Die vergessene Schuld. Stefan Bouxsein

Die vergessene Schuld - Stefan Bouxsein


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Unsere Köpfe berührten sich, so dicht saßen wir vor dem Stück Papier.

       »Du bist wirklich gut«, sagte Melanie, als ich mit meinen Ausführungen fertig war. Sie deutete auf eine Zeile, wo ich die Formel umgestellt hatte. »Da wäre ich nie draufgekommen«, seufzte sie. »Du wärst bestimmt bald draufgekommen, du warst ja schon ganz nah dran und bist doch ein kluges Köpfchen.« Ich legte meinen Arm um ihre Schultern. »Ich finde es schön, mit dir hier zu sitzen«, wechselte ich das Thema und damit zu meinem zweiten Spezialgebiet. Melanie verkrampfte leicht, als mein Arm ihre Schultern berührte. »Hast du schon eine Vorstellung, was du nach dem Studium machen möchtest?«, fragte ich sie und ließ meinen Arm locker um ihre Schultern liegen.

       »Mein Vater hat ein Architekturbüro. Er führt es zusammen mit meinem Onkel. Dort soll ich eigentlich einsteigen. Genauso wie mein Bruder Max und meine Cousine Julia und deren Bruder Robert. Aber ich glaube nicht, dass das funktionieren wird. Vielleicht gehe ich nach dem Studium erst mal für ein Jahr nach New York.«

       »Warum sollte das nicht funktionieren? Ihr versteht euch doch alle gut, oder?« Melanie öffnete sich langsam und entspannte sich. Sie sank in meinen Arm und erzählte mir aus ihrem Leben.

       »Privat verstehen wir uns ganz gut, ja. Aber da haben wir auch nicht so viel miteinander zu tun. Julia hat auch keine große Lust auf einen Einstieg in das Büro. Jedenfalls nicht direkt nach dem Studium. Sie macht sich da aber nicht so viele Gedanken wie ich. Sie lässt einfach alles auf sich zukommen und trifft spontane Entscheidungen. Aber sie will dann auch erst mal ins Ausland. Mein Bruder Max wird wahrscheinlich den direkten Weg in unser Büro nehmen. Aber er und Robert sind ziemlich verschieden. Da ist Streit schon vorprogrammiert.«

       »Robert kenne ich zwar nur flüchtig, aber er ist ein komischer Typ«, sinnierte ich vor mich hin.

       »Er ist ein schwieriger Typ«, korrigierte Melanie mich. »Mein Onkel sieht ihn schon als alleinigen Geschäftsführer in unserem Büro. Mein Vater hält aber nicht sehr viel von ihm. Der glaubt, dass Max einmal die Geschäfte führen wird. Das wird leider noch viel Streit geben in den nächsten Jahren.«

       »Wahrscheinlich bist du die beste Wahl für die Clanchefin«, sagte ich und erntete dafür ein scheues Lächeln.

       »Dann müsste ich meinen Hut in den Ring werfen und kämpfen. Da gehe ich lieber nach New York, arbeite ein paar Jahre in einem renommierten Architektenbüro und falls es irgendwann in unserem Büro nicht so gut laufen sollte, komme ich als Retterin des Familienunternehmens zurück.«

       »Wie in einem Märchen«, sagte ich. Mein Arm lag noch immer um Melanies Schultern und mit meiner Hand berührte ich nun ganz sanft ihre Brust. Wir saßen ganz allein in der Ecke des kleinen Cafés. Melanie schaute mich verwirrt an. Ich lächelte verlegen und drückte meine Hand etwas fester auf ihre Brust. »Ich kann nicht anders«, entschuldigte ich mich. Im gleichen Moment trafen sich unsere Lippen zu einem kurzen Kuss.

      Siebels betrat die Wohnung von Jana Mangold. An jeder Türschwelle blieb er stehen und betrachtete sich den jeweiligen Raum. Er begutachtete das Chaos, das überall herrschte, und versuchte sich vorzustellen, wie der Eindringling vorgegangen war. Ob er hastig und oberflächlich die Schrankinhalte durchsucht und einfach alles kurzerhand aus den Schränken auf den Fußboden geschmissen oder ob er sich Zeit gelassen hat. Ob er gründlich und systematisch vorgegangen ist oder eher panisch. Siebels hatte den Eindruck, dass eher Letzteres der Fall war. Er stand an der Türschwelle zum Schlafzimmer. Unterwäsche, Röcke, Nylons, T-Shirts und andere Klamotten lagen verstreut auf dem Boden. Teilweise auch auf dem Bett und auch auf der Fensterbank. Siebels ging zum Kleiderschrank und öffnete die Türen und Schubläden. Der Schrank war nur teilweise ausgeräumt worden. Es lagen auch noch viele Kleidungsstücke darin. Einige sogar noch ordentlich zusammengelegt. Der Eindringling schien unter enormem Zeitdruck gestanden zu haben. Siebels fragte sich, warum. Weil er Jana Mangold bei der Durchsuchungsaktion jeden Moment zurückerwartete? Hatte jemand unten an der Haustür Wache gestanden, um ihn zu warnen, falls Jana Mangold auftauchen würde? War sie aufgetaucht? Hatte sie ihn in ihrer Wohnung überrascht? Wurde sie daraufhin entführt? Oder kam sie erst in ihre Wohnung zurück, nachdem er seine Durchsuchung beendet hatte, und hat sich dann aus dem Staub gemacht? Weil sie wusste, wer da etwas bei ihr gesucht hat? Wenn dem so war, gab es für Siebels jetzt nichts mehr zu finden. Falls der Eindringling nicht gefunden hatte, was er suchte, dann hatte Jana Mangold es mitgenommen. Siebels suchte trotzdem. Er drehte jedes noch verbliebene Kleidungsstück im Schrank um, befühlte jedes Teil und schaute in den hintersten Ecken nach. Er schaute unter der Matratze nach und unter dem Bett. Er befühlte alle Kleidungsstücke, die auf dem Boden lagen, und suchte in den Hosen- und Jackentaschen nach einem Treffer. Er fand nichts außer benutzten und unbenutzten Papiertaschentüchern und einigen Kassenbons aus dem Supermarkt. Siebels setzte seine Suche im Wohnzimmer fort. Akribisch durchsuchte er zuerst alles, was bereits zerstreut auf dem Fußboden lag. Er fand nichts von Belang. Frauenzeitschriften, alte Batterien, Bedienungsanleitungen vom Fernseher, vom Föhn, vom Küchenradio, vom Damenrasierer. Einige Postkarten, die ihr von Freundinnen aus dem Urlaub geschickt worden waren. Eine davon kam aus Paris und stammte von Britta Hübner, der netten Nachbarin. Gehaltsabrechnungen aus dem Seniorenheim, der Sold für die Pflege der alten Menschen war gering. Bankauszüge, die Siebels genauer studierte. Er fand keine Auffälligkeiten. Der Eindringling war im Wohnzimmer genauso vorgegangen wie im Schlafzimmer. Einen Teil der Schrankinhalte hatte er auf den Boden geschmissen, einen Teil aber noch in den Schränken belassen. Siebels fand eine Schatulle mit Schmuck. Wahrscheinlich Erbstücke. Jedenfalls war es kein Modeschmuck und auch nichts, was sich eine junge Frau wie Jana Mangold kaufen würde. Ein erster Hinweis auf ihre Mutter. Siebels suchte nach weiteren Hinweisen, die auf Mutter oder Vater von Jana Mangold hindeuteten. Er schlug ein Foto-Album auf. Dunkelbraunes, fleckiges Leder. Es war dünn. Alte schwarzweiß Fotos kamen zum Vorschein. Ein junger Mann saß lächelnd hinter seinem Schreibtisch. In der Hand einen Füllfederhalter. Siebels erkannte Otto Silber. Den jungen Otto Silber. Er war vielleicht dreißig Jahre alt. Siebels nahm das Bild heraus und betrachtete sich die Rückseite. 5. Juni 1960. Zwei Monate bevor Juliane Mangold erschlagen wurde. Auch die nächsten Bilder zeigten Otto Silber, wie er als stolzer Inhaber eines Architekturbüros hinter seinem Schreibtisch saß. Siebels vermutete, dass Juliane Mangold die Bilder aufgenommen hatte. Erst auf der letzten Seite kam ein Foto, auf dem nicht Otto Silber, sondern eine Frau abgelichtet war. Sie stand kerzengerade vor einem Fenster. Von der Seite fotografiert, den Kopf zur Kamera gedreht. In Pose. Juliane Mangold posierte vor der Kamera im Büro ihres Geliebten. Siebels schaute sich das Foto der Frau noch einmal genau an. Verglich es in Gedanken mit den Gesichtszügen von Jana Mangold und Almut Silber. Die Frau auf dem Foto hatte Ähnlichkeit mit Jana Mangold, nicht mit Almut Silber. Warum sonst sollten sich diese Fotos auch im Besitz von Jana Mangold befinden, fragte sich Siebels. Er steckte das Foto der vermeintlichen Juliane Mangold ein und suchte weiter nach Hinweisen von Jana Mangolds Herkunft. Juliane musste ihre Großmutter sein. Siebels hatte immer noch keine Spur von Janas Mutter. Er suchte die Mappen und Ordner nach einer Geburtsurkunde und einem Stammbaum ab, konnte aber nichts finden. Ebenso wenig fand er einen Computer in der Wohnung. Auf den Kontoauszügen hatte er aber regelmäßige Überweisungen an einen Internetprovider gesehen. Im Flur hing ein WLAN-Router an der Telefonbuchse. Siebels setzt sich auf den Fußboden vor die zerstreuten Unterlagen und durchsuchte den Stapel mit den Bedienungsanleitungen. Darunter war auch eine Garantiekarte vom Hersteller eines Laptops. Siebels suchte weiter nach dem Laptop. Konnte ihn aber weder im Wohnzimmer, noch im Flur, in der Küche oder im Bad finden. So, wie die Wohnung durchwühlt worden war, hatte der Eindringling nicht unbedingt nach einem Laptop gesucht. Für Siebels ein Hinweis, dass Jana Mangold sich mit ihrem Laptop abgesetzt haben könnte. Siebels notierte sich den Internetprovider aus den Kontoauszügen und rief dann bei Till an. Till war nach seinem Besuch bei Otto Silber gerade wieder im Büro eingetroffen.

      »Hast du dich mit dem alten Knaben gut unterhalten?«, fragte Siebels neugierig.

      »Habe ich. Gar kein Problem. Er war sehr gesprächig und ist bis zum Schluss friedlich geblieben.«

      »Und? Irgendwelche neuen Erkenntnisse?«

      »Kann man wohl


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