Liebenswürdigkeit. Den ganzen Tag spielte er den Kaiser Joseph; übrigens nicht nur äußerlich; nein, er hatte sie wirklich von Herzen lieb, diese guten, wackern, hochachtbaren Lengendorfer, welche Frau Direktor Wyß nicht einmal dem Namen nach kannten. Und die entzückende Umgegend, wohin sie nie den Fuß gesetzt! Diese freundlichen Waldhügelhäupter, nach welchen sie niemals einen Blick geworfen! Man atmete ordentlich auf in dieser Luft! Spürt ihr's nicht selber? Und pries das Lengendorfer Klima so überschwenglich, daß der Wirt «Zum Storchen», wo er eingekehrt war, von fremdenindustriellen Hoffnungen beschwingt, ihm mit flüsternder Stimme Preisermäßigung antrug, für den Fall, daß ihm etwa künftigen Sommer eine Luftkur in Lengendorf belieben sollte. Er hatte sogar keine kleine Mühe, seine schuldige Gebühr für das Mittagessen entrichten zu dürfen. Wie er am Abend schied, hatte er das ganze Dorf zu Freunden, vom Doktor und Pfarrer bis zum Hausknecht und Hofhund. Gerührt und glückselig fuhr er heim, denn selten hatte er so ungetrübte Stunden verlebt. Entschieden, er hatte das Landvolk bisher weit unterschätzt.
Noch ganz verträumt dem idyllischen Tage nachsinnend, drängte er sich bei der Heimkunft in die Stadt durch die Menschengruppen im Bahnhof. Pfui Ärger; da stand sie selber, im Gespräch mit dem Professor Pfininger, und mit der Seligkeit über ihr Nichtvorhandensein war es vorbei.
«Jetzt, bitte, wo sind die Naturgesetze? und was sagt denn dazu die Logik? Wenn sie nicht existiert, so kann ich sie doch unmöglich sehen; und wenn ich sie sehe, so muß sie doch existieren; sie existiert ja aber doch nicht, wie kann ich sie dann sehen? Da soll ein Sophist klug daraus werden! – Ich weiß nur noch ein einziges Mittel: ich schließe mich in mein Zimmer ein; durchs Schlüsselloch wird sie schwerlich den Weg finden!» Schloß die Tür, schob den Riegel vor, legte sich aufs Sofa und drehte die Daumen. Nachdem er eine Weile so gelegen hatte, erschien im Zimmer etwas wie ein Lichtnebel; der Nebel verdichtete sich mehr und mehr, ein menschliches Antlitz leuchtete daraus hervor, immer deutlicher und schöner, und siehe da, es war ihr Antlitz. «Jetzt, Pseuda», sprach er sanft, aber ernst, «jetzt rufe ich dein Billigkeits- und Gerechtigkeitsgefühl an. Gegen deine Abneigung, deinen Haß will ich nichts einwenden; die Straßen, die Stadt, die gesamte Außenwelt überlasse ich dir; aber den Hausfrieden achte; auf meinem Zimmer sollst du mich nicht heimsuchen.»
«Aber! aber! Viktor!» belehrte ihn der Verstand, «Sie ist ja doch nicht selber da, sondern einzig Schwester Anastasia Phantastasia gaukelt dir etwas vor.»
«Die könnte auch etwas Gescheiteres gaukeln!» meinte er ärgerlich.
«Ich gaukle, was ich will», maulte die Phantasie, «der Pseudakopf gefällt mir nun einmal; wenn du anderer Ansicht bist, so brauchst du einfach nicht hinzusehen, niemand zwingt dich dazu.» Und blieb bei ihrem Spiel; so daß Viktor nun auf seinem Zimmer, mit seltenen Pausen, beständig den Pseudakopf um sich schweben hatte; namentlich des Abends, wenn Dämmerung das Zimmer füllte. Was war da zu machen? Es scheint, er war nun einmal dazu verurteilt, immer und überall diese eingebildete, aufdringliche Null vor Augen sehen zu müssen. Schließlich: eine Störung ist noch lange kein Unheil; andere haben Mücken im Zimmer, er hatte Pseuda; der ganze Witz besteht darin, sich nicht darüber aufzuregen. Und fand sich mit der Tatsache ihrer Allgegenwart in Weisheit ab.
Plötzlich, wie eine Granate in ein Haus, schlug ihm die Nachricht zu Ohren, sie wäre krank. Das war abends gegen sieben Uhr; das Dienstmädchen hatte es heimgebracht. Nachdem er sich von seiner ersten Bestürzung erholt, verspürte er eine wilde Aufregung und Verwirrung, als hätte er einen Ameisenhaufen in sich und er läge mitten darin. Wie sollte er sich nun zu dieser Tatsache stellen? Von herzlicher Teilnahme konnte natürlich keine Rede sein; oh, weit weg davon! Seine boshafte Feindin! die Verräterin der Parusie! die Vergifterin Imagos! Anderseits konnte er wieder nicht umhin, sie aufrichtig zu bedauern; denn sie war ja trotz allem in diesem Augenblick ein leidendes Geschöpf. Wo ist nun da die scharfe Trennungslinie? und welches ist die genaue, richtige Mitte? Eine schwierige Aufgabe für das Gefühl, und noch dazu eine gefährliche; denn wenn er Pseuda nur ein wenig zuviel bedauerte, so sähe es ja danach aus, als ob sie seinem Herzen nicht gleichgültig wäre; wenn er sie aber zuwenig bedauerte, so stand er da als ein gemütloser, hassenswürdiger Mensch. Diese Aufgabe war so schwierig, daß er sich bis Mitternacht den Kopf darüber erhitzte, und um Mitternacht war er nicht klüger als am Anfang, im Gegenteil. Und wehe! eine schlimme Möglichkeit! wenn es nun eine ernstliche Krankheit wäre! wenn sie am Ende gar...! Doch nein, das wäre ja geradezu eine teuflische Bosheit vom Schicksal, ihn durch solche niederträchtige Kunststücke zwingen zu wollen, dieser Verräterin herzlich gut zu sein. Und die andere Hälfte der Nacht verbrachte er in angstvollem Gebet an das Schicksal, daß sie gesund werden möge, damit er ihr nicht gut sein müsse. Durch diese heftige Gemütsarbeit war er dann am Morgen dermaßen verstört, daß er selber halb krank aus dem Bette stieg.
Das Frühstück verschmähend, eilte er in die Münstergasse. «Statthalter, wie geht es Ihrer Frau; hoffentlich nichts Schlimmes?» rief er ihm schon vom Hausflur angstvoll entgegen.
Der Statthalter erstaunte: «Warum? sie ist doch nicht krank; höchstens ein wenig Zahnschmerzen. – Aber warum nennen Sie mich denn Statthalter?»
«Nichts, nichts», jauchzte er und eilte erleichtert davon; das Schicksal hatte also sein Gebet erhört. Allein Zahnschmerzen, ob es schon nichts Gefährlicheres ist, das tut weh. «Halt! etwas Hübsches, sehr Hübsches!