DIE GRENZE. Robert Mccammon

DIE GRENZE - Robert Mccammon


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es das nicht schon war. Und jetzt, in diesem Moment, musste sie diese Gedanken aufhalten, bevor sie sie überwältigten. Sie hatte Tränen in den Augen und eine tiefe Traurigkeit in ihrem Herzen – und diese alte, tickende Zeitbombe in ihrem Kopf, die sagte, es wäre so einfach und so richtig, Vincent zu folgen. Ihr Mut und ihre Hoffnung waren kurz davor, ausgelöscht zu werden. Ihre Lebenskraft war zerfetzt und beinahe zerstört. Sie konnte fühlen, wie sie Tag für Tag nachließ. Sie wusste, wenn sie und Dave hinter die Mauern zurückkehrten, hatten sich wahrscheinlich zwei oder drei weitere Bewohner von Panther Ridge erschossen. Sie verloren mehr und mehr, und jetzt ging es immer schneller.

      White Mansion, dachte sie, als sie sich der Highschool näherten. Ethans Name war dort oben auf dem verwitterten Schild zu lesen. Das Gebäude selbst lag in Trümmern. Und auf dem Parkplatz … was war das? Drei riesige … Dinge … lagen dort, über und über bedeckt von Geiern, was wie dunkle, sich kräuselnde Haut aussah … die dicken, scheußlichen Körper waren verbrannt. Schwarze Flüssigkeit, die wie Motoröl aussah, sickerte aus ihnen heraus. Hier und dort waren Umrisse zu sehen, an denen kleinere Körper gelegen hatten, nur dass sie jetzt nichts weiter als schwarz glänzende Überreste waren, die Kautschukfetzen hätten sein können. Sie wusste, was das war, sie hatte sie schon einmal gesehen. Die Überreste der Cypher-Soldaten, die in kürzester Zeit Blasen warfen und ins Nichts hinwegschmolzen. Aber diese Kreaturen … diese Monster … Olivia musste sich auf etwas anderes konzentrieren, und zwar schnell. »Dave?«, fragte sie mit schwacher Stimme. »Was ist mit den Autos passiert? Die, die früher hier gestanden haben?«

      »Frag lieber nicht«, sagte er, weil Hannah Grimes ihm erzählt hatte, was sie durch das Fernglas gesehen hatte. Und weil er Hannah – ein zähes altes Mädchen – gesagt hatte, dass sie die Sache unter Verschluss halten sollte, um des lieben Jesus willen. Bis jetzt redete Hannah nicht, aber es war wohl nur eine Frage der Zeit. Alien-Fleisch aus irdischem Metall zu schaffen war ein neuer Trick; wenn das in Panther Ridge die Runde machte, konnten sie den Laden dichtmachen.

      Die Pferde schnauften und zitterten und waren nicht bereit, auf den Parkplatz zu gehen. »Komm schon, los, los«, sagte Dave zu seinem Reittier, aber die Augen des Pferdes hatten einen wilden Ausdruck angenommen und tief in seiner Lunge rumpelte es wie eine Lawine. Die Botschaft schien zu sein: Du magst ein verdammter Narr sein, aber ich bin es nicht. Kein Schritt weiter, Kumpel.

      »Was sind das für Viecher?« Olivia hatte es endlich geschafft, einen längeren Blick auf die Monster zu werfen, auch wenn ihr Pferd sich gerade zurückzog, als hätte es Angst, in eine Teergrube zu stürzen. »Dave?«

      »Was auch immer es war, jetzt ist es tot.« Er stieg aus dem Sattel und suchte nach einem Platz, an dem er sein Pferd festbinden konnte. Das letzte Mal, als er vor ein paar Monaten hier gewesen war, hatte er die vordere Stoßstange eines Pick-ups benutzt. Derselbe Pick-up war vor Kurzem weggegangen und wurde jetzt wahrscheinlich dort drüben von Geiern zerrissen. Er bemerkte die Vertiefungen im Asphalt, die wahrscheinlich durch das Gewicht dieser Dinger verursacht worden waren. Metall zu Fleisch. Ein unbelebtes Objekt zu einem lebendigen Wesen. Ein guter Trick, wenn man ihn beherrschte. Er erinnerte sich an etwas, das er wahrscheinlich in einem Buch an seiner Highschool gelesen hatte. Es war lange her, aber er hatte es sich gemerkt, weil er den Gedanken für cool hielt. Wie war das noch gleich? Ungefähr so: Jede weit fortgeschrittene Technologie sieht wie Zauberei aus. War das hier der Fall? Nein, aber nah genug dran. Nun, hier war die weit fortgeschrittene Technologie und zeigte ihre Magie.

      Verdammt sollen sie sein, dachte er. Ihre Waffen wurden immer merkwürdiger und tödlicher. Ein Wettrüsten, hatte Ethan gesagt. »Ja, und wir stecken mitten drin in der Scheiße«, flüsterte Dave auf diesen Gedanken hin, woraufhin Olivia fragte: »Was?« Er zuckte nur mit den Schultern und ließ das Pferd zu einem Stoppschild laufen, das in der Nähe der Einfahrt zum Parkplatz stand. Es war beinahe in der Mitte komplett umgebogen worden, vermutlich von der gleichen Druckwelle, die die Fenster der Schule zerschmettert hatte. »Wenn du hierbleiben willst, ist das in Ordnung für mich«, sagte er. »Ich finde die Bibliothek schon.«

      Olivia war bereits dabei, abzusteigen. Sie führte ihr nervöses Pferd ebenfalls an das Stoppschild und band es an. Ihre Augen waren auf Dave fixiert, aber sie wollten immer wieder abschweifen, um die toten Kreaturen noch einmal anzusehen, und sie wusste, dass sie nicht allein hier draußen bleiben konnte.

      Sie schob das Gewehr von ihrer Schulter, mit einer sanften, eingeübten Bewegung, in der sie langsam richtig gut wurde. Niemals in ihrem Leben hätte sie geglaubt, dass aus ihr einmal eine Kriegerin werden würde. Aber jetzt war sie hier, und sie war bereit zu kämpfen, wenn es sein musste.

      »Lass uns gehen«, sagte sie.

      Sie folgten einem Weg aus aufgerissenen Betonplatten bis zu einer Steintreppe, die in das Gebäude führte. Ein Türflügel war nach innen aus den Angeln gedrückt worden, der andere hing schief wie ein Betrunkener an Samstagnacht. Oder, wenn Dave es recht bedachte, wie in einem früheren Leben Betrunkene in der Samstagnacht schief zu hängen pflegten. Das Licht im Inneren war trüb und von einem fleckigen Gelb wie der grässliche Himmel. Glas knirschte unter ihren Stiefeln, ein Geräusch, das Olivia an diesem stillen Ort fürchterlich laut erschien.

      Aber es war nicht vollkommen still. An hundert Stellen tropfte Wasser von der Decke. Nasse Papiere klebten auf dem Boden und hatten die Farbe von aufgebrühtem Tee angenommen. Die Bodenfliesen kippelten ein wenig, als Dave und Olivia darüber gingen. Der Boden selbst fühlte sich schwammig an, als würde er gerade noch so von verrotteten Balken getragen, die kurz vor dem Zusammenbruch standen. Sie kamen an einer Vitrine vorbei, die einst die Trophäen der Sportmannschaften der Highschool zur Schau gestellt hatte und die der ganze Stolz der Schule gewesen war. Jetzt lag die Vitrine zerbrochen am Boden und die Trophäen waren von zahllosen Wasserflecken dunkel geworden. Ein riesiges Wandgemälde, das wahrscheinlich von den Schülern gemalt worden war, zeigte die Welt und sie umgebende Gestalten, die Arm in Arm miteinander verbunden waren. Das Wandbild war von großen braunen Flecken durchsetzt, an denen der Putz von der Wand gefallen war, aber die verblichene Botschaft »Die Menschenfamilie« war noch lesbar.

      »Das hier war das Büro«, sagte Dave, als sie an einer offenen Tür vorbeikamen. »Der Speisesaal ist da oben. Die medizinischen Vorräte habe ich in einem Zimmer ein Stückchen weiter gefunden. Die Bibliothek muss irgendwo dahinter sein.«

      Olivia nickte. Wasser tropfte geräuschvoll aus einem Wasserhahn. Pfützen hatten sich um weggeworfene Notizbücher und Trümmerteile gebildet, die in der Panik aus den offenen Spinden der Schüler herausgefallen waren, als diese versucht hatten, an jenem Tag im April nach Hause zu kommen. Sie konnte sich vorstellen, wie die Lehrer und der Schulleiter versucht hatten, die Ordnung aufrechtzuerhalten, wie die Sprechanlage geknistert hatte, wie die Eltern über diese Gänge auf der Suche nach ihren Kindern geschwärmt waren, während die Nachrichtensendungen die Gorgonenschiffe zeigten, die Städte auf der ganzen Welt zerstörten. Nur Geister sind hier zurückgeblieben, dachte sie. Die Geister einer Lebensweise; die Geister nicht nur des amerikanischen Traums, sondern des Traums von der Menschenfamilie.

      »Alles okay?«, fragte Dave.

      »Ja«, antwortete sie, aber er wusste, dass nicht alles okay war. Also sagte er: »Wir werden nicht lange hier drin sein.« Und sie sagte nichts weiter.

      Sie drangen tiefer in die vergilbte Düsternis vor. Eine angelaufene Trompete lag auf dem verzogenen Holzfußboden. Gideon hat das Gebäude verlassen, dachte Olivia. Das brachte sie fast zum Lachen, aber es lag zu viel Traurigkeit in dieser Ruine, zu viel enttäuschte Erwartung und nicht eingelöste Versprechen. Sie wagte es nicht, darüber nachzudenken, was mit den vielen Schülern, Eltern und Lehrern geschehen war. Einige von ihnen konnten jetzt zu den Grauen gehören … wenn nicht hier, dann waren sie wahrscheinlich auf andere Weise auf der Strecke geblieben.

      »Schau«, sagte Dave, »hier sind wir wohl richtig.«

      Er war vor ihr auf dem Flur stehen geblieben. Auf einer Seite war zwischen zwei Reihen mit Spinden eine Tür mit einer von Rissen durchzogenen Glasscheibe, auf der die Aufschrift BIBLIOTHEK zu erkennen war. »Dann lass uns mal nachsehen«, sagte Dave zu ihr, aber bevor er die Tür öffnete, zog er den .357er Magnum-Revolver


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