DIE GRENZE. Robert Mccammon
Meilen entfernt? Einhundert? Tausend? Keine Ahnung. Ich muss morgen zu dieser Bibliothek und versuchen, ein paar Karten aufzutreiben. Das ist das Beste, was ich im Moment tun kann. Und John … du weißt, wie diese Prellungen auf seiner Brust und seinem Rücken ausgesehen haben. Du hast es selbst gesagt … du warst überrascht, dass seine Lunge nicht gerissen war und er noch atmete.«
»Richtig, das habe ich«, antwortete JayDee, aber in seiner Stimme war eine Spur Mitleid. »Ich bin erstaunt, dass er noch lebt. Aber Dave … das heißt nicht, dass er gestorben und dann von den Toten auferstanden ist.«
Dave schwieg eine Weile. Der Regen prasselte härter auf die krummen Dächer und die eingerissenen Wände der Panther Ridge Apartments, deren einstiger Glanz jetzt nur noch eine ferne Erinnerung war.
Dave sah JayDee direkt in die Augen. Er sagte mit leiser, verhaltener Stimme: »Aber was ist, wenn es wahr ist?«
JayDee schlug mit beiden Händen auf die Tischkante, was die Spielsteine und Wörter durcheinanderwirbelte. Er stand auf, ein Stirnrunzeln lag auf seinem Gesicht. »Ich höre mir das nicht länger an. Danke für eure Gesellschaft. Ich werde jetzt etwas schlafen, gute Nacht euch beiden.« Er deutete auf die Tür. »Ihr müsst etwas kräftiger drücken, sie klemmt.«
Dave und Olivia sagten JayDee gute Nacht. Dave hob seine Uzi in ihrem Holster auf, die neben seinem Stuhl auf dem Boden lag, und Olivia nahm ihr Gewehr. Dave musste tatsächlich kräftig gegen die Tür drücken, damit sie aufging. Im Korridor gingen sie gemeinsam auf die Treppe zu.
»Es scheint mir«, sagte Olivia und durchbrach das Schweigen, »dass du unbedingt an etwas glauben willst.«
»Ja, das ist wahrscheinlich richtig. Traurig, nicht wahr?«
»Das ist nicht traurig. Ich muss sagen … ich frage mich selbst, was das mit Ethan zu bedeuten hat. John geht es auch so, er will es nur nicht direkt zugeben. Es ist schwer, überhaupt noch an irgendetwas zu glauben. Dass noch irgendetwas einen Sinn hat.« Sie blieb stehen, Dave ebenso. »Also glaubst du, dass das, was Ethan tun will, einen Sinn hat? Und dass es uns irgendwie weiterbringt? Was könnte das sein?«
»Keine Ahnung. Aber das, was er bisher getan hat, hat uns bereits geholfen. Ich weiß nicht, was er ist oder warum er hier ist, aber ich denke … wenn er uns helfen kann, dann muss ich ihm bei dem helfen, worum er mich bittet. Und wenn das bedeutet, etwas zu verfolgen, was er im Traum gehört hat … nun, dann bin ich dafür. Du solltest es auch sein. Wir alle sollten dafür sein. Sonst warten wir nur darauf, den Friedhof zu füllen, und das ist nichts, worauf ich warten will.«
»Hm«, meinte Olivia, und sie dachte nach, bevor sie wieder sprach. Regenwasser strömte zu ihrer Rechten vom Dach herunter. Blitze zuckten durch die unruhige Dunkelheit. »Ich nehme an … vielleicht habe ich Angst, zu glauben. Das würde bedeuten, sich wieder zu öffnen, nicht wahr? Ich schätze, es ist sicherer, in einem Raum mit einem Bild von deinem toten Ehemann zu sitzen und zu denken … nicht mehr lange, und wir werden wieder vereint sein.«
»Gib nicht auf«, sagte Dave.
»Auf einen Jungen vertrauen, der sein Gedächtnis verloren hat? Auf zwei Wörter aus einem Traum vertrauen? Das bedeutet, sich an den letzten Strohhalm zu klammern, denke ich.«
»Sicher ist es das. Aber es bedeutet auch, dass es etwas gibt, an das man sich klammern kann.«
Olivia nickte und lächelte schwach. Es lag so viel Schmerz hinter dem Lächeln, dass Dave seinen Kopf senken und wegschauen musste.
»Ich gehe morgen mit dir«, sagte sie zu ihm.
»Das musst du nicht. Wir müssen nicht zu zweit reiten.«
»Vielleicht will ich mich auch noch etwas länger an etwas klammern. Außerdem sind es meine Pferde.« Die Herde hatte sie von der Ranch mitgebracht, die ihr mit Vincent gehört hatte. Zu sehen, wie sie nacheinander geschlachtet und gegessen wurden, war zunächst verheerend gewesen. Jetzt war es eine Frage des Überlebens.
»Okay.« Dave legte eine Hand auf ihre Schulter. »Wir treffen uns um acht vor dem Stall?«
»Ich werde da sein.«
Daran hatte Dave keinen Zweifel. Sie schützten sich vor dem Regen, so gut sie konnten, und trennten sich am Fuß der Treppe. Dave kehrte zu seiner Wohnung und seinem Schlafsack auf dem grauen Sofa zurück. Olivia ging in ihre Wohnung, zündete mit einem Streichholz den Docht der Lampe an und setzte sich an ihren Schreibtisch. Dort nahm sie den Magic Eight Ball, den Vincent ihr geschenkt hatte. Sie drehte ihn zwischen den Händen und erinnerte sich an den Tag, an dem der Ball in rotes Papier mit silbernem Geschenkband eingepackt gewesen war. Das war, so schien es, vor langer Zeit gewesen.
Und jetzt musste sie gegen jede Logik und gegen jede Vernunft eine Frage stellen. Sie flüsterte, als spräche sie in Vincents Ohr.
»Soll ich glauben?«
Sie schüttelte den Ball und drehte ihn herum.
Der kleine weiße Plastikwürfel tauchte aus seiner Tintensuppe auf.
Vielleicht war es Vincent, der ihr antwortete, vielleicht war es das Schicksal, vielleicht war es nur ein Zufall, was für sie am wahrscheinlichsten war.
Die Antwort lautete: Du kannst dich darauf verlassen.
Sie nahm die Lampe mit und ging in den nächsten Raum, um sich auszuziehen. Sie schlüpfte in ihr Bett, wo gute Träume und der Glaube an Wunder nicht häufig zu Gast waren, aber stets eine Pistole unter dem Kopfkissen verstaut war.
Kapitel 8
Ein trübseliger gelber Himmel erstreckte sich über ihnen. Es ging kein Wind, aber die Luft roch verbrannt. Die Pferde waren nervös und reagierten zu heftig auf jede Berührung. Dave ritt neben Olivia, als sie das metallbeschlagene Tor passierten, das für sie geöffnet worden war. Sobald sie die Straße hinunterritten, schloss sich das Tor wieder hinter ihnen, so wie Olivia es angeordnet hatte. An jeder Ecke der Mauer um Panther Ridge, die wieder ausgebessert und neu befestigt worden war, saßen Maschinengewehrschützen hinter ihren Waffen und suchten sowohl den stillen Himmel als auch die unheilverkündende Erde ab.
Die beiden Reiter steuerten auf die Highschool unten im Tal zu. Gelegentlich kamen sie am Hang an einer Hand, einem Arm oder einem Kopf eines der albtraumhaften Wesen vorbei, die ihre Festung zu erstürmen versucht hatten. Nun steckten sie wie seltsame Blumen in den Spalten im Boden. Die Geier waren sehr beschäftigt; Dave musste daran denken, dass es ihnen egal war, welches Fleisch sie fraßen, und so würden sie wahrscheinlich ebenfalls infiziert und verwandelten sich in … was?
Seine Uzi steckte in seinem Schulterholster und in einem Holster an seinem Gürtel hing ein Smith & Wesson .357 Magnum-Revolver, der Mitch Vandervere gehört hatte. In Mitchs Wohnung hatte er vier Schachteln mit jeweils zwanzig Schuss gefunden, und der Revolver fasste fünf Patronen. Das war der Stand der Dinge. Wenn jemand fiel, zogen diejenigen, die die Leiche beerdigen mussten, Strohhalme oder Karten. Der Gewinner nahm die Waffen und die Munition des Verstorbenen, jeglicher Streit darüber war tabu. Dave hatte mit der besseren Karte über Mitchs kopfloser Leiche gewonnen. In Daves Besitz befanden sich jetzt also 80 Magnum-Runden und fünf Magazine mit jeweils zweiunddreißig Schuss für die Uzi, und damit war es das. Olivia trug ihr Gewehr über der Schulter, zusammen mit einer kleinen schwarzen Ledertasche, in der noch dreißig Patronen steckten.
Sie sprachen nicht, während sie ritten. Sie hatten auch nicht über ihre Mission gesprochen, bevor sie aufgebrochen waren. Ein paar Männer hatten angeboten, mit ihnen zu kommen, als zusätzlicher Schutz, aber die Angebote waren halbherzig gewesen. Olivia hatte abgelehnt. Sie würden das allein schaffen.
Sie überquerten die offene Ebene, die von Kratern durchzogen war. Krater, deren Ränder von den außerirdischen Waffen schwarz verbrannt und verkrustet waren. Auch der Asphalt der Straße, auf der sie unterwegs waren, war von Rissen und Kratern übersät, und Olivia dachte bei sich, dass die Erde in einen Planeten transformiert wurde, den die Cypher und die Gorgonen vielleicht besser verstanden: Ein zerstörtes