Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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Energie war ihr plötzlich abhanden gekommen. Sie blickte gerade vor sich hin, ohne etwas zu sehen, und schien sogar vergessen zu haben, daß sie Aljoschas Hand in der ihrigen hielt. Dieser weinte still seinen Kummer aus und richtete mitunter in ängstlicher Spannung seinen Blick auf sie.

      Endlich begann er schüchtern, sie zu trösten; er flehte sie an, nicht böse zu sein; er beschuldigte sich selbst; es war klar, daß er lebhaft wünschte, seinen Vater zu rechtfertigen, und daß ihm dies besonders am Herzen lag; mehrere Male fing er an davon zu sprechen, wagte aber nicht, sich deutlich auszudrücken, da er fürchtete, aufs neue Nataschas Zorn zu erregen. Er schwur ihr ewige, unveränderliche Liebe und verteidigte mit Wärme seine Anhänglichkeit an Katja; fortwährend wiederholte er, er liebe Katja nur wie eine Schwester, wie eine liebe, gute Schwester, die er doch nicht ganz verlassen könne; dies würde sogar roh und grausam von seiner Seite sein; und er versicherte immerzu, wenn Natascha Katja kennenlerne, würden sie beide sogleich so gute Freundinnen werden, daß sie sich nie mehr voneinander würden trennen wollen, und dann werde es keinerlei Mißverständnisse mehr geben. Dieser Gedanke gefiel ihm ganz besonders. Der arme Junge sagte wirklich nichts, was er nicht selbst glaubte. Er hatte kein Verständnis für Nataschas Befürchtungen und hatte überhaupt nicht recht verstanden, was sie vorher zu seinem Vater gesagt hatte. Er verstand nur, daß sie sich entzweit hatten, und das lag ihm wie ein Stein auf dem Herzen.

      »Bist du mir wegen deines Vaters böse?« fragte Natascha.

      »Kann ich ihn anklagen«, antwortete er traurig, »wenn ich doch selbst die Ursache von allem bin und alles verschuldet habe? Ich habe dich so erzürnt, und da hast du in deinem Zorn auch ihn beschuldigt, weil du mich rechtfertigen wolltest: du suchst mich immer zu rechtfertigen, und ich verdiene das gar nicht. Es mußte ein Schuldiger gefunden werden, und da hast du gemeint, er sei es. Aber wahrhaftig, er ist nicht schuldig, wahrhaftig nicht!« rief Aljoscha in lebhafter Erregung. »Ist er etwa in solcher Gesinnung hergekommen? Hatte er das erwartet?«

      Aber als er sah, daß ihn Natascha traurig und vorwurfsvoll anblickte, wurde er sofort ängstlich.

      »Nun, ich werde es nicht wieder sagen, ich werde es nicht wieder sagen; verzeih mir«, stammelte er; »ich bin an allem schuld!«

      »Ja, Aljoscha«, sagte sie schwermütig, »jetzt ist er zwischen uns getreten und hat uns unsern Frieden fürs ganze Leben zerstört. Du hast immer zu mir mehr Vertrauen gehabt als zu allen andern; aber jetzt hat er in dein Herz Argwohn und Mißtrauen gegen mich hineingeträufelt; du klagst mich an; er hat mir die Hälfte deines Herzens genommen. Eine schwarze Katze ist zwischen uns hindurchgelaufen.«

      »Sprich nicht so, Natascha! Warum sagst du: ›eine schwarze Katze‹?«

      Er fühlte sich durch diesen Ausdruck gekränkt.

      »Durch heuchlerische Güte, durch erlogene Hochherzigkeit hat er dich für sich gewonnen«, fuhr Natascha fort, »und jetzt wird er dich immer mehr gegen mich aufreizen.«

      »Ich schwöre dir, daß es nicht so ist!« rief Aljoscha mit noch größerer Wärme. »Er war gereizt, als er sagte: ›Wir haben uns übereilt.‹ Du wirst das selbst sehen: gleich morgen oder in den nächsten Tagen wird er sich besinnen, und sollte er so zornig geworden sein, daß er unsere Ehe wirklich nicht mehr will, so werde ich ihm nicht gehorchen; das schwöre ich dir. Vielleicht wird meine Kraft dazu ausreichen … Und weißt du, wer uns helfen wird?« rief er auf einmal, ganz entzückt über seine Idee. »Katja wird uns helfen! Und du wirst sehen, du wirst sehen, was für ein prächtiges Geschöpf sie ist! Du wirst sehen, ob sie deine Nebenbuhlerin sein und uns voneinander trennen will! Und wie ungerecht bist du vorhin gewesen, als du sagtest, ich sei einer von denen, deren Liebe am Tage nach der Hochzeit erkalten könne! Es ist mir äußerst schmerzlich gewesen, das zu hören! Nein, ich bin nicht so, und wenn ich Katja häufig besucht habe …«

      »Laß gut sein, Aljoscha; besuche sie, sooft du magst! So habe ich es vorhin nicht gemeint. Du hast nicht alles verstanden. Sei glücklich, mit wem du willst! Ich kann doch von deinem Herzen nicht mehr fordern, als es mir zu geben vermag …«

      Mawra trat ins Zimmer.

      »Wie ist’s? Soll ich den Tee hereinbringen, ja? Es ist zu ärgerlich: zwei Stunden lang kocht der Samowar schon; es ist elf Uhr.«

      Sie fragte in grobem, verdrießlichem Ton; offenbar war sie sehr schlechter Laune und über Natascha aufgebracht. Die Sache war die: Sie war die ganzen Tage her, seit Dienstag, in einem solchen Freudenrausch über die bevorstehende Heirat ihrer jungen Herrin (der sie außerordentlich zugetan war) gewesen, daß sie diese Nachricht schon im ganzen Haus, in der Nachbarschaft, beim Kaufmann und beim Hausknecht verkündigt hatte. Sie hatte geprahlt und triumphierend erzählt, der Fürst, ein vornehmer Herr, ein General, und furchtbar reich, sei selbst hergekommen, um ihr Fräulein um ihre Einwilligung zu bitten; das habe sie, Mawra, mit eigenen Ohren gehört. Und nun war auf einmal alles in die Brüche gegangen. Der Fürst war zornig weggefahren, und der Tee war nicht serviert worden, und an allem war natürlich das Fräulein schuld. Mawra hatte gehört, wie respektlos sie mit dem Fürsten gesprochen hatte.

      »Nun gut; bring ihn herein!« antwortete Natascha.

      »Soll ich auch den Imbiß bringen?«

      »Ja, bring auch den!«

      Natascha lachte.

      »Da habe ich nun mühsam alles zurechtgemacht«, fuhr Mawra fort. »Seit gestern fühle ich meine Beine nicht mehr. Wegen des Weines bin ich nach dem Newskiprospekt gelaufen, und nun …«

      Sie ging hinaus und schlug ärgerlich die Tür hinter sich zu.

      Natascha errötete und sah mich mit einem eigentümlichen Blick an.

      Der Tee wurde gebracht, auch der Imbiß; es war kalter Wildbraten und Fisch da sowie zwei Flaschen guten Weines von Jelisejew. ›Wozu ist denn das alles vorbereitet?‹ dachte ich.

      »Ja, siehst du, Wanja, so bin ich nun!« sagte Natascha, indem sie an den Tisch trat; sie war sogar vor mir verlegen geworden. »Ich ahnte ja, daß alles heute den Verlauf nehmen würde, den es wirklich genommen hat; aber doch dachte ich: ›Wer weiß, vielleicht endet es auch nicht so! Aljoscha wird kommen, und wir werden uns versöhnen; mein ganzer Argwohn wird sich als unbegründet herausstellen; ich werde eines Besseren belehrt werden‹, und da bereitete ich für jeden Fall einen Imbiß vor. ›Kann sein‹, dachte ich, ›daß wir länger zusammensitzen und miteinander plaudern …‹«

      Die arme Natascha! Sie wurde ganz rot, als sie das sagte. Aljoscha geriet in Entzücken.

      »Da siehst du’s, Natascha!« rief er. »Du bist selbst deiner Sache nicht sicher gewesen; noch vor zwei Stunden hast du deinen Verdacht nicht für wahr gehalten! Nein, das muß alles wieder in Ordnung gebracht werden; ich bin schuld daran, ich bin die Ursache dieses ganzen Mißverständnisses, und ich werde auch alles wieder in Ordnung bringen. Natascha, erlaube mir, daß ich gleich zu meinem Vater gehe! Ich muß mit ihm sprechen; er ist gekränkt und beleidigt; ich muß ihn beruhigen; ich will ihm alles sagen, von mir aus, alles nur von mir aus; dich will ich dabei gar nicht hineinziehen. Und ich werde alles glücklich zurechtbringen … Sei mir nicht böse, als ob es mich so zu ihm hinzöge und ich dich verlassen wollte. Es steht ganz anders: er tut mir leid; er wird sich vor dir rechtfertigen; du wirst es sehen … Morgen in aller Frühe werde ich wieder zu dir kommen und den ganzen Tag bei dir sein und nicht zu Katja fahren.«

      Natascha hielt ihn nicht zurück; sie riet ihm sogar selbst, sich zu seinem Vater zu begeben. Sie fürchtete sehr, Aljoscha werde sich jetzt absichtlich den Zwang antun, ganze Tage bei ihr zu sitzen, und werde sich bei ihr langweilen. Sie bat ihn nur, er möchte nichts in ihrem Namen sagen, und bemühte sich, ihm beim Abschied möglichst heiter zuzulächeln. Er war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als er plötzlich noch einmal an sie herantrat, sie an beiden Händen ergriff und sich neben sie setzte. Er blickte sie mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit an.

      »Natascha, meine Geliebte, mein guter Engel, sei mir nicht böse, und wir wollen uns niemals miteinander streiten. Und gib mir dein Wort darauf, daß du mir immer in allen Stücken vertrauen wirst, so wie ich dir. Es ist mir etwas eingefallen, mein Engel, was ich dir jetzt noch erzählen will. Wir hatten uns einmal gestritten; ich erinnere mich nicht mehr, weswegen; aber ich hatte


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