Im Sonnenwinkel Staffel 1 – Familienroman. Patricia Vandenberg
nicht entgehen lassen. Dabei hatte er heute einen überaus einsichtigen Vater, der ihm gern eine Entschuldigung geschrieben hätte, denn Werner Auerbach war so müde, dass er nur ungern aufstand.
Henrike konnte auf keinen Fall in die Schule gehen. Sie war noch immer fiebrig, und dabei wusste sie als einzige noch nicht einmal, was mit Ulla geschehen war. Bambi hatte es natürlich von Hannes erfahren, worüber Inge Auerbach sehr erbost war. Doch zum Glück begriff Bambi die schreckliche Tragweite dieses Zwischenfalls nicht.
»Bei der Kälte kann man doch nicht mehr baden«, meinte sie kopfschüttelnd. »Und so spät in der Nacht! Da verstehe ich Ulla aber nicht.«
Bevor Hannes ihr jedoch erklären konnte, wie es sich wirklich verhalten hatte, kam Inge dazwischen.
»Du hältst jetzt deinen Mund und machst dich fertig«, fuhr sie ihren Sohn an, der beleidigt von dannen zog.
Inzwischen war die Nonna herübergekommen und hatte gesagt, dass Hannes mit den Zwillingen fahren könnte, falls er zur Schule ginge. Ihre Tochter würde die Kinder hinbringen.
»Dann kann ich ja noch mal ins Bett gehen«, war Werner Auerbachs Kommentar dazu. Und sogleich verschwand er wieder.
Hannes hatte sich nicht viel Zeit für das Frühstück genommen. Er brannte schon darauf, die Ansicht der Zwillinge zu den Ereignissen zu vernehmen. Lebhaft tauschten sie während der Fahrt ihre Meinung darüber aus, sodass Georgia sich veranlasst sah, auch ihre zu äußern.
»Für euch ist das eine Sensation«, meinte sie missbilligend, »aber überlegt mal, wie viel Überwindung dazu gehört, so etwas zu tun. Man muss schon sehr verzweifelt sein.«
»Nonna hat uns immer eingebleut, dass kein Mensch das Recht hat, sein Leben selbst zu beenden«, stellte Claas fest. »Man darf Gottes Willen nicht vorausgreifen.«
»Und warum lässt er es dann zu, wenn es nicht sein Wille ist?«, folgerte Dirk. »Nonna sagt auch: Ist die Not am größten, ist Gott am nächsten. Aber gestern muss er wohl geschlafen haben.«
»Du sollst so etwas nicht sagen«, protestierte Georgia ungehalten.
»Dann denke ich es eben«, murrte Dirk. »Ich finde es auch komisch, dass Gott es zulässt, dass ein Vati nicht bei seinen Kindern ist.«
Georgia versank in Schweigen. Hannes schaute die Zwillinge betroffen an. Er merkte wohl, dass es nicht bloße Aggressivität von Dirk war, wenn er so etwas sagte.
Da es schon ziemlich spät war, gab es nur einen kurzen Abschied vor der Schule. »Du brauchst Muni doch nicht gleich so zu kommen«, raunte Claas seinem Bruder zu. »Ihr hat es die Stimme verschlagen.«
»Warum ist euer Papi eigentlich nicht bei euch?«, fragte Hannes, »oder ihr nicht bei ihm?« Für ihn war das unbegreiflich, denn wohin sie auch immer verschlagen worden waren, getrennt hatte sich ihr Papi nie von ihnen.
»Vati«, berichtigte Claas. »Wir sagen Vati.«
»Na, dann Vati«, meinte Hannes. »Bleibt er denn immer in Bremen?«
»Nein«, stieß Dirk hervor. »Wir werden schon dafür sorgen, dass er kommt, bevor der blöde Hessler Muni wieder überredet, auf Konzertreisen zu gehen.«
»Sie kann ja gar nicht singen«, knurrte Claas. »Sie ist ganz heiser. Ich glaube, das weiß Vati gar nicht.«
Das waren nun ganz andere Probleme als die, denen Hannes nachhing. Jeder schien seine eigenen zu haben. Er hatte viel Zeit zum Nachdenken, als sie in ihrer Klasse saßen, denn die erste Stunde fiel aus. Dr. Rückert war nicht zum Unterricht erschienen.
»Er hat sich bestimmt erkältet, als er Ulla aus dem Wasser geholt hat«, meinte Hannes zu den Zwillingen, die von den übrigen Klassenkameraden vorerst nur stumm bestaunt wurden.
Das war auch der Fall. Er hatte sich eine schwere Erkältung geholt und musste auf Anraten des Arztes das Bett hüten.
Auch in der Schule wurde über nichts anderes gesprochen, als über Conny von Rosch und den Unfall. Von Ulla Lamprecht wusste noch niemand etwas, und in stillschweigendem Übereinkommen behielten Hannes und die Zwillinge es für sich.
Unter all diesen Anzeichen verlief der Unterricht bei den anderen Lehrern auch recht ruhig. Keiner schien bei der Sache, und die Zeit schleppte sich nur so dahin.
Im Herrenhaus am Sonnenhügel konnte man das nicht sagen. Gleich nach dem Erwachen hatte Marianne von Rieding schon mit dem Krankenhaus telefoniert und sich nach Ullas Befinden erkundigt. Man hatte ihr allerdings nur ausweichende Auskünfte gegeben, worauf Sandra sich entschloss, persönlich nach dem Rechten zu sehen. Felix wollte ohnehin seinen Cousin besuchen.
»Du warst gestern noch draußen«, meinte Frau von Rieding gedankenvoll.
»Ja«, gab Sandra zu. »Wie kommst du darauf?«
»Du hast die Tür nicht wieder abgeschlossen.«
»Liebe Güte, das muss ich vergessen haben. Tut mir leid, Mutti, aber Einbrecher brauchen wir wohl kaum zu fürchten.«
»Weiß man es?«
Umständlich faltete Sandra ihre Serviette auseinander. »Mutti …«, sie machte eine kleine Pause, »Felix und ich werden heiraten«, fuhr sie dann zögernd fort.
»Das geht aber schnell«, erwiderte Marianne von Rieding gepresst. »Aber du wirst es dir ja reiflich überlegt haben.«
»Muss man überlegen, wenn man einen Menschen sehr liebt?«, fragte Sandra leise.
»Ich denke schon. Liebe macht manchmal blind, Sandra.«
»Magst du Felix nicht?«, fragte sie betroffen.
»Das will ich damit nicht sagen. Ich kenne ihn zu wenig. Er ist sehr attraktiv, und er ist sehr reich.«
»Schätzt du mich so ein?«, begehrte Sandra auf.
»Was weißt du von ihm?«
»Ich liebe ihn, wie er ist. Für uns – ich meine für dich und mich – wird sich nicht viel ändern.«
Du lieber Gott, dachte Marianne von Rieding, sie hat keine Ahnung, wie sehr sich alles ändern wird. Aber egoistisch darf ich auch nicht sein. Es ist nun mal so, dass man seine Kinder eines Tages hergeben muss. Wenn es nur eins ist, ist es sicher umso schwerer.
»Wir werden doch hier wohnen bleiben, Mutti«, sagte Sandra eindringlich.
»Es wäre doch besser gewesen, wir hätten ihm das Herrenhaus gelassen, meinst du nicht?«, meinte Marianne von Rieding mit leiser Wehmut. »Aber was reden wir davon und von mir. Du weißt, wie gern ich dich glücklich sehen möchte.«
Noch war dieses Glück nicht ungetrübt. Düstere Schatten verdunkelten es, als sie beide an Krankenbetten saßen. Sandra an Ullas, und Felix an Haralds. Zwei junge Menschen, die mit knapper Not dem Tod entrissen worden waren, lagen da vor ihnen und mahnten sie, wie dicht Glück und Leid beieinanderlagen.
*
Georgias schlanke Finger glitten über die Elfenbeintasten des kostbaren Flügels. Ihm konnte sie klare Töne entlocken, ihrer Kehle jedoch nicht. Verzweifelt ließ sie den Kopf auf die Hände sinken.
»Nun versinke nicht in Weltschmerz«, sagte Nonna mahnend. »Es gibt schlimmere Dinge. Besinne dich auf die wesentlichen. Besinne dich vor allem darauf, dass du einen Mann und zwei gesunde Kinder hast.«
Nonna war entschlossen, einen energischen Ton anzuschlagen, denn heute Morgen war schon ein Brief von Frank Hessler gekommen, in dem er seinen Besuch ankündigte.
»Da radelt solch ein alter Briefträger auf einem klapprigen Fahrrad durch die Gegend«, brummte sie. »Wie hart muss er sich seinen Lebensunterhalt verdienen, um nichtige Briefe auszutragen. Ob wohl überhaupt je einer darüber nachdenkt?«
»Was hat der Briefträger mit meiner Stimme zu tun?«, brauste Georgia auf.
»Er verdient seinen Lebensunterhalt damit, den er bestimmt verdammt nötig hat. Du aber hast