Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre. Braun Lily

Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre - Braun Lily


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Tisch. Wahrhaftig: hier hatten die Strahlen der sozialistischen Sonne aus ödem Land neues Leben hervorgerufen.

      In den Versammlungen der Fabier, die ich von da an regelmäßig besuchte, wurden theoretische und praktische Fragen des Sozialismus von allen Seiten beleuchtet und erörtert. Jene Scheu, zu sagen, was man denkt, die die Menschen überall schwach und klein macht, wo religiöser, sittlicher oder politischer Fanatismus die Wahrheit an sich zu besitzen vorgibt, schien hier verschwunden, und mir war, als fiele Licht auf den Weg, den ich zu gehen hatte.

      »Es ist nicht wahr, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, — es ist nicht wahr, daß der Klassenkampf das Grundelement der sozialistischen Bewegung ist, — es ist nicht wahr, daß die Entwicklung des Sozialismus mit der Sicherheit eines Naturgesetzes notwendig zur Expropriation der Expropriateure führen wird ...« Eine überschlanke Gestalt stand auf der Rednertribüne, mit schmalem, gelblich blassem Gesicht, in das weiche blonde Haare wirr hineinfielen. »Es waren und sind die revoltierenden Söhne der Bourgeoisie selbst — Lassalle, Marx, Liebknecht, Morris, Hyndman, Bax — alle, wie ich, Bourgeois mit Mischung von Kavaliersblut, die die rote Fahne entfalteten. Der Hunger der Armen treibt zur Revolte, der Geist allein zur Revolution ...« Wie Hochverrat an den grundlegenden Dogmen des Sozialismus klang mir, was dieser Mann hart und scharf in den Saal hinausschleuderte. Aber ein Ton blieb mir hartnäckig im Ohr und weckte etwas in mir, das stark und stolz war. In selbstentsagender Askese hatte ich mich, ein schlichter Soldat, als mein Lebensglück zusammenbrach, in den Dienst der Partei stellen wollen. Kraft und Jugend kehrten mir wieder: sollte ich nicht fähig sein und berufen, dem Sozialismus den Urwald erobern zu helfen, den alle Giftpflanzen des Vorurteils und des Stumpfsinns noch üppig durchwucherten?

      Ich suchte des Redners Bekanntschaft. Es war Bernard Shaw, der Theaterkritiker der Saturday Review, der Entdecker Ibsens und Richard Wagners nicht nur für England, sondern für den Sozialismus, der bissige Spötter, von dessen Witzen die englische Gesellschaft nie recht wußte, ob sie über sie lachen, oder sich vor ihnen fürchten sollte. Mich verlangte nach einer Erklärung dessen, was er in lapidaren Sätzen eben vor mich hingestellt hatte.

      »Sie waren draußen in Letshfield?« frug er mich statt aller Antwort. »Und haben die Bewohner in ihren Heimen gesehen? ... Natürlich auch bewundert?!« Ich nickte. »Und nicht bemerkt, wie drastisch solch eine Miniatur-Zufriedenheitsexistenz lehrt, daß der Arbeiter in seiner Masse nichts mehr verlangt, als ein Bourgeois zu werden!«

      »Ist es nicht auch das wünschenswerteste Ziel, ihn zunächst wenigstens satt zu machen?« warf ich ein.

      »Sicherlich, denn Armut ist ein Laster —, wenn nur die satt gewordenen nicht am raschesten derer vergessen würden, die noch immer hungern. Im Grunde sind die Arbeiter das konservativste Element im Staat, und wir Freigelassenen der Bourgeoisie sind dazu da, sie aufzurütteln.«

      Der Kreis der Fabier war von nun an derjenige, der mich am meisten anzog, aber die politischen Ereignisse auf der einen, und jenes Gefühl der Unfreiheit auf der anderen Seite, das mit der Annahme auch der weitherzigen Gastfreundschaft untrennbar verbunden ist, rissen mich wieder nach anderen Richtungen fort. Die Abstimmung über eine an sich unbedeutende Militärfrage führte zu einer Niederlage der Regierung und damit zum Rücktritt des Ministeriums. Eine Erregung, die sich vom Parlament aus mit Windeseile auf alle Straßen fortpflanzte, die Gesichter der überall in Gruppen Zusammenstehenden höher färbte und alle Augen blitzen ließ, bemächtigte sich der Londoner. Sie steigerte sich zur Fieberhitze an jenem Abend in Albert-Hall, wo sich die Menschenmassen vom Parterre dieses Riesenzirkus bis hoch unter die Kuppel zusammendrängten und die gestürzten Minister Rosebery und Harcourt in die vom Atem Tausender und der zitternden Glut des Julitages lebendigen Luft gegen die neue Regierung leidenschaftliche Anklagen erhoben. Selbst die Nachmittagstees des londoner Westens gestalteten sich zu Agitationsversammlungen. Die Leidenschaft des Hasardspielers schien alle ergriffen zu haben, und gespannt, als gelte es dem Einsatz der ganzen Existenz, hingen die Blicke an der rollenden Roulettekugel des Wahlkampfes.

      Eines Morgens atmete ich wie erlöst aus einem Banne auf, als ich nicht mehr in dem eleganten Zimmer von Princes Gardens erwachte, wo dichte gelbseidene Vorhänge mir stets die Sonne vorgetäuscht hatten und das blitzende Messinggestell meines Betts mich oft selbst unter der Daunendecke frösteln machte. Hinter weißen Mullgardinen sah ich jetzt grüne Zweige schaukeln, und in einem Bett aus warm getönten hellem Holz hatte ich traumlos geschlafen. Es waren Deutsche von Geburt, Engländer aus freier Wahl, die mich für die letzte Zeit meines londoner Aufenthaltes zu sich in ihr Künstlerheim geladen hatten. Jedes Möbelstück, jeder Teppich und jede Vase standen in den schönen lichten Räumen des Hauses in feiner Harmonie zueinander, nur die Gemälde an den Wänden schienen sie mißtönig zu zerstören, und in dem großen Atelier schrieen sie förmlich. Bilder des Elends waren es, des Hungers und der Verzweiflung, Bilder des Krieges, auf denen von Wunden grauenvoll Zerrissene die Hände krampfhaft gespreizt oder wütend geballt gen Himmel streckten. Der Hausherr malte sie und nichts als sie, — ein milder, gütiger Mann mit grauem Patriarchenbart und den Augen eines Jünglings. Wo immer das Leid der Kreatur zum Ausdruck kam, war sein Herz und sein Interesse, von der Friedensbewegung an bis zur Tierschutzbewegung. Er gehörte zu den Menschen, die überall im einzelnen helfen und wirken wollen, wie der ungelernte Gärtner, der da und dort einem armen Pflänzlein durch künstliche Nahrung oder durch den stützenden Stab aufhelfen will, aber bei all seinem aufreibenden Eifer nicht steht, daß der ganze Boden schlecht ist. Sein weißblondes zartes Frauchen lächelte oft ganz heimlich, wie eine kleine Mutter zu den Spielen ihres Kindes, die sie mit der Weisheit der Erwachsenen nicht stören will.

      Ihr Haus übte eine magnetische Anziehungskraft auf Alles aus, was abseits der großen Heerstraße ging. Shaw traf ich hier wieder als häufigen Gast; Peter Krapotkin gehörte zu den Intimen des Hauses, — der große Revolutionär, der doch ein Kind war: gut und vertrauensselig und voll phantastischer Träume wie ein solches. William Stead, dessen rücksichtsloser Kampf gegen die sittliche Fäulnis der londoner Gesellschaft ihm einen europäischen Ruf verschafft hatte, begegnete mir hier zum erstenmal und zog mich in den Bannkreis seiner starken Persönlichkeit. Seine Augen, deren opalisierende Lichter wie durch geheimnisvoll darüber gebreitete Schleier schienen, übten eine faszinierende Wirkung aus, und wenn er von seinem Verkehr mit den Geistern Abgeschiedener erzählte, wenn er von den Kräften der Seele sprach, die unerweckt auch in mir schlummern müßten, so bedurfte ich der ganzen Nüchternheit meines Verstandes, der ganzen Stärke meiner fanatisch materialistischen Weltanschauung, um mich seinem Einfluß zu entziehen.

      »Ich will mich nicht mit Problemen beschäftigen, die mich von dem Problem ablenken könnten, dessen Lösung meine einzige Aufgabe ist: dem des Elends in der Welt ...« antwortete ich ihm eines Tages, als er mich mit Annie Besant bekannt machen wollte, die sich eben vom Sozialismus abgewandt hatte und zur begeisterten Verkünderin theosophischer Ideen geworden war. »Mögen andere heute, wo die Zeit drängt, es vor sich selbst verantworten, wenn sie ihren Träumen nachhängen...«

      »Sie werden nie mehr träumen?!« Mit einem Blick und einem Lächeln begleitete Stead seine Frage, die mir das Blut in die Wangen trieben. Er nahm meine beiden Hände zwischen die seinen — Hände, die in ihrer Kraft und ihrer Weiche zum Schützen wie zum Streicheln gleich geschaffen waren —, und seine Augen bohrten sich in meine Züge.

      »Ich liebe Ihre Tapferkeit und Ihre Klugheit, aber was mich Ihre Freundschaft suchen ließ, das ist Ihr unbewußtes Ich, das sind Ihre Träume, die Sie vergessen, wenn Sie wachen, von denen mir aber noch Ihre Augen erzählen, — das ist die tiefe Sehnsucht, die Ihr Wesen über sich selbst hinauszieht.«

      Ich fuhr an jenem Tage mit ihm hinaus nach Wimbledon, wo sich zwischen hohen Hecken und alten Bäumen sein kleines, stilles Haus versteckte. Und im verwilderten Garten unter dem schattenden Laubdach duftender Linden lag ich in der Hängematte und ließ mir von ihm die Kissen unter den Kopf schieben.

      »Sie sind müde?«

      »Sehr!«

      »Ihr Leben ist Seelen-Selbstmord.«

      Seine Hand glitt sanft über meine Stirn. Viele bunte Schmetterlinge gaukelten über ein Meer gelber Blumen, und zwei Libellen tanzten über dem kleinen stillen


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