Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre. Braun Lily

Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre - Braun Lily


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die Worte jagten einander, als wollte eins das andere verschlucken. »An eine Zusammenarbeit von uns und Ihnen ist natürlich gar nicht zu denken. Sollte von anderer Seite etwas der Art für möglich erklärt worden sein —,« ein mißtrauisch-fragender Blick traf mich, — »so würde ich jede solche Absicht auf das Schärfste bekämpfen. Der politische Kampf ist für uns das A und O. Darum ist jede Harmonieduselei mit bürgerlichen Elementen vom Übel und kann nur verwirrend wirken, den Klassenkampfcharakter unserer Bewegung verwischen. Nicht die Gegensätze überbrücken, wie bürgerliche Idealisten und Ethiker wünschen, sondern sie auf das Schärfste betonen, ist für uns die Hauptsache. Reinliche Scheidung, — ohne Konzessionen.«

      Ich seufzte tief auf. Sie verstand mich falsch und ein feines ironisches Lächeln kräuselte flüchtig ihre Lippen. »Das ist freilich nicht immer ganz bequem, aber für Menschen wie Parteien die einzig mögliche Grundlage ihrer Existenz.«

      Sie lud mich für den folgenden Tag zu sich ein. Hätte mich die Frau nicht gereizt, der Sache wegen schien der Besuch keinen Zweck mehr zu haben.

      In einer Wohnung von puritanischer Schlichtheit empfing sie mich, aber ein unbestimmtes Etwas, sei es die Wahl der Bilder, der Fall der Vorhänge oder nur die ganze Farbenstimmung des Raumes, verriet das künstlerische Empfinden der Bewohnerin. Und als ihre beiden frischen Buben hereinstürmten, rotwangig und glänzenden Auges, sah ich hinter der Rüstung der Kämpferin den Menschen, die Mutter. Wie reich war sie! — Wir gingen nachmittags hinaus vor die Stadt, die bewaldeten Hügel hinan, die sie so zärtlich umschließen. Die Kinder und die Natur schienen Wanda Orbin zu verwandeln. Sie war viel milder heute. Sie sprach über Kunst und Literatur mit dem Verständnis eines selbständigen Geistes und der Wehmut unglücklich Liebender. »Das alles ist eingeschlafen, hat einschlafen müssen gegenüber der großen, umfassenden Aufgabe,« sagte sie schließlich, und ihre Augen bekamen wieder den fiebrigen Glanz des Fanatismus.

      Kaum waren wir in ihrer Wohnung, als ein Mann zu ihr hereinstürzte, atemlos eine Depesche hin- und herschwenkend, während ihm hinter den Augengläsern die dicken Tränen über die bärtigen Wangen liefen. »Engels — Engels ist tot —,« stieß er mühsam hervor. Mit einer abwehrenden Bewegung der Hände — breiter kurzfingeriger Hände, die aussahen, als hätte der Bildhauer Natur sie nur in rohen Umrissen skizziert und vergessen, sie auszuführen — starrte Wanda Orbin dem Unglücksboten sekundenlang ins Gesicht. Dann warf sie die Arme empor und brach in ein konvulsivisches Schluchzen aus, unter dem ihr Körper immer heftiger zu zittern begann. Ihre Füße würden die Schwankende nicht mehr tragen, dachte ich, und schob ihr vorsichtig einen Sessel zu, in dem sie haltlos versank. Inzwischen hatte sich das Zimmer gefüllt: die Eintretenden tauschten miteinander warme Händedrücke. Alles sammelte sich um die weinende Frau, leise Flüstergespräche, als läge der Tote mitten unter ihnen, flogen nach langer beängstigender Stille hin und her. Eine Familie war dies, die Stärkeres zusammengeschweißt hatte als das Blut: aus gemeinsamen Empfindungen, Gedanken und Idealen entsprang die Tiefe gemeinsamer Trauer um den, der ihr Führer gewesen war. Auf Zehenspitzen schlich ich hinaus und fühlte doch mit überwältigender Gewißheit, daß ich dazu gehörte.

      Spät am Abend kam Wanda Orbin noch einmal zu mir, — sehr weich, sehr liebevoll. »Sie hätten bleiben dürfen, Sie sind uns doch keine Fremde,« sagte sie. Da gewann ich Vertrauen und erzählte ihr von den Zweifeln und Kämpfen der letzten Wochen. Ich sah, wie sie lächelte, — nachsichtig wie eine Mutter über Kinderleiden, aber es verletzte mich nicht. »Im Zwiespalt der Empfindungen kann niemand dem anderen helfen,« meinte sie dann. »Ich weiß nur eins gewiß: ist Ihre Überzeugung erst vollkommen klar und unerschütterlich, so verschwindet vor ihr das bloße Gefühl, wie Sommerschwüle vor dem Gewitter. Zu dieser Überzeugung zu gelangen, das ist freilich das schwerste. Die Logik der Tatsachen, die Lebensverhältnisse pauken dem Proletariat eine Auffassungsweise ein, die sich der bürgerliche Idealist mit großer Mühe aneignen muß, wenn es ihm überhaupt trotz aller Ehrlichkeit gelingt, den alten Adam der bürgerlichen Ideen abzulegen. Es ist so furchtbar schwer, aus seiner Haut zu fahren, sich von dem zu befreien, was Vererbung und Milieu aus uns gemacht haben.« Ihre Augen schauten wie nach innen.

      Wir sprachen noch lange miteinander. Sie riet mir jetzt zur Ausführung meines Planes; ich würde durch ihn vielleicht am besten zur Klarheit kommen, und an Rat und — inoffizieller — Hilfe von ihr sollte es nicht fehlen. »Setzen Sie sich in Berlin mit den Gewerkschaften in Verbindung, und zwar speziell mit den Konfektionsarbeitern, die infolge der Bewegung, in der sie augenblicklich stehen, Ihre Sache als eine Unterstützung betrachten dürften. Und dann, vor allen Dingen, suchen Sie unseren Genossen Dr. Heinrich Brandt für sich zu interessieren. Gewinnen Sie ihn, so ist Ihnen geholfen: er setzt alles durch, was er will.«

      Dr. Brandt! — Ich schloß unwillkürlich die Lider, verloren in Erinnerung. »Alle Ströme fließen in unser Meer,« hörte ich eine dunkle klingende Stimme sagen, und flüchtig — ein Traumbild — tauchte ein Mann vor mir auf, blond und schlank, und tiefe graue Augen versanken sekundenlang in den meinen.

      Nach meiner Rückkehr schrieb ich sofort an Johannes Reinhard, den Führer der Konfektionsarbeiter-Bewegung, und an Heinrich Brandt. Reinhard kündigte mir umgehend seinen Besuch an; kurz darnach bestimmte Brandt dafür dieselbe Stunde. Im ersten Gefühl starker Freude, über deren Ursache ich mir nicht so recht klar war, wollte ich Reinhard abschreiben, um den anderen bald und zuerst zu sehen. Über mich selbst errötend, zerriß ich die Karte wieder, die ich zu schreiben begonnen hatte, und bat statt dessen Brandt, seinen Besuch zu verschieben. »Schade,« antwortete er mir, »ich wäre gern gleich gekommen. Vorgestern las ich in der wiener ›Zeit‹ einen Artikel von Ihnen, der mich so entzückte, daß der Wunsch, die Verfasserin kennen zu lernen, in mir rege wurde. Diesem Wunsch begegnete noch am selben Morgen Ihr Brief.«

      Und nun stand Reinhard vor mir, unter der linken Schulter die Krücke, das Gesicht noch gelber, als da ich ihn zum letztenmal in der Egidyversammlung gesehen hatte, die schwarzen, dünnen Haarsträhnen wie festgeklebt um den breiten Schädel und die tief eingefallenen Schläfen.

      »Hielte ich Ihren Plan nicht für gut, für notwendig sogar in diesem Augenblick, wo der Reichskanzler den Stillstand der Sozialreform nicht nur zugab, sondern verteidigte, ich würde nicht so rasch hier sein,« begann er die Unterhaltung, indem er sich mühsam, das linke Bein gerade ausgestreckt, auf dem Stuhl niederließ. »Wir stehen in der Konfektion seit Beginn des Jahres in einer Bewegung, die mir Tag und Nacht keine Ruhe läßt — —«

      »Ich weiß: um die Durchsetzung von Betriebswerkstätten handelt es sich,« unterbrach ich ihn. »Der Zentralausschuß könnte nichts Besseres beginnen, als Sie darin unterstützen.«

      Er sah erfreut auf. »Ich sehe, Sie sind orientiert, und so brauche ich nur hinzuzufügen, daß Ihr Zentralausschuß auch nirgends reicheres Material zur Frage der Frauenarbeit finden könnte als bei uns. Ihren londoner Eindrücken, von denen ich in den Zeitungen gelesen habe, würden die berliner nicht nachstehen.«

      Ich zweifelte an der Möglichkeit ähnlichen Elends bei uns. Nicht einmal in der Nacht, wenn ich aus Versammlungen gekommen war, hatte ich so bittere Not gesehen, wie sie mir in London bei hellem Tage begegnet war.

      »Unsere Ärmsten schämen sich, — das ist vielleicht der letzte Rest Menschlichkeit in ihnen,« meinte er; »seit Wochen mache ich fast nichts anderes als Besuche bei den Heimarbeitern. Eben erst war ich bei einem alten gelähmten Weibe, das hier im Westen, fünf Treppen hoch, ein einfenstriges Zimmer und eine fensterlose, winzige Küche mit ihrer Tochter und deren vier kleinen Kindern bewohnt. Von früh fünf bis nachts um elf trampelt die Tochter die Nähmaschine, um bestenfalls neun Mark in der Woche zu verdienen. Vor wenigen Tagen war ich in einem engen Kellerloch, wo eine Witwe mit zwei Kindern wohnt; auf den schimmeligen Möbeln, auf dem einzigen wackeligen Bett, liegen elegante Damenblusen, für die sie ganze fünf Mark wöchentlich einnimmt.« Reinhard erhob sich, rote Flecken brannten auf seinen Backenknochen, und während er weitersprach, humpelte er im Zimmer aufgeregt hin und her. »In einem anderen Keller, wo die Dielen faulen und die Fenster tief unter der Erde liegen, arbeiten zwei Schwestern, — junge, bleichsüchtige Dinger, — für die, die oben in Luft und Sonne lachend vorübergehen. Ist die Ehre, die ihr bewahrt habt, das elende Leben wert, — hätte ich ihnen am liebsten zugerufen.


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