Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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aus eitel Neid auf meines Bruders Genie sich an ihm zu reiben versucht.» So lautete fortan ihr Urteil über ihn; und sie sorgte dafür, daß er über ihr Urteil nicht im unklaren blieb. Wozu hat man denn sonst Seitenbemerkungen und Anspielungen?

      Über diese neue «Ungerechtigkeit» empörte er sich dann wieder mit einer Beimischung des Erstaunens. «Was geht sie überhaupt ihr Bruder an? Der gehört ja gar nicht zur Handlung. Schon sein Dasein bedeutet einen Fehler im Stück.» Und daß nun vollends sein Verhältnis zu Pseuda Rückschritte statt Fortschritte machen wollte, ging doch gegen allen Sinn. Schon öfters hatte er sich ärgerlich gefragt: «Was zaudert sie? wann will sie endlich aufwachen? meint sie etwa, ich hätte Lust und Zeit, Jahrzehnte auf ihre Bekehrung zu warten?» Und nun sollte es gar noch rückwärts gehen?

      Eine unerträgliche Vorstellung. Allein, wie dem steuern? Er wußte kein anderes Mittel als seine «Magie», dieselbe Magie, die bisher so kläglich versagt hatte. Wie ging das zu, daß sie versagte? daß seine strahlenden Herrschaften nicht aus ihm hinaus in ihre Seele hinüberzündeten? Eine Vermutung: möglicherweise teilt sich der Funke bloß im Zustande der Ekstase mit, so daß also die Wirkung einzig ausgeblieben wäre, weil er bisher der Dame immer nur lahmen Mutes, mit abgespannter Kraft gegenübergetreten war? Wie er daher eines Abends nach schöpferischer Phantasiearbeit seine Seele dermaßen mit erleuchten Gestalten übervölkert fühlte, daß er meinte, es müsse davon wie ein Dunstkreis um ihn zu spüren sein, faßte er sich ein Herz und suchte sie zu Hause auf, in der heimlich bewußten Absicht, seine Magie diesmal konzentriert auf sie wirken zu lassen, gleichsam im Kurzschluß. Also eine Art psychologisches Experiment, doch beileibe kein leichtfertiges, denn es handelte sich ja um sein Heil.

      Der Zufall wollte, daß sie jenen Abend eine Schulfreundin bei sich hatte, mit welcher sie, die Vergangenheit zurückspielend und ihre neubackene Mutterwürde auf ein Stündchen abschüttelnd, die harmlose Wonne ausgelassener Kindsköpfereien kostete; es tut ja so wohl, nicht wahr? einmal zur Abwechslung wieder so recht von Herzen töricht zu sein. Da hatte denn die eine ein Kinderhäubchen, die andere einen Zylinderhut aufgestülpt, und die Seligkeit verlangte, damit im Zimmer herumzuhüpfen. Für solch eine Null aber galt Viktor, daß sie ihn bei seinem Eintritt nicht einmal der Störung wert hielten, den Schabernack zu unterbrechen. Da saß er nun und durfte dem Lustspiel zusehen. Nachdem er das eine Viertelstunde getan, wußte er fortan für sein Leben, was es mit der Seelenmagie auf sich hat! Unbeachtet, wie er gekommen, entfernte er sich und schlich kleinmütig nach Hause.

      Jetzt zum ersten Male kam ihm seine Zuversicht abhanden. Ein Schreck durchbebte ihn, als ob an seinem Siegeswagen die Hinterräder abgebrochen wären und die Achse mit harten Stößen auf dem Boden schleifte. Und wie er seinen Geist nach Trost ausschickte, entdeckte er vor seinem Blick einen schwarzen Vorhang, zwar noch aufgerollt, indessen mit unheimlichen Bewegungen, als könnte er einesmals ungesinnt herniederfallen, ohne ein Klingelzeichen.

      Nachdem seine Magie sich als unzulänglich erwiesen, was blieb ihm dann? Angst klemmte ihn, und in seiner Angst griff er vorzeitig zu seinem letzten Trumpf, den er eigentlich für später aufgespart hatte, wenn ihr Herz bereits erschüttert worden wäre: die Bekehrung durch ihr eigenes Bildnis aus früherer, edlerer Jungfernzeit. Der Anblick ihrer einstigen jungfräulichen Erscheinung, berechnete er, müsse die Erinnerung wecken, und Theuda werde Pseuda strafen; etwa so, wie wenn ein Verbrecher, dem man unvorbereiteterweise sein Abbild aus seiner unverdorbenen Kinderzeit vorhält, plötzlich in Tränen ausbricht, seine Missetat bereut und schwört, fortan wieder ein rechtschaffener Mensch zu werden wie vormals. Er holte also mit bebender Hand jenes Theudabild (sein Heiligenbild) hervor, das ihm vor drei Jahren Frau Steinbach zugeschickt hatte, ängstlich vermeidend, es anzuschauen, weil er sich nicht die Kraft zutraute, den Ansturm der Erinnerungen zu bestehen. Mit diesem Bilde bewaffnet, wie mit einem geladenen Revolver, pilgerte er am nächsten Tage nochmals zu ihr, gefährlich, so daß er beinahe Mitleidbedenken verspürte, von einer so fürchterlichen Waffe Gebrauch zu machen. Das Bild stellte er dann, ehe sie eintrat, aufs Klavier und erwartete mit klopfendem Herzen die Wirkung.

      Kaum erschien sie unter der Tür, so gewahrten ihre scharfen Augen auch schon das Bild. «Wer hat Ihnen das gegeben?» heischte sie im scharfen Ton eines Untersuchungsrichters; «woher bezieht Frau Steinbach das Recht, Ihnen meine Photographie weiterzuschenken?» Darauf zuckte sie die Achseln. «Übrigens ein schlechtes Bild; ich habe es nie gemocht.» Das war die Wirkung des Heiligenbildes.

      Nun wurde seine Lage ernst; denn er hatte keinen Trumpf mehr in der Hand. Noch hielt er zwar an seiner Hoffnung fest, weil er sie eben nötig hatte, allein mit krampfhafter Faust, und der Hoffnung fehlte die vernünftige Berechtigung, da er sich gestehen mußte, daß das, was er hoffte, nunmehr unwahrscheinlich geworden war, daß etwas Unvorherzusehendes ihm von außen zu Hilfe kommen müsse, damit es sich erwähre. Darob sammelte sich in den Gründen seiner Seele Trauer. Diese kam eines Tages ins Gefühl herausgestiegen und zeugte Weh.

      Es war anläßlich eines Gesprächs über «Tasso». Dabei kam die Rede auf die angebliche Anziehungskraft des Genies auf die Frauen. Mit instinktiver Unfehlbarkeit, behauptete Pseuda, fühle sich das Herz des Weibes zu einem wahrhaft bedeutenden, außerordentlichen Mann hingezogen. Nachdem sie das gesagt hatte, seufzte sie sinnend vor sich hin.

      «Sind Sie der Wahrheit Ihres Satzes so sicher?» wagte er einzuwenden.

      «Ebenso sicher», trotzte sie, «wie der andern Tatsache, daß wir mit Gewißheit spüren, wer jedenfalls kein bedeutender, außerordentlicher Mensch ist.» Und damit ihm ja die Anzüglichkeit nicht entgehe, schenkte sie ihm einen spöttischen Nick und Blick dazu.

      Da riß ihn ein tiefes Weh; dann schoß ihm die Empörung das Blut in die Stirn. «Sage, was du zu sagen hast», befahl die Stimme der Strengen Frau.

      Widerstrebend gehorchte er, denn sein Schamgefühl und seine Bescheidenheit sträubten sich gewaltig; dennoch gehorchte er. Also redete er und sagte: «Wer bürgt Ihnen dafür, daß ich kein außerordentlicher, bedeutender Mensch bin?» Dieser Spruch, mit seiner zaudernden Stimme in die vier Wände des tageshellen Zimmers herausgesägt, tönte so unerträglich häßlich, daß er selber sich dessen schämte und sämtliche Anwesenden vor Verlegenheit die Augen niederschlugen, als wäre eine Unanständigkeit vorgefallen.

      Der Pfarrer Wehrenfels fand das erlösende Wort: «Es könnte halt doch nicht schaden», meinte er, mit milder Mahnung gegen Viktor gewendet, «wenn einer erst den ‹Tasso› läse, ehe er in dieser Frage mitspräche.»

      «Brav gegeben!» jubelten aller Augen.

      In die Trauer über seine entziehende Hoffnung mischte sich, anscheinend unabhängig von der Idealia, eine merkwürdige Allgemeinverstimmung, er wußte nicht ob körperlicher oder seelischer Art oder beides zusammen; ein Elendgefühl, dessen erste Anzeichen er schon gleich nach seiner Ankunft verspürt hatte und das ihn nie mehr gänzlich losließ. Jetzt, in seiner übrigen Niedergeschlagenheit, kam die schleichende Krankheit – denn so etwas war es wirklich – zum Ausbruch. Was mochte es nur sein? Ein abscheuliches Gefühl der Leere, eine öde, widerlich schmeckende Empfindung, als ob er eine Lehmwüste verschluckt hätte. Heimweh? Ja, etwas dergleichen; indessen ein Heimweh ohne Poesie, ohne Glanz und Farbe, eine zentrifugale Trostlosigkeit, ein Wegweh. Eines Abends, wie er aus der Idealia durch die finstern Gassen heimkehrte, nirgends Licht und Leben außer in den Wirtsstuben, aus welchen ihm Gejohl, Krakeel und Alkohol entgegenschlug, erkannte er plötzlich sein Leiden: das Elend des Großstädters, der in die Kleinstadt verschlagen worden ist. Auf einer Kirchentreppe heulte ein verlassener Hund. Den Hund begriff er; er hätte mitheulen mögen.

      Trotz alledem war sein Verhältnis zur Idealia bisher ein freundschaftliches geblieben. Sie fanden zwar manches an ihm zu tadeln, genauer gesagt: alles, doch betrachteten sie ihn immer als einen der Ihrigen; er wieder hielt tapfer still, auf bessere Zeiten wartend, so daß er sich wie ein frommer Dulder vorkam, selber ganz gerührt über seine unglaubliche Sanftmut. Da entzündete ein einfältiges Gespräch, das sich ganz harmlos, ja vergnüglich angelassen hatte, innige Feindschaft; nicht bei den andern, denn der Feindschaft war das gemütliche Volk überhaupt nicht fähig, wohl aber bei ihm, dem Ideeneifrigen, Wahrheitsgrimmigen. Das geschah durch eine groteske Szene, die er später seine «Amazonenschlacht» nannte. Bei Frau Doktor Richard nämlich traf es sich, daß er als einziger Herr


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