DIE GRENZE. Robert Mccammon

DIE GRENZE - Robert Mccammon


Скачать книгу
aber sie kam nicht mehr dazu.

      Etwas kroch aus dem Loch im Boden der Bibliothek.

      Es kam nach oben und schwankte wie eine Kobra hin und her.

      Es war dünn, grau, fleischig und musste einmal eine Frau gewesen sein, denn sie sahen schlaff herunterhängende, entblößte Brüste und zottige Strähnen langer, weißer Haare. Die im knochigen Schädel eingesunkenen Augen huschten hin und her und suchten entweder nach dem Ursprung der menschlichen Stimmen oder nach der Quelle des Geruchs nach frischem Fleisch. Die klauenartigen Hände kratzten über den Boden und versuchten, den Körper komplett aus dem Loch zu ziehen, aber irgendetwas schien es zu behindern. Der Mund des Dings verzog sich vor Frustration und ein leises Rasseln kam aus der trockenen Kehle. Olivia fing an zu schreien, bekam sich aber wieder unter Kontrolle. Keine Zeit dafür. Mit grimmiger Miene schwang sie stattdessen ihr Gewehr herum, um das Feuer zu eröffnen.

      Der Boden der Bibliothek kräuselte sich und wogte wie eine schmutzige Meereswelle. Die nassen Dielen platzten auf, als sich die krallenbewehrten Hände ihren Weg bahnten. Dave vermutete zuerst, dass er und Olivia über ein schlafendes Nest von Grauen gestolpert waren, und das war zumindest nicht ganz falsch … aber in den nächsten Sekunden, als der Boden sich weiter aufspaltete und das feucht-glänzende graue Fleisch herausrutschte, erkannte er voller Entsetzen, dass der Keller der Ethan-Gaines-Highschool etwas ganz anderes ausgebrütet hatte.

      Dave hatte als Jugendlicher bei einem Sommerjob alte Häuser mit abgerissen und Holz und Ziegel nach draußen geschleppt. Hey, hey!, hatte der Vorarbeiter an einem heißen Augustnachmittag ausgerufen. Schaut euch das mal an!

      Und so hatte Dave das zweifelhafte Vergnügen gehabt, hinter einer gerade aufgestemmten Mauer ein Dutzend oder mehr Ratten zu sehen, die kreischend und wühlend zu fliehen versuchten. Aber sie waren untereinander an den Schwänzen zu einem Kreis verknotet, und ohne gemeinsames Ziel kamen sie nicht von der Stelle. Eine Ratte waren schon tot und halb verrottet, während sich die Lebenden voller Verzweiflung wild hin und her warfen, mit entblößten Zähnen, funkelnden Augen und rasselndem Atem.

      Das ist ein Rattenkönig, hatte der Vorarbeiter gesagt. Habe bislang nur einen von ihnen gesehen, in meinem ganzen Leben. Sie sind auf kleinem Raum stecken geblieben, haben sich gegenseitig angepinkelt und ihre Schwänze sind zusammengewachsen. Ekelhaft!

      Der Vorarbeiter hatte dann seine Schaufel erhoben und sich an die Arbeit gemacht, den Rattenkönig kaputt zu schlagen. Die Ratten starben in einem blutigen und quietschenden Durcheinander. Dave hatte die Ehre gehabt, die sterblichen Überreste in eine Mülltonne zu werfen.

      Jetzt, viele Jahre später, beobachtete Dave McKane, wie in dieser Albtraumwelt ein Rattenkönig, der aus Grauen bestand, aus dem aufgebrochenen Boden kroch.

      Ihre Beine waren zu etwas zusammengewachsen, das langen, dünnen Tentakeln ähnelte, die Rattenschwänzen nicht unähnlich waren. Einige der Leichen waren von anderen Körpern verschlungen oder umwachsen worden, sodass sie beinahe ineinander übergingen. Vielleicht zwanzig oder mehr Graue, ehemals Männer, Frauen und Kinder, waren zu diesem Rattenkönig-Kreis verbunden, und ihre Köpfe und Arme befanden sich nicht immer dort, wo sie sein sollten. Von ihrer Kleidung waren nur noch durchnässte, dunkelfleckige Lumpen übrig. Offenes, graues Fleisch zog sich aus dem Keller nach oben. Die zerstörten Gesichter und missgestalteten Köpfe spannten sich an den Hälsen. In einigen der klaffenden Münder glitzerten Zähne wie kleine Rasierklingen und in anderen zeigten sich Reihen von haiähnlichen Reißzähnen.

      Dave erkannte sofort, dass es zwei Probleme gab.

      Dieser Rattenkönig-Kreis hatte ein gemeinsames Ziel, und das sich windende Monster befand sich zwischen ihm, Olivia und dem Ausgang.

      Mit vor Schreck erstarrtem Gesicht hatte sich Olivia rückwärts bewegt und stieß gegen ihn. Das Ding kämpfte darum, sich aus dem Loch im Fußboden zu befreien, und nasse Bücher und schimmelige Seiten klebten an seinem Fleisch. Der Rattenkönig gab keinen Laut von sich, nur ein Zischen und ein schlüpfriges Geräusch waren zu hören, und jetzt schien er seine Tentakel unter sich zu sammeln, um sich zu erheben. Dave dachte: Wenn sie hier lebendig raus wollten, dann mussten sie es jetzt versuchen.

      Er eröffnete das Feuer mit seiner Magnum, deren Mündungsfeuer unglaublich laut und hell war. Zwei Schüsse – und zwei der albtraumhaften Gesichter explodierten. Dann donnerte Olivias Gewehr und bohrte ein Loch in den weißhaarigen Kopf der weiblichen Kreatur, die als erste begonnen hatte, herauszuklettern. Schwarze Flüssigkeit spritzte aus der Wunde. Dave griff Olivia an der Schulter, zog sie mit sich und rief: »Raus hier, schnell!« Die Masse der zusammengewachsenen Grauen bewegte sich schneller und griff nach ihnen mit ihren Tentakelarmen. Eine klumpige, graue Hand mit sieben Fingern schnappte Olivias rechten Knöchel, und sie wäre mitten in sie hineingefallen, hätte Dave sie nicht mit aller Kraft festgehalten. Olivia feuerte einen Schuss in etwas, das einst eine menschliche Schulter gewesen sein mochte, und sie riss sich mit aller Entschlossenheit los, ohne die ihr der Tod sicher gewesen wäre.

      Dave feuerte erneut mitten in eines der Gesichter. Graues Fleisch und dunkle Flüssigkeit spritzten an die Wände der Bibliothek. Ein leises Stöhnen wie von einem Chor der Verdammten kam aus der Kreatur. Das Wesen schleppte sich auf Ellbogen und grauen Bäuchen weiter auf sie zu, während die zerstörten Köpfe schlaff an der Seite baumelten. Die Tentakel-Gliedmaßen schoben sich über den Boden. Die entblößten Zähne der übrigen Köpfe schnappten nach Olivia und Dave und ein grauer Wald aus Armen streckte sich nach der gehaltvollen Nahrung aus. Die beiden Menschen im Raum eröffneten erneut das Feuer, nicht mehr als vier oder fünf Fuß von dem Monster entfernt. Als Daves Revolver leer war, zog er die Uzi aus dem Holster und pumpte 9mm-Geschosse in den Körper.

      Mit einem hohen, unheimlichen Schrei, der gleichzeitig aus jedem der Münder gellte, zog sich der mutierte Schrecken plötzlich zurück und versuchte, wieder in seine Höhle unter dem Boden zu gelangen. Das ließ ihnen ausreichend Platz, um vorbeizukommen. Dave schob Olivia zur Tür, achtete auf ihr Knie, aber vor allem darauf, dass sie beide am Leben blieben. Er feuerte die letzte Patrone des Magazins in die graue Masse und sah in seiner Tiefe etwas, das wie das verzerrte Gesicht eines Kindes aussah, das entweder mit den anderen verwachsen oder von ihnen verzehrt worden war. Die Augen waren weit aufgerissen, und der Mund, dem der Unterkiefer fehlte, klaffte weit auf wie in ständigem Hunger oder voller Qual.

      Dann war Dave aus der Tür. Sie rannten auf das Tageslicht zu, Olivia verfluchte ihr verletztes Knie und bewegte sich so schnell sie konnte. Dave blieb neben ihr und ließ sie sich an seiner Schulter festhalten. Er dachte, wenn auch nur einer von ihnen es wagte, zurückzublicken, würden sie ihre geistige Gesundheit für immer in der Ethan-Gaines-Bibliothek abgeben.

      Keiner von beiden schaute zurück, aber Olivia schluchzte, als sie ihr Pferd losband und sich hochschwang. Dave war zu hartgesotten, um Tränen hervorzubringen, aber sein Magen ließ ihn im Stich. Sein Frühstück, das aus ein paar Keksen und ein paar Löffeln Konservenfleisch bestanden hatte, kam wieder nach oben. Sein Pferd roch den Gestank des mutierten Fleisches an ihm und versuchte wegzulaufen, bevor er fest im Sattel saß.

      Niemand musste Los geht's oder Lass uns von hier verschwinden sagen.

      Sie ritten wie die Teufel.

      Hinter ihnen, während die Pferde in die trügerische Sicherheit von Panther Ridge galoppierten, wurden die Geier durch den Aufruhr gestört. Einige flogen von den verbrannten Kadavern auf, an denen sie fraßen, aber nach einigen Augenblicken ließen sie sich wieder wie ein schwarzes Tuch über den toten Ungeheuern auf dem Parkplatz nieder und kämpften um die besten Plätze beim Festmahl.

      Kapitel 9

      Nieren, Magen.

      Dickdarm, Dünndarm, Bauchspeicheldrüse.

      Leber, Milz, Lunge.

      Gehirn, Herz.

      Ethan saß auf einem Sessel in seiner Wohnung. Der Sessel war aus abgewetztem braunem Leder und war früher ein Liegesessel gewesen, aber jetzt war der Mechanismus kaputt. Eine Laterne mit einer Kerze brannte auf einem kleinen Tisch


Скачать книгу