Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre. Braun Lily
wirklich nicht daran gedacht haben, daß Geld, viel Geld dazu gehört?« Ich nickte lächelnd. »Ich schrieb an einen unserer ernsthaftesten und reichsten Sozialreformer und schickte ihm Ihr Programm. Ich zweifle nicht, daß er die Sache in angemessener Weise finanzieren wird.«
Ich versuchte, ihm zu danken; es kam vor tiefer innerer Erregung ungeschickt und hölzern heraus.
»Lassen Sie doch diese Formalitäten!« sagte er. »Wenn jemand Dank verdient, so sind Sie es, die den Gedanken hatten. Ich bin bestenfalls nichts als sein untergeordnetes Werkzeug.«
Wir sprachen noch lange miteinander. Ich erzählte von allem, was mir seit den letzten Wochen das Herz bewegte, und Leidenschaft und Haß und Liebe brachen durch die Dämme, die Einsamkeit und Zurückhaltung um sie aufgeschichtet hatten.
»Sie sind wie eine Flamme, die lodernd gen Himmel strebt,« flüsterte er wie zu sich selbst.
Als er gegangen war, blieb ich regungslos, die Hände fest ineinandergekrampft, mitten im Zimmer stehen. War das ein Traum gewesen, oder hatte er wirklich hier vor mir gestanden?! In diesem selben Zimmer, wo ich Georg, meinen einzigen Freund, gefunden und verloren hatte?!
Am nächsten Tag gegen Abend kam er wieder.
»Ich bin zudringlich, nicht wahr?« lachte er mir entgegen. »Aber Sie kommen mir vor, wie ein verflogenes Vögelchen, das sich an Scheiben und Wänden den Kopf stößt und einer Hand bedarf, die es fängt und ins Freie läßt.«
»Sie mögen recht haben. Ich bilde mir wohl nur ein, daß ich in Freiheit flöge, und die anderen Leute waren bisher kurzsichtig genug, mich darin zu bestärken, wohl gar zu bewundern —«
Es dämmerte. »Entschuldigen Sie einen Augenblick,« sagte ich und ging hinaus, um die Lampe zu holen. Als ich wiederkam, fand ich ihn über das Manuskript eines Artikels gebeugt, den ich eben vollendet hatte. Ärgerlich wollte ich ihn vom Schreibtisch weg an mich reißen. »Verzeihen Sie —«, fest drückte er die Hand darauf, — »das gehört zu meinem Vogelfang. Wie kommen Sie dazu, dergleichen zu schreiben?!« Ich erschrak vor dem finsteren Gesicht, das er mir plötzlich zuwandte. »'Londoner Gefälligkeit'! Haben Sie nichts Besseres zu tun?!« Sein Blick blieb an der Lampe haften, die ich zitternd auf den Tisch stellte. Seine Stirn glättete sich, forschend sahen die großen grauen Augen mir ins Gesicht.
»Sie müssen sich selbst bedienen? — Sie öffnen mir immer selbst?! —«
Ich senkte einen Augenblick lang den Kopf.
»Wie Sie sehen: ja!« Meine Stimme, die zuerst ein wenig verschleiert klang, wurde klar und fest. »Ich kann mir ein Dienstmädchen nicht halten, und ich muß solche Artikel schreiben, weil ich von meiner Pension nicht leben kann.«
»Verzeihen Sie, — aber wie konnte ich ahnen —« Er sah mir tief in die Augen.
Wir waren von da an täglich zusammen, sei es, daß er mich zu einem Spaziergang abholte, sei es, daß wir uns in der Stadt trafen. Mit tiefer Beglückung empfand ich die zarte Sorgfalt, mit der er mich umgab. Wenn ich jetzt zu den Eltern kam und der Vater in heller Aufregung über die Sozialdemokraten schimpfte, — »lauter Hochverräter, die man hängen sollte«, — so hörte ich nur mit halbem Ohre hin, es verletzte mich nicht; um mich lag es wie ein warmer, kugelfester Mantel, den die Freundschaft um mich geschlungen hatte.
Die Freundschaft! — Ich glaubte an sie, — ich wollte an sie glauben, auch wenn die heißen Wellen meines Herzens mich zu überfluten drohten. »Sie müssen bald einmal mit mir hinauskommen zu meiner Frau und meinen Buben. Sie ist anders wie Sie, — ganz anders, aber klug und gut, — Sie werden einander verstehen,« hatte er mir einmal gesagt. Es kam aber noch immer nicht dazu, und ich drängte nicht danach.
Eines Nachmittags saßen wir zusammen auf dem schmalen Balkon des Kaffee Klose. In weichem, silbernen Sonnenlicht fluteten unter uns auf der Leipziger Straße die Menschen auf und nieder. Ein früher Herbstnebel, zart und duftig wie Feenschleier, spielte um die endlosen Häuserreihen, und es schien, als dämpfte er selbst das Rasseln der Wagen.
»Sehen Sie nur, was ich heute bekam,« damit hielt ich ihm einen Brief entgegen. »Die Wiener Fabier fordern mich zu einem Vortrag auf« — Er nickte erfreut, ich sah ihn von der Seite an. »Ich habe keine Beziehungen in Wien,« fuhr ich nachdenklich fort, »— sollten Sie auch hier meine Vorsehung gewesen sein?!«
»Und wenn dem so wäre?!«
Ich reichte ihm still die Hand. Ganz sanft, als ob sie sehr zerbrechlich wäre, nahm er sie in die seine, — eine zarte Hand mit dichtem Geäder und nervösen Fingern.
»Glauben Sie,« fragte er langsam, nach einem Schweigen, das die Nähe zweier Menschen zueinander verrät, »glauben Sie, daß ein Tag kommen könnte, an dem unsere Freundschaft uns zwingt, einander ›du‹ zu sagen?«
Ein Zittern durchlief meinen Körper. Ich antwortete nicht. Stumm standen wir auf, stumm fuhren wir zu mir nach Hause. Drinnen im Zimmer sahen wir uns an, das Herz schlug mir zum Zerspringen, die Finger erstarrten mir zu Eis.
»Alix —,« wie ein Hauch kam mein Name über seine Lippen.
»Du —,« mehr vermochte ich nicht zu sagen. Es dunkelte mir vor den Augen. Einen Herzschlag lang fühlte ich seinen Mund auf dem meinen, — dann schlug die Türe, — ich war allein.
Und die Wände schienen um mich zu kreisen, und der Glanz der Abendsonne wurde zu glühenden Flammen. Wie Gesang lag es in der Luft von lauter Harfen, — meines Herzens Jubel hatte sie zum Klingen gebracht. In allen Weisen der Welt, im Ton süßer Wiegenlieder und stolzer Siegeshymnen sang und jauchzte es: ich liebe.
Wir verkehrten wie früher miteinander. Nur die Augen wagten es hier und da, eine andere Sprache zu sprechen als der Mund. Ich war mitten im Packen; schon starrten die lieben Räume mich fremd und öde an, als sein Weib kam, mich zu besuchen. Entgeistert sah ich sie an, als sie vor mir stand: sie war hochschwanger.
Rasch warf ich die Kleider vom Sofa und nötigte sie hinein, ihr vorsichtig die Kissen in den Rücken legend. Seine Frau! Sein Kind!! — Der Gedanke bohrte sich mir ins Gehirn, daß es mir den Kopf zu sprengen drohte. Nie, — nie hatte er mir von Liebe gesprochen, dachte ich, während ich gleichgültig freundliche Phrasen mit ihr wechselte, nur immer von Freundschaft. Und dieser Frau vor mir mit den großen, breiten Händen und den stechenden dunklen Augen hatte ich nichts genommen — nichts, was ich nicht nehmen durfte. Denn daß ich ihn liebte, was schadete das ihr?! Und war nicht mein eigenes, großes, wundervolles Gefühl und seine Freundschaft Glückes genug für mich, die ich gelernt hatte, auf alles Glück zu verzichten?
»Wir ziehen im Winter auch in die Stadt,« sagte sie ruhig, »sonst bekomme ich meinen Mann nicht mehr zu sehen —.« War das eine Anspielung? Ihr Gesicht blieb unbewegt. »Übrigens sah ich eben im Hause, wo Sie mieteten, eine Wohnung, die gut für uns passen würde. Das wäre für alle Teile das beste —, und ich hätte doch auch etwas von Ihnen. Könnte auch von Ihnen lernen, was mir leider noch an Verständnis für die Interessen meines Mannes fehlt.« Ich begriff sie nicht; war das echt, was sie sagte, oder lauerte Bosheit dahinter und Mißtrauen? Feuchtkalt lag ihre Hand beim Abschied in der meinen. Die Schleppe ihres seidenen Kleides raschelte hinter ihr her wie eine Schlange. Ich mußte mich ans Fenster in die Sonne stellen, um wieder warm zu werden, nachdem sie mich verlassen hatte.
»Gute Botschaft bringe ich!« Am frühen Morgen, ich saß noch beim Frühstück, trat Heinrich Brandt in mein Zimmer, freudestrahlend. »Die Sache ist entschieden.« Ich griff hastig nach dem Brief, den er brachte und las. »Nach reiflicher Überlegung habe ich mich dahin entschieden, das mir vorgelegte Projekt eines Zentralausschusses für Frauenarbeit insoweit zu unterstützen, als ich zunächst eine Summe von achttausend Mark jährlich dafür aussetze, die, wenn der Umfang der Arbeiten es später notwendig macht, entsprechend gesteigert werden kann. Ich hoffe, Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor, der Sie ja ausdrücklich erklärten, nur die Rolle eines unbeteiligten Vermittlers zu spielen, nicht zu nahe zu treten, wenn ich Sie bitte, Frau von Glyzcinski mitzuteilen, daß die Voraussetzung meiner Unterstützung, von der ich unter keinen Umständen abweiche,