DIE GRENZE. Robert Mccammon

DIE GRENZE - Robert Mccammon


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sein, dass du keinen Atemzug machen kannst, und ich weiß immer noch nicht, wie du es schaffst, überhaupt zu laufen. Mein Gott, wenn ich nur einen Röntgenapparat und etwas Strom dazu hätte! Also … junger Mann, der seinen Namen nicht kennt und sich nicht an sein Leben erinnert, bevor er plötzlich aufgewacht und über ein Feld gerannt ist … was genau bist du, denn ich glaube nicht, dass du ein Mensch bist.«

      Die Aussage verdarb die Luft. Ethan spürte, wie aus einem Funken Zorn eine Flamme wurde. »Glauben Sie, ich bin etwas, das sie gemacht haben? Wie … eine Geheimwaffe? Dass mir ein zweiter Kopf wächst oder ich explodieren könnte oder so etwas? Ist es das?«

      »Ich würde sagen, jemand, der ein Erdbeben erschaffen kann, nur weil er es will, trägt schon eine kleine Geheimwaffe in sich. Meine Frage lautet, was ist da sonst noch, von dem du nichts weißt?«

      Ethan starrte JayDee an. Lag da ein kleines Hitzeflimmern zwischen ihnen in der Luft? Ethan sagte: »Nieren, Magen. Dickdarm, Dünndarm, Bauchspeicheldrüse. Leber, Milz, Lunge. Gehirn, Herz. Das sind Dinge, von denen ich weiß, dass ich sie habe. Ich bin ein Mensch, Sir. Und ich erinnere mich auch an etwas. Es wird immer klarer, und nach und nach erinnere ich mich an Einzelheiten. Ich sitze in einem Zimmer, sitze am Schreibtisch unter einer grünen Schreibtischlampe und baue ein Modell des Gläsernen Mannes zusammen. Wissen Sie, was das ist?«

      »Ich hatte einen. Jedes Kind, das jemals Arzt werden wollte, hat das wahrscheinlich zusammengebaut.«

      »Okay. Ich sehe meinen Schreibtisch, und diese Dinge liegen dort. Die Organe. Nieren, Magen, Dickdarm, Dünndarm, Bauchspeicheldrüse, Leber, Milz, Lunge, Gehirn und Herz. Ich habe sie in dieser Reihenfolge hingelegt, um sie anzumalen. Meine Farbtöpfe stehen da. Die Marke heißt Testors. Eine Frau mit dunklen Haaren kommt in den Raum … und sie beginnt zu sprechen, aber ich kann nicht hören, was sie sagt.« Traurigkeit durchbohrte ihn wie eine Klinge; nicht nur Traurigkeit, sondern ein tiefes Gefühl der Verzweiflung. Tränen brannten in seinen Augen. »Ich will es hören, aber ich kann es nicht. Und … was ich am meisten von allem will … am meisten von allem … ist, dass sie meinen Namen sagt, weil ich glaube, dass sie meine Mutter ist, aber … wenn sie es sagt, kann ich es nicht hören. Oder vielleicht erkenne ich den Namen einfach nicht mehr.« Er wischte sich die Tränen aus den Augen und starrte auf den Boden. Ein Schauer durchfuhr ihn, ganz kurz, und war schon wieder verschwunden. »Ich bin ein Mensch. Ich weiß, dass ich es bin.« Und dann sah er in die aufmerksamen Augen von John Douglas, und Ethan sagte, was er wirklich dachte: »Ich muss es sein.«

      Es gab einen Moment der Stille, bevor JayDee etwas sagte. »Du hast keine Ahnung, was White Mansion ist? Du denkst nur, dass es ein Ort ist, an den du gelangen musst?«

      Ethan nickte.

      »Nun«, sagte JayDee, und das Sprechen fiel ihm schwer, als ob er den Mund voller Sand hätte: »Dave glaubt es auch. Vielleicht auch Olivia. Sie spricht nicht viel in letzter Zeit. Aber ich weiß, dass Dave diesen Straßenatlas durchgegangen ist. Es gibt keine Stadt in diesen Vereinigten … in diesem Land«, korrigierte er sich selbst, »die diesen Namen trägt. Dave hat meine Lupe genommen – übrigens die letzte, die ich habe – und hat diesen Atlas Seite für Seite durchsucht. Er muss inzwischen fast blind sein. Ich habe gehört, dass er auch nicht viel schläft. Ich wollte nur, dass du das weißt.«

      »Okay«, sagte Ethan, der sich verpflichtet fühlte, irgendetwas zu antworten.

      »Du kannst jetzt gehen, wenn du willst. Ich bleibe einfach eine Weile hier sitzen und denke nach … oder vielleicht versuche ich, gerade nicht nachzudenken.«

      Nieren, Magen. Dickdarm, Dünndarm, Bauchspeicheldrüse. Leber, Milz, Lunge. Gehirn, Herz.

      In dem kaputten Liegesessel in der Wohnung eines Toten sitzend, im dünnen, kranken Licht des Morgens, das durch die mit Klebeband reparierten Fenster hereinscheint, kann Ethan die Plastikorgane sehen, die vor ihm auf dem Schreibtisch liegen. Die dunkelhaarige Frau kommt herein. Sie lächelt, und Ethan denkt, dass sie hübsch ist, aber ihr Gesicht ist völlig verschwommen. Und was er sagen will, ist: Sag meinen Namen, aber er sagt es nicht, und sie sagt es auch nicht, und er richtet seinen Blick wieder auf die Hülle des Gläsernen Mannes, den er so unbedingt vollständig zusammensetzen möchte.

      Er hörte ein Klopfen an der Tür, die wie so viele andere zurechtgesägt worden war, sodass sie sich in dem verzogenen Rahmen schließen ließ.

      »Wer ist da?«, rief er.

      Die Stimme klang dumpf und müde durch die Tür. »Dave. Habe etwas gefunden.«

      Sofort war Ethan auf den Beinen und riss die Tür auf. Dave kam herein und sah aus, als wäre er auf einer dreitägigen Sauftour gewesen. Er trug schmutzige Jeans und ein verblichenes braunes T-Shirt, das so viele Löcher hatte, dass ein Pitbull es als Lumpen zum darauf Herumkauen benutzt haben konnte. Sein Haar war ein zerzaustes Durcheinander und seine Augen sahen erschöpft aus, vielleicht sogar geschwollen, weil sie zu viel Kleingedrucktes hatten entschlüsseln müssen. In seiner rechten Hand war eine herausgerissene Seite aus dem Straßenatlas und in seiner linken war die Lupe. »Könnte etwas gefunden haben«, verbesserte er sich und hielt die Seite hoch. »Ich will, dass du einen Blick darauf wirfst.« Er kam herein und Ethan trat zur Seite. Dave ging zur Laterne. »Das ist die Karte von Südost-Utah«, sagte er. »Du brauchst wahrscheinlich keine Lupe, aber ich war verdammt auf sie angewiesen.«

      Ethan nahm die Seite in die Hand.

      Dave berührte die Karte mit einem Zeigefinger. »Dort. Etwa auf halbem Weg zwischen Monticello und Blanding. Am östlichen Rand des Manti-La-Sal National Forest. Siehst du das?«

      Ethan sah es. White Mansion Mtn., stand dort. 10.961 ft.

      »Es sind mehr als dreihundert Meilen von hier, Luftlinie, so wie der Adler fliegt. Aber wir sind keine Adler.« Dave rieb sich die Augen. »Das ist es, was ich gefunden habe. Sagt dir das irgendetwas?«

      »Nein. Aber vielleicht ist es das richtige Ziel?«

      Dave lachte kurz auf. »Vielleicht? Vielleicht? Weißt du, wie es ist, diese ganzen Karten mit einer Lupe zu durchsuchen, Stunde um Stunde? Das Erste, was ich gedacht habe, als ich keine Stadt mit diesem Namen finden konnte … vielleicht ist es eine Militärbasis. Dann … ein See, eine Bucht, ein Canyon oder ein Berg. Ich weiß nichts über diese Gegend, aber ich weiß, dass es einem Wunder gleichkäme, es dorthin zu schaffen. Wir müssten in Richtung Süden nach Denver, auf der I-70 die Rockies überqueren, überall Graue und Aliens. Also, wenn du sagst, vielleicht ist es das … dann macht mich das nicht sehr zuversichtlich.«

      »Woher soll ich es denn genau wissen?«, fragte Ethan flach und nüchtern.

      Dave sah auf den Boden, als versuchte er, einen Wutausbruch zu unterdrücken. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder im Griff hatte. Er war müde, hungrig und durstig, und wahrscheinlich waren seine Augen in den letzten zwei Tagen um etwa fünf Jahre gealtert. Aber als er seinen Blick wieder auf Ethan richtete und weitersprach, war sein Gesicht ruhig und seine Stimme so leise, wie er es unter diesen Umständen erzwingen konnte. »Das ist das einzige White Mansion, das ich finden konnte. Entweder ist es das richtige oder nicht. Entweder, wie du sagst, versucht etwas, das du nicht verstehst, dich dorthin zu führen, oder es war nur ein schlechter Traum und bedeutet verdammt noch mal absolut nichts. Aber ich habe beschlossen, an dich zu glauben, Ethan. Ich habe beschlossen, auf dich zu hören. Verstanden?«

      Ethan starrte in Daves Augen. Sein eigenes Gesicht verriet keine Emotionen. »Haben Sie sich entschlossen, mir zu folgen?«, fragte er. »Wenn ich dorthin gehe, gehen Sie mit mir? Olivia auch? Und Dr. Douglas? Kommt noch jemand mit?«

      »Das würdest du nie alleine schaffen. Nur Gott weiß, wie sich diese Reise überhaupt bewältigen lässt.«

      »Das ist keine Antwort. Sir«, fügte er hinzu.

      Dave nahm Ethan die Karte wieder ab. Er fühlte sich, als würde er jeden Moment zusammenbrechen, und hatte das große Bedürfnis, sich nur irgendwo in eine Ecke zu legen und in den Lauf der Magnum zu blicken, bis er genug Mut gesammelt hatte, um abzudrücken. Aber


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