Sind Frauen die besseren Mörder?. Sigrun Roßmanith

Sind Frauen die besseren Mörder? - Sigrun Roßmanith


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       Kriminalstatistik

       Ich möchte mich der großen Frage nach dem Warum mit scheinbar kleineren Fragen nähern. Vielleicht erfährt man etwas über das Zentrale, das Mörderische, indem man die Peripherie abschreitet? Und vielleicht ist unsere Gesellschaft eine generell mörderische? Vielleicht verbergen sich hinter den sichtbar gewordenen Taten von wenigen die verborgenen Abgründe von vielen?

      Peter Turrini zu seinem Stück »Aus Liebe«, 2013

       Forget your perfect offering there is a crack in everything that’s how the light gets in

      Leonard Cohen, »Anthem«

       Für meine Mutter

       Vorwort

      Es ist spät abends. Ich höre in den Nachrichten, dass eine junge Mutter ihre beiden Kinder aus dem vierten Stock ihres Wohnhauses geworfen hat, hinterhergesprungen ist und verletzt überlebt hat. Die Kinder sind tot. Die Meldung berührt mich tief, habe ich doch selbst zwei kleine Kinder, ungefähr im selben Alter wie die getöteten. Ich weiß, dass jede Mutter an ihre Grenzen kommt, vielleicht Unsagbares denkt, aber nie danach handelt. Ich kenne die Überforderung berufstätiger Mütter, ich bin als Psychiaterin sowohl in meiner Praxis als auch an zwei Unfallspitälern tätig, wo ich seit Jahren psychiatrische Patienten betreue. In der Nacht fällt mir die Geschichte mehrmals ein. Ich frage mich, was passiert ist. Wie es soweit kommen konnte. Ich frage mich, ob ich die Mutter behandeln werde.

      Am nächsten Morgen läutet das Telefon. Am Zittern in der Stimme der Krankenschwester erkenne ich, dass die verletzte Mutter im Unfallspital auf ihrer Station aufgenommen wurde, und sie dort damit überfordert sind. Ein Teil des Pflegepersonals verachtet die Frau, sieht sie als Mörderin, der es nicht zustünde, über Leben und Tod ihrer Kinder zu bestimmen. Der andere Teil gibt die Schuld dem Ehemann, der sie offenbar in den Wahnsinn getrieben hat. Eine normale Mutter kann so etwas nicht machen, sagen sie alle. Das Schlimmste aber sei, dass die Frau sich nicht mehr erinnern kann. Sie weiß nicht, was sie getan hat, sie weiß auch nicht, dass ihre Kinder tot sind. Und niemand hat den Mut, es ihr zu sagen. Man vertröstet sie mit einer Notlüge, dass sie einen Unfall gehabt hätte und die Kinder in anderen Spitälern untergebracht wären. Jetzt braucht man jemanden, der ihr die Wahrheit sagt; es soll meine Aufgabe sein.

      Ich wecke meine Kinder, zu den Krankenbesuchen nehme ich sie stets mit. Ich überlege, wie ich der Mutter die Hiobsbotschaft beibringen soll, da fragt mich meine vierjährige Tochter: »Warum lachst du heute nicht, Mama?« Ich weiß keine Antwort. Kinder spüren, wie es den Eltern geht, sie lässt nicht locker. Ich erzähle ihr, dass ich gleich eine Frau behandeln werde, deren Kinder tot sind. Meine Tochter schaut mich an und fragt: »Glaubst du, ist sie so traurig wie du?«

      Wir fahren ins Krankenhaus; ich höre, was passiert ist. Die junge Mutter wollte nach einem Sorgerechtsstreit alles auslöschen. Ihr Leben und das ihrer Kinder. Ohne sie hat für sie nichts mehr einen Sinn. Sie nimmt die Pistole, zielt auf die Kinder, drückt ab. Sie will, dass sie ohne Schmerzen sterben und sich dann selbst richten. Aber so soll es nicht sein, es löst sich kein Schuss, die Waffe klemmt. Sie packt die Kinder, die sich wehren und um ihr Leben laufen. Möbel, Blumentöpfe, alles wird umgeworfen, die Wohnung sieht nachher aus wie ein Schlachtfeld. Sie holt die Kinder ein, sie schleppt sie auf den Balkon, sie schleudert sie vom vierten Stock. Sie springt ihnen nach. Sie landet auf dem Dach eines vorbeifahrenden Polizeiautos. Sie bricht sich ein paar Knochen, mehr nicht. Die Kinder liegen auf dem Asphalt, in Blutlachen, röchelnd, sterbend, eines ist schon am Unfallort tot. An nichts davon kann sich die Mutter erinnern.

      Ich sage ihr die furchtbare Wahrheit. In einfachen Worten, andere finde ich nicht dafür. Ich schaue in dunkle, traurige, weit aufgerissene Augen. Ich spüre mein Herz im Hals schlagen. »Das kann nicht sein, ich kann mir nicht das Liebste auf der Welt selbst genommen haben«, sagt sie tonlos. »Doch«, sage ich, »so muss es gewesen sein, vielleicht in tiefer Verzweiflung.« Sie nickt, ohne es selbst zu merken, gedankenverloren, zerstreut, ohne Erinnerung. Manchmal zieht die Natur einen Schleier über das Gewusste. Manchmal kann man sonst nicht überleben. Wir bleiben noch eine Zeit lang sitzen, wortlos und doch im Schweigen eng verbunden. Ich fühle meine Ohnmacht und den Wunsch, alles wieder gutzumachen. Ich spüre, dass das Schicksal dieser Frau mein eigenes streift.

      Ich werde ihre erloschenen Augen und ihren leeren Gesichtsausdruck nie vergessen. Es war, als würde ich in das Antlitz meines Albtraums schauen. Ich wusste von diesem Augenblick an, dass niemand, auch ich nicht, vor Wahnsinnstaten gefeit ist. Die Stimme der Vernunft spricht anders als das tief verletzte, mörderische Gefühl. Auch diese Frau konnte nicht fassen, was sie getan hatte. Der Zugang zur Wahnsinnstat blieb versperrt. Dabei war sie gar nicht wahnsinnig, aus psychiatrischer Sicht. Niemand, weder sie selbst noch jemand aus ihrer Familie, konnte ihr Handeln verstehen. Aber viele wussten, dass man die Tragödie verhindern hätte können, wenn man nur rechtzeitig gehandelt hätte. Im Nachhinein wissen immer alle, was man im Vorhinein tun hätte müssen.

      Eines wusste die Frau sicher: Unter keinen Umständen wollte sie am Leben bleiben. Schlimmer als die Todesstrafe war es für sie, mit dem grausamen, selbst verursachten Schicksal weiterleben zu müssen. Sie sprach mich als Mutter an, bat mich innig, sie von ihrem Leid zu erlösen. Am liebsten hätte ich mit ihr geweint. Aber in solchen Situationen gibt es keinen anderen Weg, als der entsetzlichen Wahrheit ins Auge zu schauen. Die unerträgliche Situation auszuhalten. Da zu sein, dabei zu bleiben. Selbst das Leid ein Stückchen weit mitzutragen, ohne daran zugrunde zu gehen. Das habe ich versucht. Stefan Zweig nannte es echtes Mitleid. Wenn wir vorschnell trösten, was ich damals so gerne getan hätte, um meine eigene Ohnmacht abzuschütteln, versuchen wir nur, uns selbst aus der Unerträglichkeit zu erlösen. Das war es, was ich damals spürte.

      Ich war froh, dass die Justizwachebeamten rund um die Uhr auf die Patientin aufpassten. Üblicherweise ist das wegen der Fluchtgefahr nötig. Hier diente es dazu, ihr unfreiwilliges Weiterleben zu gewährleisten. Monatelang habe ich sie begleitet. Von ihrer tiefsten Verzweiflung bis zur ersten Hoffnung, wieder im Leben, einem ohne Kinder, Fuß zu fassen. Wie jede Schuld von einem Bedürfnis nach Sühne begleitet wird, hatte sie den Wunsch, in einem indischen Waisenhaus elternlosen Kindern zu helfen. Für viele ist der Gedanke wahrscheinlich unfassbar, dass eine Kindsmörderin dazu imstande ist.

      Und es kam auch nicht dazu. Der psychiatrische Gerichtsgutachter hatte die Frau als zurechnungsfähig eingestuft. Das bedeutet, sie habe genau gewusst, was sie tat. Damit war ihr eine lange Freiheitsstrafe sicher, und man überstellte sie wegen ihrer Selbstmordgefährdung in eine psychiatrische Abteilung. Jede Hoffnung auf eine Zukunft war zerstört. Ich konnte die Ansicht meines Kollegen nicht teilen, aber damals war ich noch nicht als Gutachterin, sondern als behandelnde Ärztin tätig. Die Frau schrieb mir mehrmals aus der Anstalt und bat mich, sie weiter zu behandeln, was aber dort nicht mehr möglich war. Ihre Stimmungen schwankten, es war ein ständiges Auf und Ab, die Selbstmordgedanken kamen und gingen. Sie fand keine Ruhe. Nur die vielen Briefe, die sie bekam, hielten sie am Leben. Selbst mitfühlende Mütter schrieben ihr, was mich erstaunte.

      Dann hörte ich lange Zeit nichts mehr von ihr. Eines Tages sagten sie im Radio, dass sie sich umgebracht hatte. Es geschah an einem der ersten Wintertage, eineinhalb Jahre nachdem sie ihre Kinder vom Balkon geworfen hatte. Heimlich sammelte sie eine Überdosis Beruhigungsmittel, nahm sie, ging in den Wald, der das Anstaltsgelände umgibt, legte sich in den Schnee, schlief ein und erfror. Sie ging unbemerkt, man fand sie erst Tage später. Auch mein Leben nahm eine Wende. Ich entschied mich, Gerichtspsychiaterin zu werden. So begann es.

       Antwort

      Nichts fürchtet der Mensch mehr, als die Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können. Überall weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus.

      Elias Canetti

      Ein


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