Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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besaß, nicht gewohnt war, sich unter Menschen zu bewegen, sich immer still für sich in ihrem Winkel gehalten hatte. Sie hatte ihr ganzes Leben in ihrem Eckchen verbracht, fast ohne es je zu verlassen, Und endlich war bei ihr eine Eigenschaft gutmütiger Leute, die vielleicht von ihrem Vater auf sie übergegangen war, in besonders starkem Maße entwickelt: nämlich einen Menschen übermäßig zu loben, ihn hartnäckig für besser zu halten, als er in Wirklichkeit war, und alles Gute an ihm eifrig zu übertreiben. Die Enttäuschung empfinden solche Leute nachher schmerzlich, besonders schmerzlich, wenn sie fühlen, daß sie selbst daran schuld sind. Warum haben sie auch mehr erwartet, als die andern geben konnten? Und eine derartige Enttäuschung erwartet solche Leute in jedem Augenblick. Das beste ist schon, wenn sie ruhig in ihren Winkeln sitzen bleiben und nicht in die Welt hinausgehen; ich habe sogar bemerkt, daß sie tatsächlich ihre kleine Welt dermaßen lieben, daß sie in ihr ganz menschenscheu werden. Übrigens hatte Natascha ja auch viel Leid und viele Kränkungen zu ertragen gehabt. Sie war bereits ein krankes Wesen, und man kann ihr keinen Vorwurf machen, wenn überhaupt in meinen Worten ein Vorwurf liegt.

      Aber ich hatte Eile und stand auf, um wegzugehen. Sie war erstaunt darüber, daß ich schon gehen wollte, und fing beinahe an zu weinen, obwohl sie in der ganzen Zeit, während ich bei ihr gesessen hatte, mir keinerlei besondere Zärtlichkeit erwiesen, sondern sich im Gegenteil anscheinend ungewöhnlich kühl gegen mich benommen hatte. Sie küßte mich herzlich und sah mir lange in die Augen.

      »Höre«, sagte sie, »Aljoscha war heute sehr komisch und hat mich sogar in Erstaunen versetzt. Er war sehr liebenswürdig und, wie es schien, sehr glücklich; aber er kam hereingeflattert wie ein Schmetterling, wie ein Geck und drehte sich immer vor dem Spiegel herum. «Er benimmt sich jetzt gar zu ungeniert … er ist auch nicht lange hiergeblieben. Stelle dir nur vor: er hat mir Konfekt mitgebracht!« »Konfekt? Nun, das ist doch sehr liebenswürdig und harmlos. Ach, was seid ihr alle beide für Menschen! Da habt ihr nun jetzt angefangen, einander zu beobachten, euch auszuspionieren, einer des andern Gesicht zu studieren, geheime Gedanken darauf zu lesen (und doch versteht ihr nichts von dem, was darauf geschrieben steht!). Und ihm schadet das noch nicht viel; er ist vergnügt und jungenhaft wie früher. Aber du, du!«

      Jedesmal, wenn Natascha ihren Ton änderte, um mir entweder eine Klage über Aljoscha vorzutragen oder sich von mir irgendwelche peinlichen Zweifel lösen zu lassen oder mir ein Geheimnis mitzuteilen, wobei sie wünschte, daß ich es aus halben Worten und Andeutungen verstehen möchte, dann blickte sie mich mit halbgeöffnetem Mund an, so daß ihre Zähne sichtbar wurden, und bat gleichsam flehentlich, ich möchte unter allen Umständen eine Antwort geben, von der ihr gleich leichter ums Herz werde. Aber ich erinnere mich auch, daß ich in solchen Fällen immer einen mürrischen, scharfen Ton annahm, als ob ich jemanden ausschölte; das geschah bei mir ganz unwillkürlich, wirkte aber immer gut. Mein finsteres, wichtigtuendes Benehmen war am richtigen Platz und verlieh mir eine gewisse Autorität; und der Mensch verspürt ja manchmal das unwiderstehliche Bedürfnis, sich von jemandem ausschelten zu lassen. Natascha wenigstens war, wenn wir uns dann trennten, meist ganz getröstet.

      »Nein, siehst du, Wanja«, fuhr sie fort, indem sie ihre eine Hand auf meiner Schulter behielt, mit der andern meine Hand drückte und mit ihren Augen in meinen zu lesen suchte, »es schien mir, als ob sein Gefühl nicht sehr tief war … er kam mir vor wie so ein mari, weißt du, wie ein Mann, der schon zehn Jahre verheiratet ist, sich aber immer noch gegen seine Frau liebenswürdig benimmt. Ist es nicht jetzt noch zu früh dazu? Er lachte und drehte sich hin und her, aber als ob dieses ganze Benehmen gegen mich nur oberflächlich wäre und er sich schon zum Teil zurückzöge; es war nicht so wie früher … Er hatte es sehr eilig, zu Katerina Fjodorowna zu kommen … Ich redete mit ihm; aber er hörte nicht zu oder fing von etwas anderem an zu sprechen, weißt du, diese häßliche Gewohnheit vornehmer Leute, die wir beide ihm abzugewöhnen gesucht haben. Kurz, er war eigentümlich … ordentlich gleichgültig … Aber was rede ich! Ich bin ganz ins Anklagen hineingekommen! Ach, Wanja, was sind wir alle für anspruchsvolle, eigensinnige Despoten! Erst jetzt sehe ich es ein! Wir verzeihen einem Menschen nicht einmal eine bloße Veränderung der Miene, und eine solche Veränderung kann doch Gott weiß was für Ursachen haben! Du hast recht, Wanja, daß du mir soeben Vorwürfe gemacht hast! Ich allein bin an allem schuld! Wir schaffen uns selbst Kummer, und dann beklagen wir uns noch! … Ich danke dir, Wanja; du hast mich vollständig getröstet. Ach, wenn er doch heute käme! Aber vielleicht ist er noch von vorhin böse.«

      »Habt ihr euch denn wirklich schon gezankt?« rief ich erstaunt.

      »Nein, ich habe mir nichts merken lassen! Ich war nur ein bißchen traurig; er aber, der zunächst heiter gewesen war, wurde dann nachdenklich und nahm, wie mir schien, von mir etwas trocken Abschied. Aber ich will zu ihm schicken und ihn bitten herzukommen … Komm du doch heute auch her, Wanja!«

      »Ich komme bestimmt, wenn mich nicht eine andere Sache aufhält.«

      »Nun, was ist denn das für eine Sache?«

      »Ich habe mir da etwas auf den Hals geladen! Doch glaube ich, daß ich bestimmt kommen werde.«

      Siebentes Kapitel

      Pünktlich um sieben Uhr war ich bei Masslobojew. Er wohnte in der Schestilawotschnaja, in einem kleinen Haus, in einem Seitengebäude, in einer ziemlich unsauberen Wohnung von drei Zimmern, die übrigens nicht ärmlich möbliert waren. Es war sogar eine gewisse Wohlhabenheit sichtbar, gleichzeitig aber eine sehr mangelhafte Ordnung. Es öffnete mir ein auffallend hübsches Mädchen von ungefähr neunzehn Jahren, einfach, aber nett gekleidet, sehr sauber aussehend und mit überaus gutmütigen, lustigen Augen. Ich erriet sogleich, daß dies eben jene Alexandra Semjonowna sei, deren er heute schon Erwähnung getan und deren Bekanntschaft zu machen er mich aufgefordert hatte. Sie fragte mich, wer ich sei, und als sie meinen Namen hörte, sagte sie, er erwarte mich, schlafe aber jetzt gerade in seinem Zimmer; dorthin führte sie mich denn auch. Masslobojew schlief auf einem schönen, weichen Sofa; zugedeckt hatte er sich mit seinem schmutzigen Mantel; unter dem Kopf hatte er ein abgescheuertes Lederkissen. Sein Schlaf war nicht tief; kaum waren wir eingetreten, als er mich sogleich beim Namen rief.

      »Ach, du bist es? Ich habe dich erwartet. Eben habe ich geträumt, daß du kämest und mich aufwecktest. Also, es ist Zeit; wir wollen fahren!«

      »Wohin denn?«

      »Zu einer Dame.«

      »Zu was für einer Dame? Wozu?«

      »Zu Frau Bubnowa, um bei ihr gründlich zu kassieren. Ach, was ist das für eine schöne Frau!« sagte er, sich zu Alexandra Semjonowna wendend, in gedehntem Ton und küßte sogar seine Fingerspitzen bei der Erinnerung an Frau Bubnowa.

      »Ach, geh doch! Schwindel!« sagte Alexandra Semjonowna, die es für ihre unvermeidliche Pflicht hielt, ein bißchen böse zu werden.

      »Du bist mit ihr noch nicht bekannt? Ich will dich vorstellen, lieber Freund. Hier, Alexandra Semjonowna, stelle ich dir einen großen Schriftsteller mit Generalsrang vor; er ist nur einmal im Jahr umsonst zu sehen, die übrige Zeit nur für Geld.«

      »Ach, du hältst einen immer nur zum Narren. Bitte, hören Sie nicht auf ihn; er macht sich immer nur über mich lustig. Wie wird denn der Herr ein General sein!«

      »Ich sage dir ja, daß er eine besondere Art von General ist. Du aber, Exzellenz, glaube ja nicht, daß sie dumm ist; sie ist viel klüger, als es auf den ersten Blick scheint.«

      »Hören Sie nicht auf ihn! Immer redet er vor den Ohren braver Leute Schlechtes von unsereinem, der schamlose Mensch! Dafür sollte er einen lieber mal ins Theater führen!«

      »Eine schöne Regel lautet, Alexandra Semjonowna: ›Liebe dein eigenes Heim!‹ Hast du auch den andern Ausdruck für das, was man lieben muß, nicht vergessen? Hast du das Fremdwort behalten? Ich hatte es dir doch so schön beigebracht!«

      »Gewiß habe ich es behalten. Es wird wohl irgendwelchen Unsinn bedeuten.«

      »Nun, wie hieß das Fremdwort?«

      »Na ja, ich werde mich auch gerade vor dem Gast blamieren! Es bedeutet vielleicht etwas Unpassendes. Ich beiße mir lieber die Zunge ab, ehe ich es sage.«

      »Also hast du es vergessen?«

      »Nein,


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