Die vergessene Schuld. Stefan Bouxsein

Die vergessene Schuld - Stefan Bouxsein


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war eine ganz schlimme Sache«, ging Till auf ihn ein. »Aber als die Juliane tot war, da gab es doch noch ihre kleine Tochter. Die Silvia, die war doch erst zwei Jahre alt.«

      »Nein, nein«, wehrte Otto Silber ab. »Die Juliane hatte doch keine Tochter. Wer erzählt denn so was?«

      Till schaute dem alten Herrn verwundert in die Augen. Otto Silber schien sich ganz sicher zu sein, dass seine Juliane keine Tochter hatte. Das war keine Erinnerungslücke, das war felsenfeste Überzeugung. Till unternahm noch einen zweiten Versuch. »Haben Sie die Juliane denn auch mal zuhause besucht, in ihrer Wohnung?«

      »Das ging doch nicht«, stellte Otto Silber fest. »Die Juliane lebte doch mit ihrer kranken Mutter zusammen. Da konnte sie doch keinen Mann mitbringen.«

      Till runzelte die Stirn. Der alte Mann schien einer Lüge aufgesessen zu sein, an der er sich sein ganzes Leben lang festgeklammert hatte. Alles, an was er sich jetzt noch gut erinnern konnte, war vielleicht nur Fiktion. »Wo haben Sie sich denn getroffen, wenn Sie mit der Juliane, na, Sie wissen schon.« Till zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

      Otto Silber huschte ein Lächeln über die Lippen. Er schaute sich in dem großen Raum um, wollte sichergehen, dass ihn niemand von seinen Mitbewohnern belauschte. Dann beugte er sich zu Till vor. »In meinem Büro«, flüsterte er. »Ich habe mir ein Sofa ins Büro gestellt.« Dann setzte er sich wieder mit aufrechtem Kreuz hin und nickte stolz.

      Jetzt beugte sich Till zu ihm vor und flüsterte: »Ihre Frau hat davon aber nie etwas bemerkt, oder?«

      Otto Silber winkte verärgert ab. »Die hat doch nur ans Geld gedacht. Da war die Juliane ganz anders.«

      Hartmut Silber saß in seinem Büro an seinem Schreibtisch. Er starrte auf ein Bild von Robert, das er auf die Mitte des Schreibtisches gestellt hatte. Seit einer halben Stunde saß er regungslos da und betrachtete das Porträt seines Sohnes. Viele Gedanken gingen durch seinen Kopf, aber er konnte keine klaren Gedankengänge verfolgen. Er stellte sich Fragen, ohne Antworten zu finden. Fragte sich, ob er eine Mitschuld am Tod seines Sohnes hatte. Fragte sich, ob Robert eine Ahnung gehabt hatte, dass sein Leben in Gefahr war. Fragte sich, was seine Frau nun durchmachte, tief in ihrem Innersten. Dann hatte er wieder Bilder im Kopf. Bilder von einem glücklichen Robert, als er noch ein Kind war. Bilder von einem nachdenklichen Robert, als er nach dem Sinn in seinem Leben suchte. Bilder von einem verstörten Robert, als er erfahren hatte, dass sein Vater nicht nur der war, den er bisher kannte.

      »Du quälst dich.«

      Hartmut Silber sah seinen Bruder an, der im Türrahmen stand.

      »Ich habe meinen Sohn verloren.« Hartmut Silber nahm den Bilderrahmen in die Hand und streichelte sanft über das Gesicht seines Sohnes.

      Hermann Silber kam in das Büro und setzte sich auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch seines Bruders. »Hat Robert dir etwas von unserem Plan erzählt?«

      Hartmut Silber bekam einen misstrauischen Gesichtsausdruck. »Von welchem Plan?«

      »Vergiss es wieder. Du kannst stolz auf deinen Sohn sein. Er hat um dich gekämpft.«

      Hartmut schaute seinen Bruder mit traurigen Augen an. »Was willst du mir damit sagen?«

      »Das wirst du bald erfahren. Aber nicht jetzt. Jetzt solltest du dich um Eva und Julia kümmern. Die beiden brauchen dich und du brauchst sie.«

      Hartmut nickte »Ich habe Angst um die beiden.«

      »Wir dürfen jetzt keine Angst haben. Wir müssen handeln. Wir müssen das alles jetzt endlich beenden. Ein für all Mal.«

      »Du wirst es nicht glauben, aber das hatte ich vor. Ich hatte einen Entschluss gefasst. Allerdings nicht so, wie du dir das vorstellst.«

      »Robert ist tot, vergiss das nicht. Er wurde erschlagen wie ein Straßenköter. Ich werde das elende Geflecht, in dem du gefangen bist, endgültig zerschlagen.«

      »Ich weiß nicht, wovon du redest«, zischte Hartmut Silber und sah seinen Bruder verächtlich an. »Ich habe mich schon viel zu lange von dir herumkommandieren lassen. Kümmere du dich um deine Sachen, ich kümmere mich ab sofort um meine.«

      Hermann schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Du weißt doch gar nicht, wer du eigentlich bist. Mutter hatte ganz recht. Du wirst niemals zur Vernunft kommen.«

      »Das hat Mutter gesagt? Habt ihr zwei schon wieder etwas hinter meinem Rücken ausgeheckt? Ich warne dich, wenn auch Eva oder Julia etwas passiert, dann mache ich dich und Mutter dafür verantwortlich.«

      Hermann Silber stand auf und ging um den Schreibtisch herum. Er stellte sich hinter seinen Bruder und legte seine Hände auf dessen Schultern. »Hartmut, du trauerst um deinen Sohn und du sorgst dich um deine Tochter und um Eva. Das ist gut. Vergiss einfach, was ich gesagt habe. Ich kümmere mich um die Sache. Sei einfach vorsichtig, wenn diese Polizisten kommen und Fragen stellen.«

      »Ja, du kümmerst dich. Du und Mutter. So wie ihr euch immer um alles gekümmert habt. Es wäre für uns alle besser, wenn ich mich allein um die Sache kümmere.«

      Hermann Silber ging wieder um den Schreibtisch herum, stellte sich auf die andere Seite, beugte sich über den Tisch zu seinem Bruder und hielt ihm drohend den Zeigefinger entgegen. »Du hältst dich jetzt aus allem raus. Es ist schon schlimm genug, dass du Robert da so tief mit hineingezogen hast. Ich werde nicht zulassen, dass wegen dir alles auseinanderbricht.«

      Hartmut Silber sprang von seinem Stuhl hoch. »Hau ab«, schrie er seinen Bruder an. »Raus hier oder ich haue dir eins in die Fresse«, stieß er wütend hervor.

      Hermann hob beschwichtigend die Hände. »Ich tue das nur für dich. Mutter denkt genauso.«

      »Ja, Mutter denkt genauso. Wir hätten Mutter ins Heim stecken sollen und nicht Vater. In Mutters Kopf ist viel mehr kaputt als bei Vater.«

      Hermann schaute seinen Bruder ärgerlich an, schüttelte verständnislos den Kopf, winkte ab, verließ das Büro und ließ die Tür mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss fallen.

      7

       76 Tage vor Roberts Tod

       Melanie saß allein an einem Tisch in der Bibliothek und brütete über einem Fachbuch. Ich beobachtete sie eine kurze Weile, stand dabei hinter einem der vielen Bücherregale und spähte durch einen kleinen Spalt zwischen den Bücherreihen zu ihr hinüber. Melanie war hochkonzentriert und bemerkte weder mich noch sonst irgendetwas um sie herum. Sie machte sich Notizen mit einem Bleistift. Wenn sie las, knabberte sie an dem Bleistift herum. Ich versuchte sie zu analysieren, während ich meinen Blick nicht von ihr ließ. Sie war ein introvertierter Typ. Sie ruhte in sich selbst. Geduldig las sie in dem Buch, blätterte ein paar Seiten zurück und wieder vor, machte sich Notizen, dachte nach. Sie beschäftigte sich mit einer Sache, bis sie sie verstanden hatte. Sie verinnerlichte den Stoff und verließ sich dabei ganz auf ihren Verstand. Andere Studenten schauten mit verzweifelten Blicken umher oder gegen die Decke, wenn sie etwas nicht nachvollziehen konnten. Manche fluchten vor sich hin, andere beschäftigten sich lieber gleich mit etwas ganz anderem. Nicht so Melanie. Es war daher auch nicht verwunderlich, dass sie mit ihren Arbeiten immer überdurchschnittliche Noten erzielte. Melanie war stark, solange sie sich auf ihre Stärken konzentrieren konnte. Auf ihren Verstand. Wenn man mit ihren Gefühlen spielte, war sie einem schutzlos ausgeliefert, sobald sie sich einem öffnete. Das war meine Theorie und ich konnte es kaum abwarten, Melanie einem Praxistest zu unterziehen. Mit einer ersten kleinen Charmeoffensive wollte ich die Gunst der Stunde nutzen. Ich nahm mir ein Buch aus dem Regal und schlenderte damit zu ihr. Sie nahm gar keine Notiz von mir. Ich blieb neben ihr stehen und schaute in ihr Buch. Sie beschäftigte sich mit den Gesetzen der Statik.

       »Da hast du dir aber ein ödes Thema ausgesucht«, sprach ich sie an.

       Melanie nickte gedankenverloren und schaute zu mir auf. »Du bist aber ziemlich gut darin«, stellte sie fest. »Du hast doch in dem Test über die Grundlagen


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