Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


Скачать книгу
nicht der einzige Grund war, sondern daß sie hauptsächlich deshalb wegblieb, um nicht mit ihm zusammenzutreffen. Das war aber so ziemlich das Schlimmste, was ihm widerfahren konnte. Wenn er dann erschien und sie nicht vorfand, starrte er geistesabwesend auf den Stuhl, auf welchem sie, wenn sie gekommen wäre, vermutlich würde gesessen haben, redete kein Wort und hörte nicht, was man zu ihm sagte. Zu der Unseligkeit des Wartens erhielt er hiermit noch die Beschämung der getäuschten Erwartung. Und jedesmal, den folgenden Tag nach einer solchen Enttäuschung, irrte er verstört in der Stadt umher, wie ein Gespenst, das den Rückweg nach dem Kirchhof verloren hat.

      In den Ausnahmsfällen wieder, wo Pseuda zugegen war, zahlte sie ihm die Mißhandlung ihres Bruders getreulich heim, aufrechten Hauptes, herzhaft und tapfer, ihn als Türkenkopf gebrauchend, nach welchem sie widrige Bemerkungen schleuderte, einerlei was für? denn zur Genauigkeit fühlte sie sich nicht verpflichtet. Kaum daß er den Mund auftat, fuhr sie ihm darüber. Hierbei setzte es mitunter schwere Verwundungen seines empfindlichen Ehrgefühls. «Ich liebe nicht die Schmeichler», warf sie ihm einmal herrisch zu, als ihm der Ausruf entschlüpfte: «Sind Sie schön!» Ein anderes Mal, als er den Satz bestritt, der Adel Europas wäre idiotisch und verkrüppelt, schalt sie ihn «Snob». Das war nun natürlich bloß als weibliche Stimmungsmusik gemeint; er aber faßte jungtörichterweise das Wort wörtlich, und da er es wörtlich faßte, mußte er's auch ernst und schwer nehmen. Drei Nächte würgte er an dem vermeintlichen Schimpf. Eine Rute, ein Feuer, einen Skorpion legte er neben sich und prüfte seine Seele in den hintersten Winkeln, um sich nötigenfalls schonungslos zu büßen; bis er endlich die tröstliche Gewißheit gewann, daß das schimpfliche Merkmal ihm nicht gebühre. Nein, wer vor dem Bettler, während er ihm das Almosen reicht, den Hut abnimmt, wer gleich einem evangelischen Pfarrer einem überführten Dieb den Handschlag nicht verweigert, wer es wagt, am hellen Mittag eine Dirne zu grüßen, ist kein Snob; und wer zeitlebens das Kunststücklein verschmähte, die Gunst einer Frau durch Herabsetzung ihrer Feindin zu gewinnen, ist kein Schmeichler. «Also warum sagt man mir's dann!» schrie seine Empörung; und fortan saß er Pseuda mit einer Miene gegenüber, als hätte sie ihm ein Auge ausgeschlagen und er hätte ihr's verziehen.

      Dem konnte die Regierungsrätin nicht länger zusehen; denn ihre friedliche Natur ertrug keine tiefspältige Zwietracht in ihrer Umgebung. Und da sie sowohl dem Viktor wie der Frau Direktor herzlich zugetan war, schloß sie nach der liebenswürdigen Unlogik des Frauenherzens, welches da meint, wenn ich A und B gern habe, so müssen sich A und B ebenfalls gern haben, auf ein bloßes «Mißverständnis» zwischen den beiden. Demgemäß unternahm sie jetzt die Vermittlung, indem sie dem Viktor die Tugenden der Frau Direktor und dieser wieder die Vorzüge des Viktor schilderte. Großartig, gemäß ihrer lautern und einfachen Natur, wo die Tugenden in kräftigen Zügen wie in Fresko gemalt waren, erklärte sich Frau Direktor willens, die Geschichte mit dem Kurt zu vergessen, vorausgesetzt, versteht sich, daß Viktor sich künftig der Verträglichkeit befleißige. Hingegen den Lobpreisungen über Viktor lauschte sie mit ungläubiger Miene. Und während Frau Keller sich zugunsten ihres Schützlings in eifriger Rede abmühte, sammelte sie sachte für sich selber ihre Eindrücke zu einem Charakterbilde Viktors, ungern zwar, denn es widerstrebte ihr, die Gedanken mit ihm zu beschäftigen.

      Daß dieser Mensch ihr zuwider war, und zwar je länger, desto mehr (ganz abgesehen von der Beleidigung ihres Bruders), das brauchte sie sich nicht erst zu fragen, das spürte sie deutlich. Schon sein lockerer Lebenswandel, aus welchem er nicht einmal ein Hehl machte! «Doch seien wir nicht ungerecht; suchen wir ihm eine gute Seite abzugewinnen.» Allein sie mochte ihn drehen, wie sie wollte, es kam nirgends eine gute Seite zum Vorschein, und sein Eigenschaftsverzeichnis sah einem Sündenregister nicht unähnlich.

      Sein unmännliches, übersanftes, fast süßliches Auftreten, ohne Mark, ohne Kraft, ohne Charakter, mit seiner leisen Stimme, seiner übertriebenen Höflichkeit, seiner geckenhaften Kleidung, seiner gezierten, fremdartigen Sprache – sein undurchsichtiges, vielgestaltiges und vieldeutiges Wesen, verschlossen und hinterhältig, wo man nie weiß, woran man mit ihm ist, jeden Tag ein anderes Gesicht («ich liebe einfache, offene, aufrichtige Menschen») – seine höhnische, frivole Gesinnung, die alles, selbst das Heiligste, Heimat und Vaterland, Moral und Religion, Poesie und Kunst mit wohlfeilen Paradoxen in den Spott zog – ohne Ernst und Tiefe, ohne Grundsätze, ohne Ideale – kein Schwung, keine Wärme, kein Gefühl (wie kann zum Beispiel jemand die Musik nicht lieben? außer er habe kein Herz!). «Gemüt jedenfalls hat er keines; an wen hat er sich denn in den drei Wochen angeschlossen? An niemand.» – Und dann seine anmaßlichen Absprechereien, seine albernen Taktlosigkeiten und Narrheiten, die mitunter an Beleidigung streiften! Hatte man doch zum Beispiel die größte Mühe gehabt, ihm abzugewöhnen, daß er sie «Fräulein» nannte.

      Nein, ihr Widerwille war nicht ungerecht; was auch Frau Keller und ihr Mann zu seinen Gunsten sagen mochten. Auch ihr Vater würde ihn verurteilt haben; mit einem einzigen Wort hätte er ihn verdammt: «Er ist nicht klar.» Sie hörte den Ton seiner ehrwürdigen Stimme, wie er das gerufen hätte. Und da eben Frau Keller Viktors Talente rühmte: «Ja, wo sind sie denn, seine Talente?» rief sie, «bitte, zeigen Sie mir an ihm ein Talent, ein einziges! Was kann er denn? oder was weiß er? Ich sehe überall von den Talenten nur die Abwesenheit.»

      «Geist wenigstens werden Sie ihm zugeben müssen», mahnte Frau Keller.

      Jetzt aber riß der Frau Direktor die Geduld: «Geist?» brauste sie unwillig auf, «auch ich liebe und schätze den Geist; doch es fragt sich, was für ein Geist. Geist nach meiner Meinung fördert etwas Rechtes zutage, Wahrheit oder Schönheit, Taten oder Werke; Geist verehrt das Ehrwürdige, verneigt sich vor dem Verdienst, begeistert sich für das Hohe und Edle; Geist spricht vor allem, wo es sich um ernste Dinge handelt, ernst. Dagegen diese windigen, witzigen Sprachspielchen, ich gestehe, wenn das Geist sein soll, dann mache ich mir aus dem Geist gar nichts, nicht das mindeste; diese Art Geist hasse ich. Statt ‹Natur› zu sagen ‹Madame Pferdekraft›, was habe ich davon? ‹Die Psychologen – die schlechtesten aller Psychologen›, was soll das heißen? Wenn das Geist sein soll, so beanspruche ich als eine Auszeichnung, für dumm zu gelten. Der Kurt, nicht wahr, hat doch auch Geist, aber da sieht es anders aus!» Und da Frau Keller jetzt eifrigst einstimmte, so mündete die beabsichtigte Erhebung Viktors in einen Lobgesang auf den Kurt.

      Nachdem sie dann beide an dem Kurt ihr Herz sattsam gelabt, erklärte sich Frau Direktor schließlich bereit – Verträglichkeit kann niemals schaden, und sie vergab sich ja nichts damit –, mit dem leidigen Menschen glimpflicher umzuspringen.

      Wer sich dagegen bock und stock weigerte, die angebotene Versöhnung anzunehmen, war Viktor. Natürlich, er ließ ja Pseuda, also die wirkliche, leibhaftige Frau Direktor, gar nicht als zu Recht und Tat bestehend gelten. Ehe sie sich «bekehrt» hätte, also rückwärts wieder in die Seele der Jungfrau Theuda hineingeschlüpft wäre, gab es für ihn keine Verhandlung mit ihr.

      Hier abgeschlagen, suchte die Regierungsrätin den Frieden von einer anderen Seite: den Kurt und den Viktor miteinander aussöhnen. «Es ist ja doch ganz unmöglich, wenn sich die beiden nur erst kennenlernen, und so weiter.» Das ergab dann eine jener verunglückten Harmonieaufführungen, welche die Sache noch weit schlimmer machen als vorher. Und wieder war es Viktor, der den Widerborstigen spielte. Zwar hatte er sich mit Ach und Krach zu einer Zusammenkunft herbeigelassen, enthielt sich auch – so viel vermochte er über sich – eines feindseligen Wortes; zur Entschädigung dafür behandelte er jedoch mit Blick und Gebärden den Kurt dermaßen hochfahrend, daß es der schlimmsten Beleidigung gleichkam. Diesmal aber gab es keine Entschuldigung, die beleidigende Absicht war offenkundig. «Warum nur», fragte er sich nachher selber verwundert, «warum muß ich diesen Menschen durchaus demütigen, ob er mir schon nichts zuleide getan, ob ich schon weiß, daß es unklug ist, daß ich mir durch ein artiges Benehmen die Gunst Pseudas erwerben könnte?» Er fand keine Antwort; es war ihm gekommen wie dem Hund, wenn er eine Katze sieht; läßt sich der vom Angriff zurückhalten, so verschlingt er wenigstens die Katze mit den Augen.

      «Naturgeschichten!» meinte er ratlos, «unerklärliche, aber unüberwindliche Idiosynkrasie!» Er täuschte sich; es war ein Berufshandel: der Zorn des echten Propheten gegen den falschen Propheten, die Entrüstung des Erben über den Erbschleicher; mit einem Wort: ihn hetzte gegen dieses Talmi-Genie der heiße Atem der Strengen Frau.


Скачать книгу