Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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zu Freunden; aber im Herzen war mir so weh, so weh! Und da kam mir in den Sinn: wenn du nun krank würdest und stürbest? Und als ich mir das vorstellte, da überkam mich auf einmal eine solche Verzweiflung, als ob ich dich wirklich für immer verloren hätte. Meine Gedanken wurden immer schmerzlicher, immer schrecklicher. Und allmählich stellte ich mir vor, ich käme zu deinem Grabhügel, fiele besinnungslos auf ihn nieder, umfinge ihn mit meinen Armen und stürbe beinahe vor Gram. Ich stellte mir vor, daß ich diesen Grabhügel küßte, dich riefe, aus ihm herauszukommen, wenn auch nur für einen Augenblick, und Gott anflehte, er möchte ein Wunder tun und dich wenigstens für einen einzigen Augenblick vor meinen Augen auferstehen lassen; ich stellte mir vor, wie ich dann auf dich zustürzen würde, um dich zu umarmen, wie ich dich küssen und wohl sterben würde vor Seligkeit darüber, daß ich dich, wenn auch nur für einen Augenblick, noch einmal hatte wie früher umarmen können. Und als ich mir das vorstellte, mußte ich plötzlich denken: da bitte ich nun Gott um dich für einen Augenblick, und dabei bist du sechs Monate mit mir zusammen gewesen, und wie oft haben wir uns in diesen sechs Monaten gezankt, wie viele Tage lang haben wir nicht miteinander geredet! Ganze Tage lang haben wir gegrollt und unser Glück verabsäumt, und nun rufe ich dich nur für einen einzigen Augenblick aus dem Grab und bin bereit, diesen einzigen Augenblick mit meinem ganzen Leben zu erkaufen! … Als ich mir das alles vorstellte, da konnte ich es nicht mehr aushalten und eilte so schnell wie möglich zu dir und stürzte hier ins Zimmer; du erwartetest mich schon, und als wir uns nun nach unserem Streit umarmten, da drückte ich dich (daran erinnere ich mich noch) so fest an meine Brust, als ob ich dich wirklich verloren gehabt hätte, Natascha. Wir wollen uns niemals streiten! Mir ist dann immer so schwer ums Herz! Und ist es denn überhaupt denkbar, o Gott, daß ich dich jemals verlassen könnte?«

      Natascha weinte. Sie hielten sich fest umschlungen, und Aljoscha schwur ihr noch einmal, sie nie zu verlassen. Dann eilte er zu seinem Vater. Er war fest überzeugt, daß es ihm gelingen werde, alles wieder auszugleichen und in Ordnung zu bringen.

      »Alles ist zu Ende! Alles ist verloren!« sagte Natascha und drückte mir krampfhaft die Hand. »Er liebt mich und wird nie aufhören, mich zu lieben; aber er liebt auch Katja und wird sie nach einiger Zeit mehr lieben als mich. Diese Schlange aber, der Fürst, wird nicht ruhen, und dann …«

      »Natascha, ich glaube selbst, daß der Fürst nicht ehrlich handelt; aber …«

      »Du glaubst nicht alles, was ich zu ihm gesagt habe! Ich habe es an deinem Gesicht gemerkt. Aber warte nur; du wirst selbst sehen, ob ich recht habe oder nicht. Ich habe ja nur das Allgemeinste gesagt; aber Gott weiß, was er sonst noch alles im Schilde führt! Er ist ein schrecklicher Mensch. Ich bin diese vier Tage über hier im Zimmer hin und her gegangen und habe alles enträtselt. Was er wollte, war eben dies: Aljoschas Herz sollte die Traurigkeit loswerden, die ihn hinderte, wahrhaft zu leben; es sollte frei werden von der Pflicht, mich zu lieben. Er hat diese Verlobung auch zu dem Zweck ausgesonnen, um sich mit seinem Einfluß zwischen uns zu drängen und Aljoscha durch seinen Edelmut und seine Hochherzigkeit zu bezaubern. Das ist die Wahrheit, Wanja, die Wahrheit! Gerade einen solchen Charakter hat Aljoscha. Er sollte sich hinsichtlich meiner Person beruhigen; seine Besorgnisse um mich sollten schwinden. Er sollte denken: ›Jetzt ist sie schon so gut wie meine Frau und wird lebenslänglich mit mir zusammen sein‹, und sollte unwillkürlich Katja mehr Aufmerksamkeit zuwenden. Der Fürst hat offenbar den Charakter dieser Katja genau studiert und herausgefunden, daß sie zu ihm paßt und ihn stärker fesseln kann als ich. Ach, Wanja! Auf dir beruht jetzt meine ganze Hoffnung: er will zu irgendwelchem Zweck mit dir zusammenkommen, mit dir bekannt werden. Weise das nicht zurück, liebster Freund, und bemühe dich, recht bald zur Gräfin zu kommen. Mache die Bekanntschaft dieser Katja, sieh sie dir genau an und sage mir, was sie für ein Wesen ist! Es liegt mir viel daran, daß du sie siehst und mir dein Urteil sagst. Niemand versteht mich so gut wie du, und du weißt, was ich gern wissen möchte. Achte auch darauf, in welchem Grad sie miteinander befreundet sind, was für ein Verhältnis zwischen ihnen besteht, worüber sie reden; und vor allen Dingen sieh dir Katja selbst an! Beweise mir noch diesmal, liebster, bester Wanja, beweise mir noch dieses eine Mal deine Freundschaft! Auf dich, nur auf dich setze ich jetzt meine Hoffnung! …«

***

      Als ich nach Hause zurückkehrte, war schon Mitternacht vorüber. Nelly öffnete mir mit verschlafenem Gesicht. Sie lächelte und blickte mich erfreut an. Das arme Kind war sehr ärgerlich auf sich selbst, weil sie eingeschlafen war. Sie hatte mich durchaus wachend erwarten wollen. Sie sagte, es habe jemand nach mir gefragt, sich zu ihr gesetzt und einen Zettel für mich auf dem Tisch hinterlassen. Der Zettel war von Masslobojew. Er ersuchte mich darin, morgen mittag zwischen zwölf und eins zu ihm zu kommen. Ich hätte Nelly gern weiter ausgefragt, verschob es aber auf den nächsten Tag und bestand darauf, sie solle sich unverzüglich schlafen legen; das arme Kind war ohnehin schon müde, da sie auf mich gewartet hatte und erst eine halbe Stunde vor meiner Ankunft eingeschlafen war.

      Fünftes Kapitel

      Am Morgen erzählte mir Nelly von dem gestrigen Besuch ziemlich seltsame Dinge. Übrigens war schon sonderbar, daß Masslobojew auf den Gedanken gekommen war, gerade an diesem Abend bei mir vorzusprechen; er hatte doch sicherlich gewußt, daß ich nicht zu Hause sein würde; ich hatte ihm das, wie ich mich sehr genau erinnerte, bei unserm letzten Zusammensein selbst mitgeteilt. Nelly erzählte, sie habe ihm anfänglich nicht öffnen wollen, weil sie sich gefürchtet habe; es sei schon acht Uhr abends gewesen. Aber er habe sie durch die verschlossene Tür inständig gebeten und versichert, wenn er mir jetzt nicht einen Zettel daließe, so würde ich morgen infolgedessen Unannehmlichkeiten haben. Als sie ihn eingelassen habe, habe er sogleich den Zettel geschrieben, sei dann zu ihr getreten und habe sich neben sie auf das Sofa gesetzt. »Ich stand auf und wollte nicht mit ihm reden«, erzählte Nelly; »ich fürchtete mich sehr vor ihm; er fing an, von der Bubnowa zu sprechen, daß sie jetzt sehr ärgerlich sei, daß sie aber nicht mehr wagen werde, mich zurückzuholen; und dann lobte er Sie und sagte, sie seien sehr gute Freunde und hätten einander schon als Knaben gekannt. Da fing ich an mit ihm zu reden. Er zog Konfekt heraus und bat mich, es zu nehmen; ich wollte nicht; da versicherte er mir, er sei ein guter Mensch und könne Lieder singen und tanzen; er sprang auf und fing an zu tanzen. Da mußte ich lachen. Darauf sagte er, er wolle noch ein Weilchen sitzen bleiben; ›ich will auf Wanja warten‹, sagte er; ›vielleicht kommt er bald nach Hause.‹ Und er bat mich sehr, ich möchte mich nicht fürchten und mich neben ihn setzen. Ich setzte mich neben ihn, wollte aber nicht mit ihm reden. Da sagte er zu mir, er habe meine Mama und meinen Großvater gekannt, und … da fing ich an zu reden. Und er saß lange da …«

      »Wovon habt ihr denn miteinander geredet?«

      »Von Mama … von der Bubnowa … vom Großvater. Er hat wohl zwei Stunden lang hier gesessen.«

      Nelly schien mir nicht erzählen zu wollen, wovon sie gesprochen hatten. Ich fragte sie nicht weiter, da ich alles von Masslobojew zu erfahren hoffte. Es schien mir nur, daß Masslobojew absichtlich in meiner Abwesenheit gekommen war, um Nelly allein zu treffen. ›Was mag er dabei für einen Zweck gehabt haben?‹ dachte ich.

      Sie zeigte mir die drei Stückchen Konfekt, die er ihr gegeben hatte. Es waren Bonbons in grünem und rotem Papier, gräßliches Zeug, das er wahrscheinlich in einem Kramladen gekauft hatte. Nelly lachte, als sie sie mir zeigte.

      »Warum hast du sie nicht gegessen?« fragte ich.

      »Ich will nicht«, antwortete sie ernst, mit zusammengezogenen Brauen. »Ich habe sie auch nicht von ihm angenommen; er hat sie selbst aufs Sofa gelegt und liegenlassen.«

      An diesem Tag hatte ich viele Gänge vor. Ich begann, mich von Nelly zu verabschieden.

      »Langweilst du dich, wenn du allein bist?« fragte ich sie, im Begriff fortzugehen.

      »Ja und nein. Ich langweile mich, weil Sie so lange nicht da sind.«

      Und bei diesen Worten sah sie mich mit solcher Liebe an! Diesen ganzen Morgen über hatte sie mich mit demselben zärtlichen Blick angesehen und hatte den Eindruck der Fröhlichkeit und Freundlichkeit gemacht; gleichzeitig aber lag in ihrem Benehmen etwas Verschämtes, sogar Ängstliches, als fürchte sie, mich durch etwas zu ärgern, mein Wohlwollen zu verlieren und … und zuviel zu sagen, gerade als ob sie sich dessen schäme.

      »Und


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