Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre. Braun Lily

Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre - Braun Lily


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Zorn; ich allein blieb stehen.

      »Wie können Sie nur?!« frug ich ihn empört, als er sich verabschiedete.

      »Es ist ja nur eine Form!«

      »Durch all unsere Rücksicht auf die Form helfen wir die Sache erhalten!«

      Am Abend wurde der Kongreß durch einen feierlichen Empfang der ausländischen Delegierten eröffnet. Eine Schar weißgekleideter Mädchen, mit breiten Schärpen in den Landesfarben über der Brust, bildete Spalier auf der Treppe von Queenshall; in ein Meer von Licht war der Riesenraum getaucht, und alle Blumen des Sommers leuchteten und dufteten rings umher. In großer Toilette erschienen die Delegiertinnen, bei jeder Eintretenden ging ihr Name flüsternd von Mund zu Mund. Und wie sie bekannt waren, so kannten sie sich untereinander und begrüßten sich wie alte Kriegskameraden. Ich kam allein in meinem schwarzen Trauerkleid, über das der Witwenschleier schwer herunterfiel. Es war ein leerer Raum um mich, als ob meine dunkle Erscheinung alles Bunte, Helle von sich stieße. Mich kannte niemand. Ein scheu-verwundertes »Wer ist das?« schlug an mein Ohr.

      Auf der Estrade versammelten sich die Delegiertinnen, und jede von ihnen begrüßte im Namen ihres Heimatlandes die wogende Menschenmasse unter uns. Da waren sie alle, die alten Vorkämpferinnen, die Frauen Amerikas und Australiens, die ihrem Geschlecht die Hörsäle der Universitäten und die Pforten zum Parlament eröffnet hatten. Ein neuer Weibestypus: statt der weichen Madonnengesichter, die die Stille und Enge häuslichen Lebens formt, schmale, scharf geschnittene Züge, wie sie die Welt ihren Bürgern meißelt; statt des treuen, warmen Blicks, der über Kinderstube und Küchengarten nicht hinauszuschauen braucht, die wissenden, ernsten, leidenschaftdurchfunkelten Augen jener, denen des Lebens dunkle Abgründe sich offenbaren. Neben ihnen, den Siegerinnen, standen die noch immer Besiegten: die dunkeläugige Türkin im schimmernden Märchengewande der Scheherezade, die Abgesandte Indiens, den schlanken braunen Leib in weiche Schleier gehüllt. Stolz erzählten die einen von ihren Triumphen, klagend die anderen von ihren Leiden, — Triumphen auf dem Gebiete des wissenschaftlichen, des sozialen, des politischen Lebens, — Leiden, hervorgerufen durch sexuelle, soziale und rechtliche Unterdrückung, als ob Befreiung und Not ihres Geschlechtes damit erschöpft wären. Immer heftiger schlug mir das Herz: ich sah wie im Traum vor den Türen dieses glänzenden Saales Scharen blasser Frauen im farblosen Kleide der Arbeit, wie Werkstätten und Fabriken sie allabendlich zu Tausenden in ihr elendes Heim entlassen. Und als mein Name gerufen wurde, und die weiße brillantengeschmückte Hand der Präsidentin sich mit einer leise bevormundenden Bewegung auf meine Schultern legte, während sie von Deutschlands rechtlosen Frauen, von meinem ersten Auftreten für ihre politische Gleichstellung sprach, da wußte ich, was ich zu sagen hatte.

      »Die Millionen Frauen, die unsere Hemden weben und unsere Kleider nähen, haben mich nicht delegiert, aber ich fühle mich als ihre Abgesandte und nur als die ihre.«

      Sekundenlanger Beifall unterbrach mich, — galt er nicht mehr meinem gebrochenen Englisch und meiner Trauerkleidung als meinen Worten? Mit einem Blick voll Geringschätzung streifte ich die elegante Zuhörerschaft. Ich werde euch schon verstummen machen —, dachte ich.

      »Ihre Vorsitzende rühmte mich als die erste deutsche Frau, die in öffentlicher Versammlung das Stimmrecht für ihr Geschlecht gefordert habe. Ich muß dieses Lob ablehnen. Seit Jahren tragen deutsche Arbeiterinnen von Ort zu Ort die Fahne der politischen Gleichberechtigung, und an der Spitze der Arbeiterpartei, der Sozialdemokratie, steht ein Mann, dem die Frauen der ganzen Welt zu Dank verpflichtet sind: August Bebel.«

      Ich hielt unwillkürlich inne, ich erwartete einen Tumult, statt dessen erhoben sich alle Hände zu einmütigem Applaus, und selbst die Damen des Präsidiums, unter denen sich die vornehmsten Frauen Englands befanden, lächelten mir freundlich zu.

      Am Ausgang des Saals trat mir eine starkknochige ältere Frau entgegen. In dem Druck ihrer harten, unbehandschuhten Hand erkannte ich die Arbeiterin. »Ich bin Sozialdemokratin,« sagte sie, »und möchte Sie als Genossin begrüßen.« Auf dem Heimweg begleitete sie mich, und ich gab meiner Verwunderung und meiner Freude Ausdruck über das Erlebte. Sie lachte geringschätzig. »Was wollen Sie?! Wir sind in England! Wenn ein Prinz Anarchist und eine Aristokratin Sozialistin ist, so gilt das als ganz besonders interessant. Passen Sie auf: man wird sich um Sie reißen. Für unsere Sache aber hat das gar keine Bedeutung.« Sie nannte mir ihren Namen — Amie Hicks — und ihre Wohnung, fern im äußersten Norden Londons. »Besuchen Sie mich einmal; ich werde Sie in Arbeiterkreise führen.«

      Im Trubel der nächsten Zeit war daran nicht zu denken. Der Kongreß und seine Veranstaltungen nahmen mich ganz in Anspruch. Ich fehlte zwar oft; nicht nur, um den Morgen- und Abendandachten aus dem Wege zu gehen, mit denen die Sitzungen regelmäßig eingeleitet und geschlossen wurden, sondern auch, um Zeit zum Schreiben zu gewinnen.

      In Gedanken an meine zusammenschmelzende Barschaft stieg mir das Blut oft siedendheiß in die Schläfen. Das sogenannte Gnadenquartal war mir als Witwe eines Universitätsprofessors freilich bewilligt worden, aber schon vom nächsten Monat ab hatte ich nichts Sicheres zu erwarten als meine kleine Pension von hundert Mark monatlich. Ich hatte kaum an den pekuniären Ausfall gedacht, als ich meine Redaktionsstellungen aufgab. Nun hieß es: arbeiten, zusammenschreiben, was ich zum Leben nötig hatte. Ich wußte nicht einmal, wie viel das war. Ich hatte nie mit dem Pfennig gerechnet. Wie gut, daß mein Trauerkleid mir wenigstens ersparte, den Luxus der anderen mitzumachen.

      Mit Einladungen wurden wir überschüttet: vom Lord-Major an, der uns mit dem ganzen Pomp seiner unnachahmlich würdevollen Stellung empfing, wetteiferte alles in schier grenzenloser Gastfreundschaft. Hinaus aufs Land führten uns Extrazüge, — jenes Land voll rührender, weicher Schönheit, mit seinen grünen, sanft geschwungenen Hügeln, seinen dunklen Buchengruppen und stillen, rosenumsponnenen Häusern. Fast unmerklich für Auge und Sinn geht die freie Natur in den Blumengarten, in den Schloßpark über, nicht wie bei uns, wo die ihr mit allen Mitteln mühsam aufgezwungene Kultur oft so verletzend wirkt wie protziger Reichtum neben dürrer Armut. Und in die Häuser Londons waren wir geladen, die, wie Menschen von alter Kultur, nach außen die gleichförmige, oft langweilig wirkende Maske guter Erziehung tragen und erst dem Gast, dem sich die Pforten öffnen, den ganzen inneren Reichtum individuellen Lebens zeigen. Berlin und die Berliner fielen mir dabei ein, wo Fassaden und Kleider, um Originalität vorzutäuschen, einander an Buntheit zu übertreffen suchen, während im Inneren Tapeziergeschmack und Konvention uneingeschränkt herrschen.

      In Wohltätigkeits- und Bildungsanstalten aller Art wurden wir eingeführt, und wie in der Frauenbewegung, so imponierte mir hier die Einheitlichkeit ihrer Organisation, deren gewaltige Räderwerke so selbstverständlich ineinander griffen wie die jener Dampfturbinen, bei deren Anblick wir nicht wissen, ob wir die praktische Kunst ihrer Schöpfer oder die fremdartig-neue Schönheit ihres Baus mehr bewundern sollen.

      Der Kongreß selbst war eine Parade, wie fast alle Kongresse. Die Reden, die gehalten, die Berichte, die gegeben wurden, waren den Eingeweihten ihrem Inhalt nach aus Büchern und Broschüren bekannt. Der Austausch von Meinungen, der das wichtigste gewesen wäre, wurde an zweite Stelle gerückt, er hätte die Ordnung und den Glanz der Heerschau am Ende trüben können. So wäre als Gewinn allein die Anknüpfung persönlicher Beziehungen übrig geblieben, aber auch er war bei näherem Zusehen für mich nur gering: diese Frauen hatten mir nichts Neues zu sagen. Ihr A und O, das Frauenstimmrecht, war für mich in dem Augenblick erledigt gewesen, als ich die Selbstverständlichkeit seiner Forderung erkannt hatte.

      Bei einer internen Sitzung der Delegationen wurde ich zur Präsidentin für Frauenstimmrecht in Deutschland gewählt. Meine ablehnende Haltung wurde unter allgemeinem Erstaunen als eine Aufgabe des Prinzips betrachtet.

      »Sie alle haben ihre ganze Kraft auf die Lösung dieser einen Frage konzentriert,« sagte ich in dem Versuch, mich verständlich zu machen, »ich bewundere Sie, aber ich kann Ihnen nicht folgen. Das Frauenstimmrecht ist heute für mich nicht mehr das Ziel, für das ich mein Leben einsetze, es ist nur ein Ziel, nur eine Etappe ...«

      Man verstand mich nicht, von irgend einer Seite fiel sogar das scharfe Wort: »... unbrauchbar für praktische Arbeit.«

      Gleich nach der Schlußsitzung des Kongresses


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