DIE GRENZE. Robert Mccammon
katastrophales Durcheinander erwartete beide. Die Fenster waren herausgebrochen und Regen und Wind hatten ganze Arbeit geleistet. Alle Regale waren umgestürzt, Bücher und Papiere lagen auf dem Boden verstreut und waren durchnässt. Gelber und grüner Schimmel wuchs an den Wänden und am Boden, und beide wussten, dass sie das besser nicht berührten. Es lag ein kränklich süßer Geruch in der Luft, ein widerlicher Gestank der Verderbnis. Ein Teil der Decke war eingestürzt, Drähte und Rohre hingen herab. Die Bücher, die überall auf dem Boden lagen, hatten sich durch Feuchtigkeit und Schimmel miteinander verbunden.
Sie schauten schweigend in den Raum.
»Mein Gott«, sagte Dave schließlich. Er runzelte die Stirn und wünschte, er hätte eine Zigarette dabei. »Schätze, keiner dieser Bastarde liest gerne, was?«
Das brachte eine Saite in Olivia zum Klingen. Sie lachte laut, ein reines und herzliches Lachen, und Dave mochte es. Er lächelte flüchtig zurück und zuckte mit den Schultern. Der Raum war schlecht ausgeleuchtet. Dave gefiel die Idee nicht, auf dem Boden im Dreck und in diesem merkwürdigen Schimmel auf Knien herumzurutschen und nach alten Straßenkarten zu suchen. Die Bibliothek sah aus, als hätte sie jemand auf den Kopf gedreht und ein paarmal heftig geschüttelt. Ihm kam der Gedanke, dass sie eine Schaufel brauchten, um das alles hier zu durchsuchen, oder zumindest Gummihandschuhe. Er verfluchte sich dafür, nicht eher daran gedacht zu haben. Aber jetzt waren sie hier, also wo am besten anfangen?
Gute Frage.
Er begann, die Bücher mit dem Fuß beiseitezuschieben, was zunächst ganz gut funktionierte, aber ganz unten klebte das Papier am Boden. Einige der Bücher waren fast gänzlich zerfallen und verrieten nicht mehr, was sie einmal gewesen waren. Er sah nichts, was Landkarten oder Straßenatlanten ähnelte, und fragte sich, wie er so etwas überhaupt erkennen sollte in diesem nassen Durcheinander.
»Würde uns das hier weiterhelfen?« Olivia hatte ihren Fuß auf einen verbeulten Globus gestellt, der auf dem Boden lag.
»Vermutlich nicht. Ich weiß nicht.« Dave hörte eine Spur Resignation in seiner Stimme. »Selbst wenn wir Karten finden, weiß ich nicht, wonach wir suchen müssen. Verdammt … das läuft ganz und gar nicht so, wie ich mir es vorgestellt hatte.« Er trat einige halbzerfallene Bücher beiseite. »Das war dumm, schätze ich.«
»Nicht dumm«, sagte Olivia. »Sondern voller Hoffnung.«
»Ja. Nun … vielleicht ist dies das Dümmste, was man heutzutage so anstellen kann.«
Auch Olivia fing nun an, die Überreste der nassen Bücher mit ihrem Stiefel zur Seite zu schieben. So viel zu den Ideen und der Klugheit der Menschen, dachte sie. Sie entdeckte einige Hardy-Boys-Jugendkrimis in blauem Einband und dabei zerriss es sie fast innerlich. Bleib stark, befahl sie sich. Leicht zu sagen, schwer zu befolgen. »Ich kenne dich lange genug«, sagte sie, »um zu wissen, dass du nicht der Typ Mann bist, der an … sagen wir … Wunder glaubt. Aber dieser Junge hat deine Meinung geändert? Dave, wenn das überhaupt ein realer Ort ist, könnte er überall sein. Und vor allem: Warum? Was sagt ihm, dorthin zu gehen?«
»Er ist ein merkwürdiger Junge«, war alles, was Dave als Antwort anbieten konnte, während er weiter die feuchte Masse durchsuchte.
»Ja, das verstehe ich. Aber manchmal … weißt du … manchmal sind Träume nur Träume. Ich hatte schlechte Träume ohne Ende. Du sicher auch.«
»Ja, natürlich«, sagte Dave. Er sah Olivia im schwachen gelben Licht an. »Ich weiß, es ist verrückt. Ich weiß, hier zu sein und zu tun was wir tun, ist verrückt. Aber trotzdem … du weißt, dass Ethan recht hat. JayDee glaubt das auch. So wie jetzt überleben wir nicht mehr lange. Wir müssen weg … einen anderen Ort finden, wenn wir am Leben bleiben wollen.«
»Du denkst, dieses White Mansion ist dieser Ort?«
»Zum Teufel, ich weiß überhaupt nichts, außer das Panther Ridge erledigt ist.« Er nahm seine schmutzige Baseballmütze vom Kopf, wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und setzte die Mütze wieder auf. »Ethan ist anders, Olivia. Ob das gut oder schlecht ist, weiß ich nicht. Aber er hat uns bisher geholfen … ich glaube das jedenfalls. Nenn mich dumm oder verrückt oder was immer du willst, aber ich bin hier … das ist alles, was ich weiß.«
Darauf hatte sie keine Antwort. Sie sah das Büro der Bibliothek und den Check-out-Schalter am anderen Ende des Raumes. Ein Ständer mit Film-DVDs war umgefallen und das Plastik knackte unter ihren Stiefeln, als sie sich dem Schalter näherte. Darauf stand – in all dem Chaos – eine kleine, aufrechte Metallstatue eines Footballspielers, der in einer Faust eine kleine amerikanische Papierfahne und im anderen, gebeugten Arm einen Football hielt wie ein geliebtes Kind.
Bei Olivias nächstem Schritt sackte der Holzfußboden plötzlich unter ihr weg. Es gab ein dumpfes, nasses Geräusch von etwas Verrottetem, das nachgab. Sie schrie auf, als ihr rechtes Bein durch den Boden brach. Sie dachte erst, dass sie ganz hindurch bis in den Keller stürzen würde und ließ beinahe ihr Gewehr los, um nach den Holzdielen um sie herum zu greifen, aber dann blieb sie stecken. Nur das eine Bein baumelte in der Dunkelheit.
Dave war sofort an ihrer Seite und half ihr auf. »Immer schön vorsichtig«, sagte er. »Bist du okay? Ist dein Bein verletzt?«
»Mein Knie hat es ganz schön erwischt. Das ist alles. Pass auf den Boden auf, er beißt.«
»Ja, das sehe ich.« Dave spähte in das Loch, konnte aber nichts sehen als Dunkelheit. Von unten war tropfendes Wasser zu hören und aus dem Keller stieg ein scharfer, muffiger Geruch auf, als käme er geradewegs aus einem Garten voller Giftpilze. »Pass gut auf.«
»Du auch. He«, sagte sie, nachdem ihr etwas aufgefallen war. »Hinter dem Schalter steht ein Aktenschrank. Da könnte sich ein Blick lohnen.«
»Auf jeden Fall. Na los, du bleibst besser bei mir.«
Sie gingen hinter den Schalter und begutachteten den Aktenschrank, der offenbar der einzige unbeschadete Überlebende des Sturms war, der hier gewütet hatte. Dave öffnete die oberste Schublade und fand einen Stapel Schulzeitungen, die Gazette. Die zweite Schublade enthielt Schachteln voller Bleistifte, Kugelschreiber, Gummibänder, Büroklammern und dergleichen mehr. Die dritte Schublade war größtenteils leer, bis auf ein paar Papierblöcke, und die vierte und letzte Schublade enthielt zwei Mausefallen.
»Unter dem Schalter sind noch mehr Schubladen«, bemerkte Olivia, und sie humpelte hin. Offenbar hatte sie einen heftigen Schlag aufs Knie bekommen. Das Ding wird anschwellen, dachte sie. Magnifico! Genau das, was sie jetzt brauchte: ein paar Tage wie eine alte Großmutter umher zu humpeln.
Sie öffnete die oberste Schublade hinter der Theke und fand noch mehr Stifte, Notizblöcke, Büroklammern und jemandes Vorrat an Orbit-Kaugummi in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Die nächste Schublade enthielt ein dickes rot-goldenes Jahrbuch namens The Mountaineer aus dem letzten Jahr, ein paar alte Handys, die an jenem Tag beschlagnahmt worden sein mussten, und …
… fast völlig unter dem Jahrbuch versteckt, lag noch etwas anderes. Sie hob The Mountaineer hoch und sah eine Straße, die sich durch einen Kiefernwald schlängelte. Es war ein Rand-McNally United States Road Atlas, gerade einmal drei Jahre alt. Eine tote Kakerlake war zwischen dem Mountaineer und dem Rand-McNally platt gedrückt worden. »Hier!«, rief Olivia und holte den Straßenatlas heraus. Der strenge Hinweis eines Bibliothekars war mit rotem Permanentmarker auf die Titelseite geschrieben: Verbleibt im Raum.
»Ich habe gefunden, wonach du gesucht hast«, sagte sie zu Dave, und ihre Stimme klang mehr als nur ein kleines bisschen triumphierend.
Dave kam zu ihr, um sich ihren Fund anzusehen. »Jawoll!« Er wurde sich bewusst, dass er seit sehr langer Zeit nicht mehr so aufgeregt geklungen hatte, und dieser Ton in seiner Stimme überraschte ihn. »Alles klar. Gut! Es ist zumindest ein Anfang.« Er rollte den Atlas zusammen und steckte ihn in den Bund seiner Jeans. »Ich weiß zwar nicht, wonach wir genau suchen sollen, aber …«
Der Boden knackte. Es war nur ein leises Geräusch, aber es wirkte bedrohlich.