DIE GRENZE. Robert Mccammon
etwas davon gehört hat und wo das sein könnte?«
»Aber sicher! Wir suchen einfach danach im Internet, wie wäre es damit?« Dave erhob sich. Er setzte seine Baseballmütze auf, die immer noch feucht war vom öligen Regen. Er hatte keine Ahnung, warum er gekommen war und dem Jungen diese Fragen gestellt hatte, auf die es keine sinnvollen Antworten gab. Vielleicht hatte er unbedingt einen Sinn finden wollen, irgendeine Antwort, die er fassen konnte und die ihm Halt gab. Stattdessen … der Junge musste verrückt sein, so sah die Sache aus.
Ethan stand auf und folgte Dave aus dem Zimmer. Im nächsten Raum, der als Krankenstation diente, saßen einige Leute auf Stühlen und warteten darauf, behandelt zu werden. Wie in Daves Wohnung hingen Rohre und Drähte von der schiefen Decke. JayDee war gerade damit beschäftigt, den linken Arm eines erschöpft aussehenden Mannes mittleren Alters in schmutzigem weißen T-Shirt und Jeans einzugipsen, und die beiden Krankenschwestern kümmerten sich um andere Patienten.
»Du bist halbwegs wieder fit?«, fragte JayDee. Ethan nickte. Dave war schon fast an der Tür, die wie die in Olivias Wohnung nicht mehr schloss, weil der Rahmen verzogen war. »Sei vorsichtig«, sagte JayDee zu Ethan. »Es regnet ziemlich heftig da draußen …«
»He! Moment mal. He … Junge!«
Der Mann mit dem verletzten Arm hatte sich gemeldet. Er starrte Ethan an. »Warte mal! Ich kenne dich von irgendwoher. Oder?«
Dave blieb kurz vor der Tür stehen und blickte zurück. Draußen schüttete es, als wolle sich der Himmel auf einmal allen Regens entledigen.
Ethan kannte den Mann nicht. Er hatte lockiges graues Haar, braune Augen und trug ein Pflaster auf seiner verletzten Stirn. »Ich glaube nicht …« Ein kleiner Funke sprang in sein Herz. »Kennen Sie mich?«
»Von irgendwoher, ja. Ich bin vor ein paar Tagen mit meiner Frau hier angekommen. Schätze, ich habe dich schon mal gesehen. Verdammt, tut das weh!«, protestierte er gegenüber JayDee und wandte sich wieder dem Jungen zu. »Ich glaube, ich habe dich schon einmal gesehen, aber ich kann mich nicht erinnern, wo. Warte einen Moment … warte mal … du hattest … andere Kleidung an. Ein Hemd … ein dunkelrotes Hemd mit einem abgerissenen Ärmel.«
»Stimmt.« Dave kam näher heran. »Das trug er, als er gestern hereingebracht wurde. Wo haben Sie ihn gesehen?«
Der Mann öffnete den Mund, schien sich dann aber zurückzuhalten. Er sah bestürzt aus.
»Bitte, erzählen Sie es uns«, drängte JayDee und hielt beim Wickeln des Gipsverbands inne.
»Ich erinnere mich«, sagte der Mann. »Wir waren mit einer anderen Gruppe zusammen. In einem Einkaufszentrum. Vielleicht sechs oder sieben Meilen von hier entfernt. Das Gebäude war völlig zerstört. Wir haben versucht, einen neuen Ort zu finden, an dem wir uns verstecken konnten. Sie haben über unseren Köpfen gekämpft … und wir haben nur versucht, uns irgendwo zu verkriechen. Dann …« Er sah von Ethan zu Dave und wieder zurück und schien einmal mehr nicht zu wissen, was er sagen sollte. »Die Aliens mussten vor uns durchgekommen sein. Wir sind zu einer Stelle gekommen, an der Leichen lagen. Sie waren vielleicht gerade einmal ein paar Stunden tot … und lagen in den Ziegelhaufen, wo die Wände auseinandergesprengt worden waren. Und wir haben … dich gesehen. Du lagst auch dort. Dort habe ich dich gesehen. Nur … du warst tot. Wie die anderen. Sechs Menschen, alle tot. Sie lagen zwischen diesen Ziegelsteinen, und dort lagst auch du.«
»Blödsinn!«, schrie Dave mit wachsender Wut. »Wenn er dort gelegen hätte, könntest du ihn jetzt nicht hier stehen sehen!«
»Ja, aber … er war definitiv tot. Es sah aus, als hätte sie eine Explosion durch den Raum geworfen und die Wände weggesprengt, aber … sein Gesicht … er sah aus, als würde er gerade schlafen, und Kay sagte, ich solle nachsehen und mich vergewissern … weil er doch nur ein Junge war und wir ihn nicht einfach so zurücklassen konnten. Also … habe ich seinen Herzschlag und seinen Puls überprüft, aber da war nichts.« Sein Blick irrte über den Boden. »Ich habe nachgesehen. Das habe ich getan. Da war …«
»Du hast dich geirrt«, unterbrach ihn Dave. Sein Gesicht war gerötet. »Verdammt noch mal geirrt! Vielleicht waren sein Herz und Puls langsam, aber … schau ihn an! Sieht er für dich tot aus?« Und dann sah Dave, wie JayDee ihn anstarrte, und Dave erinnerte sich daran, wie er und der Doc im Sicherheitsraum die hässlichen blauen Flecken auf Ethans Brust und Rücken betrachtet hatten, und wie JayDee gesagt hatte: Er hat eine sehr heftige Erschütterung erlitten. Irgendeine Explosion. Könnte direkt in der Druckwelle gestanden haben. »Geirrt«, wiederholte Dave zu dem Mann mit dem gebrochenen Arm, wandte sich ab und ging hinaus, weil Fragen zu nur noch mehr Fragen führten und es keine Antworten gab, und weil selbst in einer Irrenhaus-Welt wie dieser ein Junge nicht von den Toten auferstand. Er ging weiter, immer schneller, in den strömenden Regen hinaus, der sich anfühlte, als würden kleine Bleigewichte auf seinen Schädel, seinen Rücken und seine Schultern treffen.
White Mansion, dachte er, als er den Hügel hinaufging. Es war verrückt. Ergab keinen Sinn. Nichts ergab mehr Sinn. White Mansion, leck mich doch, dachte er.
Aber er überlegte auch, wie entschlossen die Stimme des Jungen gewesen war, als Ethan gesagt hatte: Ich glaube, ich muss dorthin gehen.
Und noch beunruhigender … Ich glaube, etwas sagt mir, dass ich dorthin gehen soll.
Dave blickte zurück und sah Ethan hinter sich, eine schlanke Gestalt, die vom Regen fast verschluckt wurde. Er war kurz davor, innezuhalten und auf den Jungen zu warten, aber dann ging er weiter. Er wusste nicht, ob er glauben sollte, dass Ethan verrückt geworden war, oder …
… oder ob er etwas anderes war?
Niemand kann ein Erdbeben machen, dachte Dave, als er durch den strömenden Regen ging. Und dann diese seltsame Sache mit dem Swimmingpool und White Mansion, und jetzt die Aussage, wie der Junge tot in einem Steinhaufen in einem zerstörten Einkaufszentrum gelegen und das einarmige dunkelrote Hemd von gestern getragen hatte.
Und doch … wie der Junge gesagt hatte: Ich glaube, etwas sagt mir, dorthin zu gehen.
Wohin? Und warum? Und wie sollte überhaupt jemand herausfinden, was das für ein verdammter Ort war und wo er sich befand?
Wäre nett gewesen, dachte Dave, wenn diese sogenannte Stimme, die Ethan immer hört, ihm die ganze Geschichte erzählt hätte und nicht immer nur kleine Schnipsel.
Trotz all seiner Härte und der Bitterkeit, die er darüber empfand, was aus dieser Welt und seinem Leben – aus all ihren Leben – geworden war, fühlte sich Dave McKane plötzlich überwältigt.
Er spürte, wie er ins Taumeln geriet. Spürte, wie seine Knie nachgaben. Wie der harte Regen auf seinen Rücken schlug und ihn nach unten drückte. Er hatte das verrückte Gefühl, dass er sich an den Nähten auflöste und selbst zu einem der grauen Wesen in diesem vergifteten Land wurde, und dass er nie wieder er selbst sein würde, sobald eine gewisse Schwelle in dieser Veränderung überschritten war.
Plötzlich fand er sich auf seinen Knien auf der Straße und er presste seine Hände auf seinen Mund, um einen Schrei um Gnade zurückzuhalten, nicht nur für sich selbst, sondern für sie alle; alle, die gelitten und geliebte Menschen verloren hatten und nun Gefangene waren, die hier auf den Tod warteten. Er spürte Tränen in seinen Augen, die aber der Regen schnell wegwusch. Er dachte, wenn er sich jetzt den Tränen überließe, könnte er sich nicht mehr auf der Klippe halten und all seine zur Schau gestellte Stärke würde wegfliegen und verschwinden, Baby, einfach so.
Also kniete er nur im strömenden Regen und klammerte sich an das, was er noch hatte.
»Brauchst du Hilfe?«
Dave sah auf. Ethan stand über ihm und reichte ihm die Hand.
Dave wollte an etwas glauben. An alles. An irgendetwas, das ihm half, es bis zum nächsten Morgen zu schaffen. Er fragte sich, ob es falsch war, zu glauben – zumindest in diesem Augenblick – dass Ethan Gaines tatsächlich die Erde beben lassen konnte,