Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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aus anderer Leute Köpfen bezieht. Mit einem Wort: ‹Sie ißt nicht von dieser Konfitüre›, um mit Frau Steinbach zu reden. Wer einen Charakterkopf verehrt, wer einen Kurt bewundert, wird niemals einen Viktor hochschätzen; das ist naturunmöglich; denn eines schließt das andere aus. Nun ist aber der Charakterkopf ihr Vater, der Kurt ihr Bruder. Ich mußte demnach einen Kampf gegen ihr eignes Blut und gegen ihre schönste Tugend, die Pietät, beginnen. Folglich...» Hier jedoch stockte sein Gedanke, gegen die Schlußfolgerungen sich sträubend.

      Statt seiner ergänzte den Satz eine leise Stimme aus dem dunkelsten Grunde seines Gefühls: «Hoffnungslos», murmelte die Stimme. Und als ob das ein Stichwort gewesen wäre, erhoben sich jetzt plötzlich von allen Seiten Hunderte von Stimmen, die sämtlich das Wort «hoffnungslos» hersagten, in ewiger Wiederholung, mit scharfem Tonschritt, immer lauter und mächtiger, lawinenartig anschwellend, wie die Zuschauer im Zwischenakt, wenn der Vorhang nicht auf will.

      Da ließ Viktor den Kopf hangen, überzeugt, aber willenlos.

      Ihm tippte der Verstand auf die Schulter: «Viktor, du hörst das Urteil des Volkes, es stimmt zu dem meinigen, und im Grunde auch zu deinem eigenen. Kurz, hier ist kein Klima für dich.»

      «Also was denn?»

      «Aufpacken und abreisen.»

      «Ja, wenn du meinst, es munde meinem Selbstgefühl, mich kleinlaut davonzuschleichen, nachdem ich als zürnender Odysseus dahergefahren, so täuschest du dich.»

      «Wird es etwa deinem Selbstgefühl besser munden, dereinst gedemütigt abzuziehen, schimpflich geschlagen, mit schwärenden Wunden, das Herz voll bittrer Galle?»

      «Irgendeine Genugtuung, irgendeinen Triumph über die Verräterin ist mir das Schicksal doch schuldig.»

      «Das Schicksal ist ein schlechter Zahler. Komm, sei gescheit und renn nicht mit dem Kopf gegen die Mauer.»

      Viktor seufzte und schwieg eine Weile. Darauf versetzte er: «Du magst vielleicht recht haben; auch ist ja nicht gesagt, daß ich dir nicht schließlich nachgebe; allein ich möchte zuerst noch ein bißchen die Torheit strampeln lassen; das tut einem so wohl, und ein wenig Trost habe ich doch auch nötig. Morgen früh gebe ich dir dann Bescheid; zunächst laß mich eins darüber schlafen.»

      Wie er dann im linden Bette lag und, mit Vorausnahme der nahen Abreise, im Gefühl schon halb ein Abwesender, weich und weh seinem verunglückten Richterrachezuge nachsann, benützte das Herz die mürbe Stimmung: «Schade», zischelte es, «ich hätte dir einen besseren Abschied gegönnt. Mißversteh mich nicht, ich maße mir keineswegs an, deinen Entschluß zu beeinflussen, folge nur gehorsam dem Verstande, er ist bei weitem der Gescheiteste von uns allen – nur ist es halt doch zu bedauern, daß du so in Unfrieden von ihr wegziehen mußt, das Gedächtnis zeitlebens mit einer feindseligen Pseuda behaftet. Denn darüber, denke ich, bist du doch im klaren, daß du sie zeitlebens nie mehr wiedersehen wirst; du kannst mithin das Erinnerungsbild nicht mehr ändern; so, wie du sie heute zuletzt geschaut hast: als eine Fremde und Erzürnte, so mußt du sie fortan ewig vor Augen haben. Ich hätte dir zum Abschied etwas Versöhnliches gewünscht, einen guten Blick, ein herzliches Wort, was weiß ich, kurz irgend etwas Schönes, was man hätte mitnehmen können und was einem in der Fremde nachgeleuchtet hätte. Dir hätte es wohl getan (ich rede nicht von mir, ich bin ja, scheint's, nur zum Entbehren auf der Welt), und für die kranke Imago wäre es Arznei gewesen.»

      Und so weiter in schummrigem Verführungsgeflüster, bis er darüber einschlief.

      In der Nacht aber, gegen Morgen, träumte ihm ein Märlein.

      Auf der Insel eines Teiches erblickte er Pseuda als verwunschene Prinzessin zwischen Fröschen und Molchen sitzend, unter denen der Kurt als Froschkönig mit abenteuerlichen Sätzen umherhopste. «Ist denn kein Edler auf Erden, der mich von den Fröschen erlöst?» jammerte ihre Stimme. Und am Ufer, in einem Weidenstrauch, kauerte der Statthalter, die Arme rhythmisch gegen seine Frau bewegend, als ob er mähte. «Hilf ihr», winkte flehentlich seine Miene, indem er die Augäpfel verdrehte. Er selber, Viktor, vermochte sich natürlich nicht zu rühren, weil es ein Traum war.

      Als er dann am Morgen aufwachte, gesund und munter, frisch im Geiste, der Leib gestärkt mit Mut und Selbstgefühl, sprang er kriegerisch aus dem Bette: «Getrost, Pseuda», gelobte er gerührt, «ich werde dich von den Fröschen erlösen», kleidete sich an, öffnete das Fenster, schwang seine Seele über die Berge, blitzte mit den Augen und stampfte mit dem Fuße: «Wieso hoffnungslos? Wer behauptet ‹hoffnungslos›? Sie ist ja doch inwendig nicht hohl, sondern hat eine Seele wie jeder Mensch, und in der Seele schlummert ein Kern, und in dem Kern träumt, ob sie's schon selber vielleicht nicht weiß, eine Sehnsucht, und die Sehnsucht dürstet nach etwas Höherem, Edlerem, Schönerem, als was ihre nichtsnutzige alltägliche Umgebung ihr bieten kann. Sie ist bloß verkrustet. Wenn ich indessen in ihrer Nähe bleibe, so muß unfehlbar früher oder später die Magie meiner Persönlichkeit – vielmehr, besser gesagt, der glühende Blick der erhabenen Fremdgestalten, die mich erleuchten – aus meiner Seele in ihre Seele hinüberzünden, die Kruste durchbrechend, so daß sie aufwacht, entblindet, meinen Wert erkennt und meiner hohen selbstlosen Gesinnung huldigt. Seele gegen Gewöhnlichkeit, Geist gegen Trägheit, Person gegen Sippschaft, so gilt jetzt die Fehde; Magie heißt meine Waffe, und die Strenge Frau ist mein gewaltiger Feldherr. Wollen doch wahrlich sehen, wer stärker ist!»

      Und denselben Morgen noch suchte er, in der mutmaßlichen Voraussicht, daß die magische Heilkur vielleicht längere Zeit beanspruchen könnte, eine Privatwohnung.

      «Wohl bekomm's!» rief der Verstand, als er abends spät einzog. Und zwei Gedanken strichen, eifrig miteinander flüsternd, zuäußerst an seinem Geiste vorüber.

      Der nähere der beiden Gedanken sagte: «Auch wieder einer, der erst ein Bein abgeschlagen haben will, ehe er Verstand annimmt.»

      Der andere Gedanke aber wartete vorsichtig, bis er außer Bereich war, dann höhnte er, zurückschauend, die freche Bemerkung: «Weil er halt einfach verliebt ist», flüchtete jedoch Hals über Kopf, da Viktor jähgrimmig mit Bengeln nach ihm warf.

      Den Viktor aber winkte vertraulich die Phantasie beiseite: «Laß sie schwatzen. Komm, ich will dir etwas zeigen», und zog sachte einen Vorhang auseinander, nur etwa drei Finger breit, gerade soviel, daß man durch den Spalt sehen konnte. Und siehe da, auf einer Bühne standen Pseuda und er selber, Viktor. Hand in Hand standen sie und sahen einander innig an. Dann sprach sie zu ihm: «Hoher du, Guter, Selbstloser, alles, was ich dir ohne Sünde gewähren darf, ist dein, nenn's Freundschaft oder nenn's Liebe.»

      «Das war nur eine kleine Probe, um dir einen Begriff zu geben», schmunzelte die Phantasie, indem sie den Vorhang wieder zuzog, «später zeige ich dir dann noch viel, viel Schöneres.»

      In der Hölle der Gemütlichkeit

       Inhaltsverzeichnis

      Um der widerspenstigen Dame seine Persönlichkeit zu demonstrieren, mußte er vor allem mit ihr zusammentreffen können, und zwar öfters, womöglich regelmäßig, denn persönliche Vorzüge sind keine Fernwaffen. Wo? Diese Frage! Was einfacher? Bei ihr daheim natürlich! Wozu hat man denn sonst einen Statthalter? Der hatte ihn doch eingeladen!

      Der Statthalter empfing ihn aufs herzlichste, eine lange Stunde mit ihm über wissenschaftliche Fragen verhandelnd; seine Frau dagegen, auf welche der Besuch gemünzt war, blieb unsichtbar; und als er ihr beim Fortgehen begegnete, bedachte sie ihn mit einem solchen eisigen Gruß, daß er begriff: sie verbat sich seine Besuche.

      Auf diesem Wege also ging es nicht. Er mußte versuchen, sie an einem dritten Orte zu fassen. Er erkundigte sich, wo und mit wem sie zu verkehren pflege; übereinstimmend meldeten die Nachrichten, ihr gesellschaftlicher Verkehr beschränke sich fast ausschließlich auf die Idealia. Aus tiefstem Herzen seufzte Viktor: «Idealia!» Er hatte sie bereits gekostet, die Idealia, damals, bei Frau Keller. – «Bah», ermutigte er sich, «es sind im Grunde liebenswürdige, wackere Leute; sogar von seltener Herzenshöflichkeit, trotz ihrem schulbuchdogmatischen


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