Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
Sie runzelt die Brauen, ihre schwarzen Augen blitzen, sie öffnet die Lippen: «Ach was!» rief sie, «die höflichen Menschen sind alle mehr oder weniger falsch!»
Das kam dermaßen unversehens daß er hellauf lachen mußte.
Da drehte sie langsam den Kopf nach seiner Richtung und schickte ihm einen Seitenblick: «Du, was dich betrifft», sagte der Blick, «mit dir bin ich fertig!» Und während sie den Kopf wieder abwendete, gewährte sie ihm auf geistigem Wege noch ein paar Nachtragsätze mit kleinen Buchstaben, die er deutlicher zu lesen vermochte, als ihm lieb war. «Mein Herr, was wollen Sie von mir? warum weisen Sie mir solch eine wichtige inhaltsvolle Erinnerungsmiene? Falls Sie etwa von früher her etwas wurmt, um so schlimmer für Sie; klagen Sie sich selbst an; mich aber lassen Sie gefälligst in Frieden, sonst holla! Heute gilt die Gegenwart, morgen die Zukunft; mein Mann und mein Kind sind mir alles, und Sie sind mir gar nichts.»
Es war weder ein Messerchen noch eine Schere, es war eine fürchterliche Säge. Und Schmerz und Zorn stürmten vereint wider seine mühsam verteidigte Fassung. «Sie wagt es! Mit den gemeinen Anhängseln ihrer nichtsnutzigen Ehe – Mann, Kind und dergleichen Hausrat mehr – möchte sie das unsterbliche Gemälde der Parusie auslöschen?!»
Und wiederum tönte in seinen Ohren die Raspel der Gespräche. Von links her: «Glauben Sie wirklich, daß der Kurt noch kommen wird?» – «Schon vier Uhr! fertig, er kommt wieder einmal nicht!» – «Und ich behaupte: er kommt.» – Zur Rechten: «Glatte Höflinge.» – «Freudloses Familienleben der Großstädter.» – «Geistlose Unterhaltung der sogenannten vornehmen Welt.» – «Steifes, lächerliches Zeremoniell in den Palästen der Großen.» – Ihm war, er hätte in zehn Jahren nicht so viele Albernheiten gehört wie in dieser Viertelstunde. Überhaupt gesellte sich zu seiner Beschämung mehr und mehr der Unwille. Warum kümmert sich denn niemand um mich? Wie lange soll ich noch einsam auf meinem Stuhl sitzen wie Robinson auf der Klippe?
Da, mit einem Male lief eine freudige Erregung durch die Versammlung, begleitet von Geflüster und unterdrückten Jubelrufen, als nahte ein Festzug. Während er sich trägen Geistes – denn was galt ihm die Umgebung? – nach der Ursache der plötzlichen Glückseligkeit umdrehte, stürzte ein Mannsbild durchs Zimmer, ohne Gruß noch Vorstellung, im Vorbeistürmen ihn, den Viktor, mit dem Ärmel streifend, ohne sich zu entschuldigen; pflanzte sich ohne weiteres vors Klavier, legte ein Notenbuch bereit – er wird doch etwa nicht...? Doch, weiß Gott, er fängt an zu singen, mitten in der Versammlung, ohne Aufforderung noch Erlaubnis, wie ein Schnapsbruder im Wirtshaus. Eins, zwei war Viktor neben ihm, klappte ihm das Notenbuch zu und warf es ihm auf die Knie, worauf der Einbrecher ohne einen Mucks wieder aus dem Zimmer stürzte. Das Ganze war so schnell verlaufen, wie wenn eine Fledermaus zum Fenster hereinflattert und wieder hinaus.
«Was war das für ein Individuum?» fragte Viktor belustigt, gegen die Regierungsrätin gewandt, in der Meinung, ihren Dank für die schlanke Hinausbeförderung zu ernten.
Doch siehe da: Verwirrung und Aufstand ringsum, Bestürzung auf allen Gesichtern.
«Durchaus kein Individuum», brauste Pseuda mit zornrotem Gesicht auf, feindliches Schnellfeuer aus ihren funkelnden Augen schießend. Die Regierungsrätin aber, Tränen in den Augen, zischte ihm vorwurfsvoll ins Ohr: «Das war ja ihr Bruder, der Kurt!»
Jetzt verbeugte sich Viktor mit spöttischer Ehrerbietung vor Pseuda: «Gnädige Frau, mein aufrichtiges, tiefgefühltes Beileid!»
«Es braucht kein Beileid!» herrschte sie, «ich bin stolz auf meinen Bruder und darf es sein!»
Hiermit verließ sie geräuschvoll das Zimmer, und alles rüstete sich zum Aufbruch.
«Ach, mein schöner musikalischer Abend!» jammerte mit trostloser Miene die Regierungsrätin. Und als Viktor sich angelegentlich bei ihr entschuldigte, beteuernd, wie er doch unmöglich habe ahnen können, daß ein ungezogener Mensch, der ohne Gruß noch Vorstellung durch eine Versammlung stürmt und dabei die Anwesenden mit den Ellenbogen stößt – «Zeremonienmeister!» –, unterbrach sie ihn erbittert: «Er ist eben ein Original, ein Genie» – und schlich betrübt von dannen.
Lehmann aber, der Förster, Viktors Schulkamerad, klopfte ihm lachend auf die Schulter: «Viktor, Viktor, das war ein schlimmes Versehen!»
«Entschuldige, lieber Freund, das war kein Versehen, sondern eine Züchtigung.»
«Nenne es, wie du willst, jedenfalls mit Frau Direktor Wyß hast du es jetzt auf ewige Zeiten verdorben.»
«Das werden wir sehen!» trotzte Viktor furchtlos.
Draußen auf der Straße war ihm, als käme er aus einer närrischen Posse. Das also war der gepriesene Kurt gewesen! «Fein, liebenswürdig, bescheiden!» Haben denn hier die Wörter der deutschen Sprache einen anderen Sinn als sonst auf Erden? Der, und ein Genie?! Ja, eines von den zehntausend Werdenichts-Genies, von denen jede Familie eins auf Lager hat; in schwesterlicher Verhimmelung verzuckert, garniert mit einem Kranz schmachtender Basen. – Überhaupt, in was für eine Grube war er gefallen! Was für Gespräche! Verfaulte Gemeinplätze, die man anderswo mit keinem Stöcklein mehr anzurühren wagt, Urteilsmißgeburten, wert, in Weingeist aufbewahrt zu werden. «Steifes, lächerliches Zeremoniell in den Palästen der Großen!» Die glauben offenbar, es gehe in den «Palästen der Großen» so feierlich zu wie bei der Eröffnung einer Zuchtstierausstellung. «Glatte Höflinge!» Was die sich wohl unter einem Höfling vorstellen mochten? Vermutlich einen staatlich geeichten Ränkeschmied, der von Morgen bis Abend den Thron umschleicht wie ein Bühnenbösewicht den Souffleurkasten. «Freudloses Familienleben der Großstädter!» Wahrscheinlich, weil sie ihre Buben nicht prügeln! «Geistlose Unterhaltung der sogenannten vornehmen Welt!» Allerdings, von «unschuldig schuldig» redet man dort nicht. – Freilich, was den geistigen Horizont betrifft, scheint sie selber auch nicht gerade sonderlich... nun, kein Wunder, in solch einer Sippschaft! Mit einem Charakterkopf zum Vater und einem Genie zum Bruder! «Die höflichen Menschen sind alle mehr oder weniger falsch» – aus was für einem Demokratenkübel sie das elende Sprüchlein wohl aufgelesen haben mag; Aber hübsch hat sie's aufgesagt; sicher und beifallsbewußt wie eine Jahreszahl im Examen. «Schlacht bei Salamis? – Ich weiß», triumphierend den Zeigefinger in die Höhe. Soll ich dir sagen, was sie ist, Viktor? Ein unreifes Kind ist sie, auf der Schnellbleiche geheiratet; noch die Puppe auf dem Arm, und wupp! ohne daß sie merkt woher, ein Büblein auf dem Schoß. Dieses gilt ihr dann so für eine Art Fortbildungspuppe. Hast du gesehen, wie verliebt sie die Schlagsahne schleckte? Um ein weniges (schade, daß sich's für Erwachsene nicht schickt), so hätte sie sich den Magen gestreichelt wie der Clown im Zirkus. Aber war sie schön! Fast wäre man versucht, der Schöpfung eine bessere Note zu erteilen, ihretwegen; womöglich noch schöner als damals in der Parusie. Nichts verloren und mehreres dazugewachsen; «aufgebläht», mit einem Wort, wie die Romanschreiber sagen. Und wie tapfer sie ihren Hanswurst von Bruder verteidigte! Pseuda, du gefällst mir. Sie schlägt zwar noch ein bißchen aus wie ein wildes Rößlein; um so besser, Beweis, daß sie Rasse hat; ich sehe es gar nicht ungern, wenn sie zornig ist; im Gegenteil, das steht ihr gut, es paßt zu ihrer schwarzhaarigen Verfassung. Pseuda, wir werden noch gute Freunde werden. – Und fröhlich trällernd schritt er die Straße.
Allein, die ganze Lustigkeit war nur Kinderball auf dem Verdeck; unten in der Kajüte stöhnte ein gestochener Mann, und das war der Kapitän. Kaum im Gasthof zurück, warf Viktor die gekünstelte Fröhlichkeit weg und ging tiefsinnig in sich. «Viktor, eine Wahrheit hat gesprochen, und an dem Spruch einer Wahrheit soll man nichts abmarkten wollen. Die Wahrheit lautet: Auf Cäsarenmanier, nur so erscheinen und niederschmettern, ist es nicht gegangen; dein Auftritt, dein Blick, deine gerechte Empörung haben versagt, und zwar kläglich. Was war der Grund des Versagens, und wie steht es nach alledem zwischen dir und Pseuda? Denk nach, hernach antworte.»
Viktor dachte nach, hierauf antwortete er: «Der Grund des Versagens ist folgender: Dieses Dämchen ist glücklich und zufrieden; sie bedarf daher nichts und begehrt deshalb nichts, am wenigsten von mir; ich bin ihr einfach überflüssig. Die Vergangenheit aber hat sie begraben, und zwar ohne Denkmal. Das also ist der Grund, daß mein Auftreten versagt hat. Mit meinem künftigen Verhältnis zwischen mir und ihr aber steht es so: Meine geistige Überlegenheit