Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre. Braun Lily

Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre - Braun Lily


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um ihr Leben weint!« sagte leise der Mann neben mir. Meine Jugend?! Kaum wußte ich noch, ob ich alt war oder jung. Ich stand wohl schon lange jenseits jeden Alters!

      Schweigsam fuhren wir beide nach London zurück. Ich fühlte die Hand meines Begleiters auf der meinen — streichelnd, schützend. Nachts schluchzte ich verzweifelt in die Kissen, und morgens, als ich mich zur gewohnten Arbeit am Fenster niedersetzte, schweiften meine Gedanken weit hinaus über die Baumwipfel — in den glühenden Sommertag — in das Leben. Ich ging umher, mir selbst fremd geworden, mit anderen Augen. Ich entdeckte im Spiegel mein Gesicht wie das einer Fremden. Mechanisch löste ich die Witwenhaube aus den Haaren. »Georg — Georg —« schrie es in mir, »nie bin ich deine Frau gewesen — wie kann ich deine Witwe sein?!«

      Die Menschen um mich kamen mir verändert vor: ich fühlte Männerblicke, die das Weib in mir suchten und nicht die Gesinnungsgenossin, und Händedrücke, die andere Empfindungen verrieten als die bloßer Freundschaft. Und wenn ich auf den grünen Wiesen im Hydepark blonde rosige Kinder sah, kam ich mir vor wie eine Ausgestoßene. Drangen aber gar durch die Nacht aus den Gärten rings umher sehnsüchtig-süße Lieder an mein Ohr, so war mir, als hätte ich jetzt schon Georgs Vermächtnis die Treue gebrochen.

      Eines Nachmittags — mein Aufenthalt neigte sich seinem Ende zu — trat eine einfache, starkknochige Frau, die weißen Haare straff aus der Stirn gezogen, an unseren Teetisch und streckte mir eine harte, unbehandschuhte Hand entgegen: »Sie kennen mich wohl nicht mehr?« Ich sprang auf, fast hätte ich sie in die Arme gezogen: »Amie Hicks?! Sie haben mir Londons Elend zeigen wollen! Wollen Sie es noch tun, — gleich jetzt?« Sie lachte verwundert über meinen plötzlichen Eifer, aber ich ließ sie nicht los und wir verabredeten zunächst einen gemeinsamen Besuch im Bureau des Zentralkomitees für Frauenarbeit.

      Was ich dort kennen lernte, erregte mein höchstes Interesse: Man hatte sich zur Aufgabe gestellt, die Lage der erwerbstätigen Frauen zu untersuchen und die Resultate zu veröffentlichen, gewerkschaftliche Organisationen zu schaffen und zu unterstützen, die Arbeiterinnenschutz-Gesetzgebung zu studieren und ihre Weiterentwicklung durch mündliche und schriftliche Propaganda zu fördern. »Wir sind gewissermaßen ein Arsenal und liefern der Arbeiterbewegung die Waffen,« sagte mir eine der Leiterinnen; »und wir schaffen zugleich die Möglichkeit, daß die Frau der begüterten Kreise die Lage der Arbeiterin kennen lernt, und die Arbeiterin andererseits sich der Kenntnisse der bürgerlichen Frau bedienen kann,« fügte eine andere hinzu. Der Plan, etwas Ähnliches in Berlin zu gründen, reifte in mir: der Arbeiterbewegung Waffen liefern, war mindestens so nützlich, als selbst die Waffen tragen. Es war praktisch im Grunde dasselbe, was die Fabier theoretisch leisteten, es würde wertvolle Kräfte in den Dienst des Sozialismus zwingen, — ihrer selbst fast unbewußt. Es ermöglichte mir, außerhalb der Partei für die Partei zu wirken. Mit krampfhafter Anstrengung zuerst und dann mit wachsender Anteilnahme vertiefte ich mich in das Studium meiner Aufgabe. Ich flüchtete aus den blühenden Gärten in die engen Straßen zwischen die geschwärzten Mauern, wo kein Baum und kein Vogel den Sommer verrät und seine Glut, die draußen vor den Toren die Knospen wach küßt, nichts hervorruft, als ekle Dünste und giftige Miasmen. Je mehr ich ihm entfloh, desto grauer und stiller wurde es auch wieder in mir. Eilig, wie die andern, ohne rechts oder links zu sehen, lief ich durch die Stadt, über klebrige Höfe, steile Treppen hinauf in die Bureaus der Fabrikinspektionen und der Gewerkschaften, zu Besuchen, Sitzungen und Versammlungen. Zahlen, nichts als Zahlen hörte ich — neben den Lohntabellen, die Arbeitsstunden und die Wochen der Arbeitslosigkeit —, sie verfolgten mich bis in meine Träume, verschwammen ineinander und schoben sich vor meinen Augen dichter und dichter zusammen, bis sie nichts waren als ein einziges schwarzes Trauergewand, das Himmel und Erde verhüllte.

      »Nun bleibt mir nur noch übrig, die Illustration zu Ihren Tabellen zu sehen,« sagte ich eines Abends zu Amie Hicks, die die Arbeiterinnen der Zündholzfabrikation — ihre Kolleginnen — organisiert hatte. Sie wandte sich an eine junge Soldatin der Heilsarmee, die bescheiden im Hintergrund stand. »Wollen Sie unsere deutsche Freundin heute nacht nach Whitechapel mitnehmen?«

      Das Mädchen sah mich zweifelnd an: »Wenn die Dame sich nicht fürchtet — und sich entschließt, unsere Kleidung anzuziehen.« Ich war natürlich zu allem bereit. Ehe wir uns am späten Nachmittag auf den Weg machten, steckte ich mir die Taschen voll kleiner Kupfermünzen. »Das hat keinen Zweck,« lächelte meine Begleiterin, »es sind ihrer viel zu viele!« Unterwegs erzählte sie mir von ihrer Arbeit: einem unaufhörlichen Kampf mit Laster und Not, einer stündlichen Aufopferung der eigenen Person, und ihr schmales Gesichtchen strahlte dabei wie das ihrer Altersgenossinnen, wenn sie von Karnevalstriumphen zu berichten haben. »Was führte Sie zu Ihrem Beruf?« frug ich. »Jesus rief mich!« antwortete sie einfach.

      Es fing an zu dämmern. Die Straßen schrumpften zusammen, während die Menschenmassen unheimlich anschwollen. In ihrer Kleidung schienen die Farben mehr und mehr zu erlöschen, und die Unterschiede zwischen Alter und Jugend verwischte ein gleichmäßiger Ausdruck, zwischen Leid, Stumpfsinn und Gemeinheit schwankend. Kinder keuchten mit Säcken beladen über die Gassen — »Heimarbeiter«, bemerkte meine Begleiterin lakonisch —, an den Rinnsteinen hockten andere in langen Reihen, und wühlten mit schmutzstarrenden, mageren Fingerchen im Straßenkehricht. Ein kleiner Bub mit krummen Beinen wollte sich eben heimlich mit dem gefundenen Rest einer Banane aus dem Kreis der Gefährten davon schleichen. Ein triumphierendes Grinsen verzerrte sein Gesichtchen. Aber schon fielen die anderen wutheulend über ihn her und rissen ihm die fadenscheinigen Lumpen von dem armen rhachitischen Körper. Er weinte nicht, er duckte sich nur ein wenig und versuchte die zertretene Banane vom Pflaster abzukratzen, aus seinen verschwollenen Augen traf mich dabei ein Blick voll grenzenloser Verzweiflung.

      Wir bogen in eine langgestreckte schmale Sackgasse ein. »Nehmen Sie sich in acht,« warnte meine Begleiterin, als wir in eines der offenen Häuser traten, »die Treppen haben keine Geländer.« Ich tastete mich hinter ihr vorwärts, während ein pestilenzialischer Geruch mir den Atem benahm. Wir stießen eine Türe auf, die weder Griff noch Schlüssel hatte. Ein schwerer grauer Dunst von Staub und Schweiß schlug uns entgegen, gespensterhaft bewegten sich die Gestalten der Bewohner dahinter, während das Rattern und Quietschen schlecht geölter Nähmaschinen jeden anderen Ton verschlang. Dicht aneinandergedrängt saßen Männer und Frauen um den Tisch, auf dem ein kleines Lämpchen vergebens versuchte, spärliches Licht zu verbreiten; an dem einzigen Fenster standen die Maschinen, von zwei Kindern in Bewegung gesetzt. Keines der dunkeln Köpfe hob sich bei unserem Eintritt. Nur als mein Kleid eine der Frauen streifte, sahen ein paar schwarze Augensterne mich prüfend an. »Russische Juden,« sagte meine Begleiterin und wandte sich dem finstersten Winkel des Zimmers zu. Eine durchsichtig weiße Hand streckte sich ihr entgegen. »Er ist schwindsüchtig,« flüsterte sie. Zögernd trat ich näher. In einem armseligen Bett, mit Haufen bunter Stoffreste statt mit Kissen gefüllt, lag ein Mann, das blasse durchgeistigte Antlitz von schwarzen, langen Haaren umrahmt; strahlend richteten sich seine fieberglänzenden Augen auf das junge Mädchen, aber die Milch, die sie aus ihrem Körbchen nahm, enttäuschte ihn; erst als sie ein kleines Buch in seine schlanken Finger legte, lächelte er sie dankbar an. »Ich habe auch wieder ein Gedicht geschrieben —,« sagte er und zog einen Fetzen Zeitungspapier aus den Lumpen hervor, am Rande dicht bekritzelt.

      »Nicht einmal Knöpfe kann er mehr annähen,« tönte eine rohe Stimme neben uns. »Wenn es doch bald zu Ende wäre, — gestern spuckte er Blut auf ein fertiges Hemd —«

      Ich mußte mich einen Augenblick schwindelnd an den Pfosten des Torweges lehnen, als wir hinunterkamen. Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Unter der nächsten Türe stand ein Mädchen mit entblößter Brust und sprühenden Augen. »Marianne!« — Vorwurfsvoll tönte die Stimme meiner Begleiterin. Ein rauhes Lachen antwortete ihr. »Ich will leben!« stieß das Mädchen zwischen den Zähnen hervor. — »Leben!« — wiederholte sie noch einmal mit einem langgezogenen Nachtigallenton. Wir gingen an ihr vorbei in die niedrige Stube; eine verrostete Eisenbettstelle, ein paar Kisten bildeten die ganze Einrichtung. Am Herd in der Ecke stand ein altes Weib mit den gedunsenen Zügen der Trinkerin, auf dem feuchtglänzenden Lehmboden kroch eine Schar kleiner Kinder. Meine Begleiterin hatte gerade begonnen, einem der kleinsten die wunden Füßchen zu verbinden, da sprang unter wüstem Gekreisch die Türe auf: — das Mädchen von


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