Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre. Braun Lily

Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre - Braun Lily


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den Straßen brütete gewitterschwangere Julinacht. Junge und alte Weiber, von Elend, Laster und Krankheit gräßlich gezeichnet, Männer, deren Kleidung einen Fuselgeruch ausströmte, Kinder, die eine Kindheit nie gekannt hatten, strichen an uns vorbei. »Gibt es in der Welt noch einmal solche Hölle,« stöhnte ich und wischte mir die Schweißtropfen von der Stirn. »O, — in Glasgow, in Liverpool, in Manchester ist es ebenso —,« sagte meine Begleiterin ruhig.

      An der nächsten Straßenecke ballten sich die Menschen zu einem schwarzen Knäuel. Qualvolle Schmerzensrufe drangen daraus hervor. Wir liefen vorwärts, — alles machte uns Platz, — die Uniform der Heilsarmee war wie ein Freibrief, den selbst die Rohesten respektierten. Auf dem Pflaster lag ein Weib und wand sich in Mutterschmerzen. »Er hat sie hinausgeprügelt,« schrie ein Mädchen, das neben ihr kniete und ballte wütend die Fäuste. Meine Begleiterin war im Augenblick bei ihr. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. In die Menschen um uns her kam ein seltsames Leben, sie liefen in die nächsten Häuser, atemlos, — sie kehrten zurück, — auch der Elendeste mit vollen Händen. Tücher, Kissen, Decken breiteten sich um die Kreißende aus; ein weißhaariges Mütterchen mit gekrümmtem Rücken schleppte stöhnend Eimer voll Wasser herbei, ein alter Mann humpelte hastig auf seiner Krücke näher und legte mit zitternden Händen seine zerschlissene Jacke über die Jammernde. Ein Sekunde lang war es ganz still, — das Leben schien den Atem anzuhalten, da — ein gellender Schrei, der die Nacht zerriß, — das Kind war geboren, das unselige Kind der Straße. Zurückgelehnt in dem Schoß der Nächsten lag das Weib. Laternenlicht fiel grell auf ihre eingesunkenen Wangen, die weitaufgerissenen Augen drehten sich in den Höhlen, suchend griffen die Finger in die leere Luft, dann noch ein Zucken, ein rauhes Röcheln, — es war vorüber. Und um die tote Mutter knieten ringsum im Schmutz der Straße die Genossen ihres Jammers ...

      Der Sonnenzauber hatte keine Macht mehr über mich.

      Ich hatte nur noch ein Achselzucken, wenn ich die Macht der Gewerkschaften preisen hörte — »die Sattgewordenen vergaßen zuerst der Hungernden« —, und ein verächtliches Lächeln für die Größe und Einheitlichkeit sozialer Hilfsarbeit, die sich von Rechts wegen bankerott erklären müßte. Hier galt es nicht mehr, Einzelne vor dem Ertrinken zu retten, und Wunden zu verbinden, hier galt nur eins: die alte Welt, die ihre eigenen Kinder mordete, zu zerstören, um der neuen Platz zu schaffen.

       Inhaltsverzeichnis

      »Sie wollen wirklich alle Bücher verkaufen?!«

      Der junge Student, der vor mir stand, blickte mich vorwurfsvoll an. Er war gekommen, mir beim Ordnen der philosophischen Bibliothek meines verstorbenen Mannes behilflich zu sein.

      »Mit wenigen Ausnahmen, — ja!« antwortete ich mit erzwungener Ruhe. »Sie sehen selbst: in der neuen Wohnung fehlt es an Platz für sie, — und außerdem werde ich sie kaum je benutzen. Ich werde mit Überlegung einseitig!« Dabei wies ich lächelnd auf die dickleibigen Fabrikinspektorenberichte, die vor mir lagen. Er begab sich stumm, gesenkten Kopfes an die Arbeit. Wie herzlos, daß ich Georgs geliebte Bücher verkaufte, dachte er jetzt gewiß. Durfte ich ihm sagen, daß ich sie verkaufen mußte? Daß ich gestern mit dem letzten, was ich besaß, Georgs Grabdenkmal bezahlt hatte, — einen schönen hohen Marmorblock, auf dem in großen goldenen Lettern sein Wahlspruch stand, der nun auch der meine war: »Wir leben durch die Menschen, laßt uns für die Menschen leben.«

      Mama hatte mir eben aus Pirgallen entrüstet über meine Verschwendung geschrieben: »Ein schlichter Stein mit Georgs Namen wäre ausreichend gewesen.« Ich lächelte unwillkürlich. Arm sind doch nur die Menschen, die niemals verschwenden können! Ich war ja sonst so schrecklich vernünftig. Treppauf, treppab war ich seit meiner Rückkehr aus England gelaufen, um eine Wohnung zu finden, die meinen Mitteln entsprach. In einem Hof der Kleiststraße, drei Treppen hoch, hatte ich sie endlich gefunden: zwei Zimmer mit dem Blick auf eine Mauer, die eine riesige gemalte Schweizer Landschaft schmückte. Zu allerhand öder journalistischer Tagesarbeit hatte ich mich verpflichtet, um in der übrigbleibenden Zeit meiner Aufgabe leben zu können. In vier Wochen zog ich um, bis dahin mußte auch sie festere Gestalt gewinnen.

      Ich hatte mich zunächst schriftlich an eine Anzahl hervorragender Politiker und Sozialpolitiker gewandt, bei denen ich ein Interesse für die Sache voraussetzen konnte, und ihnen meinen Plan eines Zentralausschusses für Frauenarbeit auseinandergesetzt. Sehr höflich, sehr zuvorkommend hatten sie mir geantwortet. »Ihr Plan hat meine volle Sympathie,« schrieb mir eben Theodor Barth. »Ich habe nur Bedenken, ob er sich in seinem vollen Umfang in absehbarer Zeit durchführen läßt. Nach meinen Erfahrungen scheitern sehr viele an sich vortreffliche Reformbestrebungen gerade daran, daß das Ziel von vorn herein zu weit gesteckt ist. Meines Erachtens sollte man zunächst einmal an eine Sammlung und Sichtung von Material, die Bedingungen der Frauenarbeit betreffend, herangehen, wie das sub 1 Ihres Programms ja auch in Aussicht genommen ist. Unternehmer und Arbeiter müßten allerdings zusammenwirken und Vorurteile — speziell auch gegen die Sozialdemokratie — dürften keine Rolle spielen ... Leider ist meine Arbeitskraft schon anderweitig so stark in Anspruch genommen, daß ich wohl mitraten, aber nicht mittaten kann ...«

      Diesen Satz enthielt noch jeder Brief, den ich erhalten hatte. Warnungen vor der Gefahr sozialpolitischer Dilettantenarbeit, Besorgnisse, Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie zu treiben, bedenkliche Fragen nach der finanziellen Fundierung des Unternehmens wiederholten sich oft. »Auf alle Fälle ist der Zeitpunkt schlecht gewählt,« hieß es in einem Schreiben, das Dr. Jacob, mein alter Gegner aus der Ethischen Gesellschaft, an mich richtete, »jetzt, im Jubiläumsjahr, wo das unverantwortliche, antipatriotische Verhalten der Sozialdemokratie selbst solche Kreise erbittern muß, die vielen ihrer Forderungen sympathisch gegenüberstanden, ist nicht der Augenblick, um zu gemeinsamer Arbeit aufzurufen. Ich bezweifle auch, daß Sie Kapitalien finden, die Ihnen zu solchem Zweck die immerhin recht erheblichen Mittel zur Verfügung stellen werden.« Und Frau Schwabach, die einzige unter den Frauenrechtlerinnen, der ich ein ernsteres Verständnis der Sache zutraute, war gleichfalls voller Bedenken gewesen. »Wir müssen zuerst die Peinlichkeiten ausbilden, die zu solcher Arbeit fähig sein sollen,« hatte sie gesagt. Das alte Lied, das die Gewissen einlullt, das Selbstvertrauen betäubt und die Schuld trägt, wenn vor lauter Vorbereitung zur Tat die Tat selbst von einem Tage zum andern verschoben wird.

      Heute nun erwartete ich Martha Bartels mit zwei ihrer Freundinnen — Arbeiterinnen wie sie —, um ihr Urteil zu hören und ihren Rat, der mir der weitaus wichtigste erschien, zu erbitten.

      »Sie müssen für heute aufhören, mein lieber Schmidt,« wandte ich mich an den Studenten, der vor den letztem Regalen des Bücherschranks hoch oben auf der Leiter stand, »es ist unverantwortlich von mir, daß ich Ihre Kraft und Zeit schon so lange in Anspruch nehme.«

      Er fuhr, wie aus einem Traum erwachend, zusammen und strich sich die dichten schwarzen Haare aus der heißen Stirn.

      »Muß ich wirklich schon fort?« Hastig wandte er sich um und rieb die roten, knochigen Hände wie fröstelnd aneinander. Ich nickte, denn schon hörte ich draußen die Klingel. Langsam stieg er die Leiter hinab.

      »Ach, — wenn ich doch wirklich etwas für Sie tun könnte —,« damit senkte er den Kopf tief auf meine Hand.

      In dem Augenblick öffnete sich die Türe, und die drei Frauen traten ein. Sie sahen uns, wechselten sekundenlang einen vielsagenden Blick, ein leises spöttisches Lächeln kräuselte die Lippen der einen, der großen, hageren; — ein Gefühl, als hätte mich jemand mit Schmutz beworfen, beschlich mich. Flüchtig erinnerte ich mich, daß meine Mutter die Anwesenheit eines jungen Herrn bei mir, der Witwe, für unpassend erklärt hatte, — aber waren nicht diese Frauen Vorkämpferinnen einer freien Weltanschauung?! Ich richtete mich gerade auf, zog meine Hand aus der sie noch immer umklammernden; mit einer ungeschickt eckigen Verbeugung drückte sich der junge Student an den neuen Gästen vorbei zur Türe hinaus.

      Bei Kaffee und Kuchen überwanden meine Besucherinnen die erste Verlegenheit. Sie hatten sich in den besten Sonntagsstaat geworfen


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