Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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Passion von dir, lieber Freund, dich alle Tage bei uns einzustellen!‹ Sie ärgerte sich über mein spätes Kommen. Aber ich hatte Eile und erzählte ihr daher ohne weitere Umschweife die ganze Szene, die sich tags zuvor bei Natascha abgespielt hatte. Sowie die alte Frau von dem Besuch des Fürsten und von seinem feierlichen Antrag hörte, war ihre ganze erkünstelte Verdrossenheit sogleich verflogen. Es fehlt mir an Worten, um zu schildern, wie sie sich freute; sie war ganz fassungslos, bekreuzigte sich, weinte, verbeugte sich mehrmals tief vor dem Heiligenbild, umarmte mich und wollte sogleich zu Nikolai Sergejewitsch laufen, um ihm von ihrer Freude Mitteilung zu machen.

      »Weißt du, lieber Freund«, sagte sie zu mir, »sein Unwohlsein rührt nur von den vielerlei Kränkungen und Demütigungen her; wenn er aber jetzt erfährt, daß Natascha volle Genugtuung erhält, so wird er im Augenblick alles vergessen.«

      Nur mit großer Mühe redete ich ihr dies aus. Obwohl die gute Alte mit ihrem Mann schon fünfundzwanzig Jahre lang zusammengelebt hatte, kannte sie ihn doch noch immer schlecht. Sie hatte auch die größte Lust, gleich mit mir zu Natascha zu fahren. Ich stellte ihr vor, daß Nikolai Sergejewitsch ihren Schritt vielleicht nicht billigen werde und daß wir dadurch womöglich die ganze Sache verderben würden. Nur schwer ließ sie sich umstimmen; aber sie hielt mich noch eine halbe Stunde länger zurück und redete während dieser ganzen Zeit immer nur allein. »Nun bleibe ich ohne einen Menschen mit meiner großen Freude zurück«, sagte sie, »und sitze hier allein in den vier Wänden!« Endlich überredete ich sie, mich wegzulassen, indem ich ihr vorstellte, daß mich Natascha jetzt ungeduldig erwarte. Die alte Frau bekreuzte mich für meinen Weg mehrmals, trug mir auf, ihrer Tochter ihren besonderen Segen zu überbringen, und fing beinahe an zu weinen, als ich ihr mit aller Entschiedenheit erklärte, ich würde an diesem selben Tag nicht noch einmal am Abend kommen, es müßte denn sein, daß sich mit Natascha etwas Besonderes zutrüge. Den alten Ichmenew bekam ich diesmal nicht zu sehen: er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, über Kopfschmerz und Fieber geklagt und schlief jetzt in seinem Zimmer.

      Auch Natascha hatte den ganzen Vormittag über auf mich gewartet. Als ich eintrat, ging sie nach ihrer Gewohnheit mit verschränkten Armen nachdenkend im Zimmer auf und ab. Auch jetzt kann ich, wenn ich an sie zurückdenke, sie mir nicht anders vorstellen, als wie sie immer allein in dem ärmlichen Stübchen, nachdenkend, wartend, mit zusammengelegten Armen und niedergeschlagenen Augen zwecklos hin und her ging.

      Leise, und ohne ihre Wanderung zu unterbrechen, fragte sie, warum ich so spät käme. Ich erzählte ihr in Kürze alle meine Erlebnisse, aber sie hörte mir kaum zu. Es war ihr anzumerken, daß sie mit einer Sorge beschäftigt war.

      »Was gibt es Neues?« fragte ich.

      »Neues gar nichts!« erwiderte sie, aber mit einer Miene, aus der ich sofort erriet, daß sie allerdings etwas Neues hatte und eben deswegen auf mich gewartet hatte, um mir dieses Neue zu erzählen; ich wußte aber, daß sie es mir nach ihrer Gewohnheit nicht sogleich erzählen werde, sondern erst wenn ich mich anschicken würde wegzugehen.

      So machte sie es immer. Ich hatte mich schon in diese ihre Besonderheit gefunden und wartete auch diesmal. Wir begannen unser Gespräch selbstverständlich mit den Ereignissen des vorhergehenden Tages. Besonders überraschte es mich, daß wir beide in unserm Urteil über den alten Fürsten vollständig übereinstimmten: er mißfiel ihr entschieden, und zwar in noch weit höherem Grad als tags zuvor. Und nachdem wir seinen ganzen Besuch Punkt für Punkt durchgesprochen hatten, sagte Natascha plötzlich:

      »Hör mal, Wanja, es pflegt ja immer so zu gehen: wenn einem jemand am Anfang mißfällt, so ist das ein Zeichen dafür, daß er einem später bestimmt gefallen wird. Wenigstens ist es mir immer so gegangen.«

      »Das gebe Gott, Natascha! Außerdem möchte ich meine Meinung definitiv dahin aussprechen: ich habe alles genau durchdacht und bin zu dem Resultat gelangt, daß der Fürst, wenn auch sein Wesen viel Jesuitenhaftes hat, doch mit eurer Heirat wirklich und im Ernst einverstanden ist.«

      Natascha blieb mitten im Zimmer stehen und sah mich finster an. Ihr ganzes Gesicht hatte sich verändert; sogar die Lippen bebten leise.

      »Wie sollte er es denn überhaupt bei einer solchen Sache fertigbekommen, sich zu verstellen und … zu lügen? fragte sie mit stolzer Verwunderung.

      »Nun eben, nun eben!« stimmte ich ihr eilig zu.

      »Selbstverständlich hat er nicht gelogen. Ich meine, daran ist überhaupt nicht zu denken. Für eine solche Verstellung läßt sich auch gar kein Anlaß ersinnen. Und schließlich, wofür müßte er mich denn halten, wenn er es fertigbrächte, sich in solcher Weise über mich lustig zu machen? Kann ein Mensch wirklich einer solchen Beleidigung fähig sein?«

      »Ganz recht, ganz recht!« fiel ich bestätigend ein, dachte aber im stillen: ›Du hast gewiß jetzt eben, während du im Zimmer hin und her gingst, darüber nachgedacht, mein armes Kind, und zweifelst vielleicht in noch höherem Grad als ich.‹

      »Ach, wie sehr wünsche ich, daß er recht bald zurückkäme!« sagte sie. »Er wollte den ganzen Abend bei mir bleiben, und dann … Es müssen wohl wichtige Angelegenheiten sein, wenn er alles stehen und liegen ließ und fortfuhr. Weißt du nicht, was für welche, Wanja? Hast du nichts gehört?«

      »Gott mag es wissen. Er ist ja immer auf Gelderwerb aus. Ich habe gehört, daß er sich hier in Petersburg an einer Lieferung für den Staat beteiligt. Wir verstehen nichts von Geschäften, Natascha.«

      »Gewiß, wir verstehen nichts davon. Aljoscha sprach gestern von einem Brief.«

      »Es wird irgendeine Nachricht darin gestanden haben. War denn Aljoscha heute hier?«

      »Ja.«

      »Frühzeitig?«

      »Um zwölf; er schläft ja immer lange. Er hat ein Weilchen hier gesessen. Dann habe ich ihn fortgejagt zu Katerina Fjodorowna; es ging doch nicht anders, Wanja.«

      »Wollte er denn nicht selbst dorthin gehen?«

      »O doch, er wollte selbst hin …«

      Sie wollte noch etwas hinzufügen, verstummte aber. Ich sah sie an und wartete. Ihr Gesicht war traurig. Ich hätte sie gern gefragt; aber es mißfiel ihr manchmal sehr, wenn man sie fragte.

      »Er ist ein sonderbarer Junge«, sagte sie endlich; sie verzog den Mund ein wenig und vermied es, mich anzusehen.

      »Wieso? Gewiß hat es zwischen euch etwas gegeben?«

      »Nein, nichts; ich sagte es bloß so … Er war übrigens ganz liebenswürdig … Nur …«

      »Nun, jetzt hat ja all sein Kummer und all seine Sorge ein Ende genommen«, sagte ich.

      Natascha blickte mich unverwandt und prüfend an. Vielleicht hätte sie selbst Lust gehabt, mir zu antworten: »Er hat auch vorher nur wenig Kummer und Sorge gehabt«; aber sie hatte das Gefühl, daß in meinen Worten dieser selbe Sinn lag. Sie machte deswegen ein finsteres Gesicht.

      Indessen wurde sie sofort wieder freundlich und liebenswürdig. Sie war diesmal außerordentlich sanft. Ich saß bei ihr über eine Stunde. Sie beunruhigte sich sehr. Der Fürst ängstigte sie. Ich merkte an manchen Fragen, die sie stellte, daß sie gern erfahren hätte, welchen Eindruck sie gestern auf ihn gemacht habe. Ob sie sich richtig benommen habe; ob sie ihre Freude ihm gegenüber nicht zu stark zum Ausdruck gebracht habe; ob sie nicht zu empfindlich gewesen sei oder im Gegenteil zu demütig. Wenn er doch nichts Schlechtes von ihr dächte; wenn er sich doch nicht über sie lustig machte; wenn er sie doch nicht geringschätzte! … Von diesen Gedanken glühten ihre Wangen wie Feuer.

      »Wie kann man sich nur so darüber aufregen, was ein schlechter Mensch etwa von einem denken mag!« sagte ich. »Mag er denken, was er will!«

      »Warum soll er denn schlecht sein?« fragte sie.

      Natascha war argwöhnisch, hatte aber ein reines Herz, eine offene Denkweise. Ihr Argwohn ging aus einer reinen Quelle hervor. Sie besaß ihren Stolz, einen edlen Stolz, und konnte es nicht ertragen, wenn das, was sie hochschätzte, vor ihren Augen der Verspottung preisgegeben wurde. Auf Geringschätzung seitens eines niedrigen Menschen hätte sie sicherlich nur mit Geringschätzung geantwortet; aber doch hätte ihr das Herz weh getan bei einer


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