Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre. Braun Lily
meine Hoffnung. Daß ich mich ihnen gab: meinen Arm den Schwachen, meine Beredsamkeit den Stummen, meinen an Gipfelwanderungen gewohnten Fuß den Lahmen, und den Blinden mein Auge, das die Befreiung sah, — das war dieser Stunde stilles Gelöbnis.
»Genossen und Genossinnen —« Hell und scharf, wie ein Schlachtruf, klang meine eigene Stimme mir ins Ohr. Der Jubel der Menge umbrauste mich, während ich weiter sprach. Das blasse Gesicht des kleinen Fabrikmädchens vor mir fing an zu glühen, dem alten Mütterchen rollten die Tränen über die welke Wange und die klassischen Römerzüge des Tirolers strafften sich in eiserner Energie.
Als ich geendet hatte, war es sekundenlang still, — dann eine Beifallssalve, zahllose Händedrücke von schwieligen Fäusten, und lauter und lauter anschwellend der Kriegsgesang der Arbeitermarseillaise. In ihrem Takt schob sich die Menge hinaus, auf der Straße klang sie fort, zog mit den Wandernden rechts und links in die nachtstillen Gassen, und auf dem ganzen Heimweg verfolgte mich ihre Melodie: aufreizend, siegesbewußt.
Einen Tag später als Brandt kam ich nach Berlin zurück. Er empfing mich am Bahnhof, bleicher, übernächtiger als je. Wir fuhren zusammen nach der Kleiststraße, wo wir nun schon zwei Monate wohnten, er mit seiner Familie im Vorderhaus, ich im Gartenhaus, in den zwei kleinen Stübchen. Wir konnten einander an der Mauer mit der Schweizer Landschaft vorbei in die Fenster sehen. Oft, wenn er bei mir gewesen war, tauchte hinter den weißen Vorhängen drüben ein Schatten auf, der mit gespenstischer Schnelle sein Gesicht zu verdunkeln schien. Dann erhob er sich, sah mich kaum an und verließ das Zimmer.
»Rosalie will nicht reisen, mit mir nicht,« erzählte er während der Fahrt. »Sie behauptet, meine Nähe steigere nur ihr Übelbefinden, deshalb habe sie sich entschlossen, allein zu gehen und zwar — nach England.«
»Nach England?« fragte ich erstaunt. »In dieser Jahreszeit?! Hat sie Freunde dort?«
»Niemanden! — Die fixe Idee einer Schwangeren, sagt der Arzt.«
Ich schwieg, auf das tiefste betroffen. Mir, dem Weibe, schien sonnenklar, was ihre Beweggründe waren. Das Recht der Abwesenden wollte sie zur Geltung bringen, und ein instinktives Gefühl trieb sie nach England —, woher ich gekommen war, wo ich, wie sie meinte, mir an Kenntnissen und Interessen erworben hatte, was ihren Mann an mich fesselte.
Der Wagen hielt. »Ich komme gegen Abend hinüber,« sagte ich und verabschiedete mich hastig vor der Haustür. Ich mußte allein sein. Meine Zimmer fand ich mit Blumen geschmückt, wie zu einem Fest. »Der Herr Doktor —,« sagte die Aufwärterin mit süßlichem Lächeln und einem vertraulichen Blick.
»Schon gut —,« unterbrach ich sie hastig und warf die Türe hinter mir ins Schloß.
Was nun?! Sie durfte nicht fort. Wirklich nicht?! Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. War es Furcht? Oder nicht vielmehr Freude — Freude, die wie ein orkangepeitschtes Meer alle Dämme überflutete, alles Denken begrub?! Allein — allein mit ihm — tage-, wochen-, monatelang! Ein ganzes Leben der Entsagung war kein zu teurer Preis dafür! Wenn sie wiederkam, würde ich gehen, — aus seinem Gesichtskreis still verschwinden, — und zu ihr würde er zurückkehren, — zu ihr — und dem Kinde ...
Es klopfte. »Frau Dr. Brandt läßt gnädige Frau zum Abendbrot bitten —« »Ich komme —«
Wir saßen um den gedeckten Tisch: Brandt schweigsam, mit gerunzelten Brauen, die beiden kleinen Knaben — seine Söhne aus seiner ersten Ehe — verschüchtert und ängstlich von einem zum anderen blickend, ich, eine Unterhaltung mühsam aufrecht erhaltend; sie allein schien lustig, fast übermütig, ihre Augen flimmerten, ihre großen weißen Hände, die mir immer vorkamen, als hätten sie ein eigenes Leben, als wären sie junge Raubtiere, — bewegten sich ruhelos, streichend, klopfend, sich dehnend, um sich gleich wieder zur Faust zu ballen, auf dem Tisch. Das Mädchen kam und brachte einen Eiskübel mit einer Flasche Champagner. Brandt sah mißbilligend auf seine Frau. »Wie kannst du, Rosalie, — in deinem Zustand!«
Sie lachte.
»Nur heute, — wo wir ein Fest miteinander feiern und ihr dasitzt wie Ölgötzen und nicht lustig seid, — lustig wie ich! — Trinkt, Kinder, trinkt, so ein Abend kommt nicht so leicht wieder!« Sie stürzte das erste Glas in einem Zug hinunter. Und dann sprach sie unaufhörlich, fieberhaft. Von der Reise, die sie machen werde, von den Herrlichkeiten, die sie dafür schon eingekauft habe — »drei seidene Kleider und Hüte dazu, und einen Rohrplattenkoffer für zweihundert Mark, — mach' keine entsetzten Augen, Heinrich; ich weiß ja, du bezahlst es gern, — so gern!« —, von ihren Träumen. »Ich sehe immer denselben Mann, der mir winkt, zu dem ich hin muß,« — ihre Stimme sank und ihre Augen weiteten sich, daß das Weiße unheimlich groß um die dunklen Pupillen stand — »und der mir helfen wird.«
»Trinken Sie nicht mehr —,« bat ich erschüttert und legte meine Hand auf die ihre, die eiskalt war. Sie schüttelte sie ab wie eine lästige Fliege.
»Sie glauben, ich spräche im Rausch?!« sagte sie. »Sie irren. Ich bin nüchtern, ganz nüchtern, — ich weiß nur mehr als Sie, viel mehr, und — und ich glaube an Träume!«
»Bist du denn nicht eifersüchtig auf deinen Rivalen, zu dem ich reise?« Damit wandte sie sich mit einem lauernden Blick aus halb geschlossenen Augen an ihren Mann.
»Rosalie!« stöhnte er gequält. Rasch stand ich auf. Ich konnte die Blicke der Kinder nicht mehr ertragen.
»Es ist schon zu spät für euch,« redete ich sie an und griff nach ihren Händen, »kommt, — ich bring' euch zu Bett.« Sie lachten dankbar.
»Ach, Tante, bring uns doch immer zu Bett!« flüsterte der Älteste, als er in den Kissen lag, und seine melancholischen Zigeuneraugen sahen mich flehend an. »Und morgen, bitte, bitte, erzähl uns eine Geschichte,« fügte der Jüngste hinzu und richtete sich im Bett noch einmal auf.
Indessen war es im Wohnzimmer zu einer heftigen Szene gekommen. Rosalie lag schluchzend auf dem Diwan. »Er will mich nicht reisen lassen, er will mich umbringen, — mich und das Kind,« schrie sie. »So mäßige dich doch, um Gottes willen!« beschwor sie Brandt mit einem Blick auf die Glastür, hinter der sich der Schatten des Mädchens hin und her bewegte. Sie achtete nicht auf ihn, ihre Stimme wurde nur noch lauter und heftiger. »Ich halte es nicht mehr aus, — ich mag deine Bevormundung nicht, und deine schlechte Laune. Ich laufe davon —« Und ihr Schluchzen wurde zum Weinkrampf.
Der Arzt wurde geholt. »Sie müssen ihrem Willen nachgeben, wenn Sie nicht das schlimmste riskieren wollen,« entschied er schließlich. »Natürlich darf sie nicht ohne Pflegerin reisen, — ich kann Ihnen eine empfehlen, auch eine gute deutsche Pension in London.«
Schon am nächsten Morgen kam Rosalie zu mir, um Abschied zu nehmen. Sie war völlig verwandelt, weich, freundlich, ruhig. Es war fast ein strahlendes Lächeln, mit dem sie mir im Weggehen sagte: »Nun weiß ich gewiß: Alles — Alles wird gut werden.«
Wie unter dem Zwang einer stillschweigenden Verabredung sahen Brandt und ich uns in der nächsten Zeit selten und nie allein. Ich aß drüben bei ihm mit den Kindern, nahm sie mit bei meinen Ausgängen und sorgte für sie, soviel mir an Zeit dafür übrig blieb. Mit wehmütiger Freude sah ich, wie sie täglich mehr an mir hingen und mit all ihren kleinen Wünschen und Kümmernissen zu mir kamen. Weihnachten stand vor der Tür. »Einen richtigen Weihnachtsbaum machst du uns, Tante, nicht wahr?« bettelte Wölfchen, der Jüngste. »Im vorigen Jahr war er man soo klein.« »Ich möchte am liebsten zur Mutter fahren, — wie ganz früher,« meinte Hans, der Älteste, und seine Augen schimmerten feucht. »Zur Mutter —?!« staunte ich.
»Nun ja, du weißt doch, unsere richtige Mutter wohnt weit, weit weg in Wien,« plauderte Wolf; »sie ist immer krank. Aber im Sommer, da dürfen wir sie besuchen, wenn sie in Schruns ist oder in Klobenstein —« »Die Rosalie ist gar nicht mit uns verwandt, aber auch gar nicht,« unterbrach ihn Hans eifrig, und mit einem fragenden Blick auf mich fuhr er zögernd fort: »Unsere Marie sagt, sie kommt nicht wieder und — und du bleibst bei uns?!«
Ich blieb ihm die Antwort schuldig.