Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
Die Lehrerin war den ganzen, langen Tag in Bewegung, war mit den anderen zusammen, fühlte sich aber immer noch ebenso unglücklich.
Wenn sie später an die ersten in Nääs verlebten Tage zurückdachte, war es ihr, als sei sie in einem Nebel umhergegangen. Alles war dunkel und verschleiert gewesen, und sie hatte nichts von alledem, was um sie her vorging, gesehen oder verstanden. Dieser Zustand währte zwei Tage, aber am Abend des zweiten Tages fing es plötzlich an, hell um sie zu werden.
Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, begann ein alter Volksschullehrer, der schon mehrmals auf Nääs gewesen war, einigen neuen Schülern zu erzählen, wie das Handfertigkeitsseminar entstanden war, und da sie ganz in der Nähe saß, hatte sie notgedrungen zuhören müssen.
Er erzählte, Nääs sei ein sehr altes Gut, aber es sei nie etwas anderes gewesen als ein schöner, großer Herrenhof, wie so viele andere, bis der alte Herr, dem es jetzt gehörte, dort ansässig geworden war. Er war ein reicher Mann, und die ersten Jahre, die er dort wohnte, hatte er dazu verwendet, das Schloß und den Park zu verschönern und die Wohnungen seiner Untergebenen zu verbessern.
Aber dann starb seine Frau, und da er keine Kinder hatte, fühlte er sich gar manches Mal einsam auf dem großen Gut. So überredete er denn einen jungen Neffen, den er sehr lieb hatte, zu ihm zu kommen und bei ihm auf Nääs zu wohnen.
Ursprünglich war man von der Voraussetzung ausgegangen, daß der junge Herr sich an der Bewirtschaftung des Gutes beteiligen solle, als er aber aus diesem Anlaß bei den Leuten auf dem Gute umherging und sah, wie sie in den ärmlichen Hütten lebten, kamen ihm ganz wunderliche Gedenken. Er beobachtete, daß in den meisten Häusern weder die Männer noch die Kinder, ja selbst nicht einmal die Frauen, sich während der langen Winterabende mit Handarbeit beschäftigten. In früheren Zeiten waren die Leute gezwungen gewesen, die Hände fleißig zu rühren, um Kleider und Hausgerät und Werkzeuge anzufertigen; aber jetzt konnte man ja alle diese schönen Dinge kaufen, und deswegen hatten sie diese Arbeiten eingestellt. Und dem jungen Herrn wollte es nun scheinen, daß in den Häusern, wo man die Arbeiten im Hause eingestellt hatte, auch die Gemütlichkeit und der Wohlstand ihrer Wege gegangen waren.
Ausnahmsweise konnte er wohl einmal in ein Haus kommen, wo der Mann Tische und Stühle zusammenzimmerte, und die Frau webte, und es war über jeden Zweifel erhaben, daß die Leute dort nicht nur wohlhabender, sondern auch glücklicher waren als die in den anderen Häusern.
Er sprach mit seinem Oheim hierüber, und der alte Herr sah ein, daß es ein großes Glück sein würde, wenn die Leute sich in müßigen Stunden mit Handarbeit beschäftigen wollten. Aber um soweit zu gelangen, war es offenbar notwendig, daß sie von Kindheit an ihre Hände gebrauchen lernten. Die beiden Herren kamen zu der Erkenntnis, daß sie zu der Förderung ihrer Sache nichts Besseres tun könnten, als eine Handfertigkeitsschule für Kinder zu errichten. Sie sollten dort lernen, einfache Gegenstände aus Holz anzufertigen, denn diese Art Arbeit würde, nach Ansicht der beiden Herren, allen am leichtesten werden. Sie waren überzeugt, daß, wer einmal gelernt hatte, das Messer gut zu gebrauchen, auch lernen würde, den großen Schmiedehammer und den kleinen Schusterhammer zu führen. Wer aber nicht von Jugend auf seine Hand an Arbeit gewöhnt hatte, würde vielleicht niemals auf den Gedanken kommen, daß er in der Hand ein Werkzeug besaß, das mehr wert ist als alle anderen.
So hatten sie denn auf Nääs angefangen, Kinder in Handfertigkeit zu unterrichten, und sie sahen bald, daß es nützlich und gut für die Kleinen war, und wünschten nun, daß alle Kinder in Schweden einen solchen Unterricht erhalten möchten.
Aber wie ließ sich das machen? Es wuchsen ja Hunderttausende von Kindern in Schweden auf. Man konnte sie doch nicht alle nach Nääs kommen lassen, um ihnen Handfertigkeitsunterricht zu geben. Das war ganz unmöglich.
Da kam der junge Herr mit einem neuen Vorschlag. Wie, wenn man, statt die Kinder zu unterrichten, ein Handfertigkeitsseminar für ihre Lehrer einrichtete? Wie, wenn die Lehrer und Lehrerinnen aus dem ganzen Lande nach Nääs kämen, dort Handfertigkeit erlernten und dann nachher mit allen den Kindern, die sie in ihren Schulen hatten, Handfertigkeit trieben? Aus die Weise würde es vielleicht gelingen, daß die Hände aller Kinder in Schweden ebenso geübt würden wie ihr Gehirn.
Als dieser Gedanke erst einmal in ihnen wachgerufen war, konnten die beiden Herren ihn gar nicht wieder loswerden, sondern suchten ihn zur Ausführung zu bringen.
Sie halfen einander getreulich. Der alte Herr ließ Arbeitssäle, ein Versammlungshaus und einen Turnsaal bauen und sorgte für die Wohnung und Verpflegung aller, die die Schule besuchten. Der junge Herr wurde Vorsteher des Seminars. Er machte den Plan für den Unterricht, leitete die Arbeit und hielt Vorträge. Und nicht genug damit. Er lebte beständig mit den Schülern zusammen, machte sich mit den Verhältnissen jedes einzelnen bekannt und wurde ihnen ein aufrichtiger und treuer Freund.
Und wie viele Schüler strömten nicht gleich von Anfang an herbei! In jedem Jahr wurden vier Kurse abgehalten, und zu allen meldeten sich mehr Schüler, als aufgenommen werden konnten Auch im Ausland wurde die Schule bald bekannt, und Lehrer und Lehrerinnen aus aller Herren Länder kamen nach Nääs, um zu lernen, wie sie es anfangen mußten, um die Hand zu erziehen, Kein Ort in Schweden war so bekannt im Auslande wie Nääs, und kein Schwede hatte ringsumher auf der ganzen Welt so viele Freunde wie der Vorsteher des Nääser Handfertigkeitsseminars.
Die kleine, schüchterne Lehrerin saß da und hörte dies alles an, und je mehr sie hörte, um so lichter ward es um sie her. Sie hatte bisher gar nicht gewußt, warum die Handfertigkeitsschule auf Nääs war, sie hatte nicht gewußt, daß sie von zwei Männern ins Leben gerufen war, die ihrem Lande nützen wollten, sie hatte keine Ahnung davon gehabt, daß diese alles opferten, was sie opfern konnten, um ihren Mitmenschen zu helfen, besser und glücklicher zu werden.
Wenn sie nun an die große Güte und Nächstenliebe dachte, die dem allen zugrunde lag, ergriff sie das so sehr, daß sie nahe daran war, zu weinen. So etwas hatte sie noch nie erlebt.
Am nächsten Tage ging sie in einer ganz anderen Gemütsverfassung an die Arbeit. Wenn das alles aus Güte gegeben wurde, mußte sie es ja auf ganz andere Weise hinnehmen als bisher. Sie vergaß, an sich selbst zu denken und ging ganz auf in ihrer Arbeit und dem großen Ziel, das dadurch erreicht werden sollte. Und von dem Augenblick an machte sie ihre Sache ausgezeichnet, denn alles Lernen wurde ihr leicht, sobald ihre Schüchternheit sie nicht lähmte.
Jetzt, wo ihr die Schuppen von den Augen gefallen waren, sah sie überall die große, wunderbare Güte. Sie sah, wie sorgfältig alles für die Besucher des Seminars geordnet war. Die Teilnehmer des Kursus erhielten weit mehr als nur den Unterricht in Handfertigkeit, Der Vorsteher hielt ihnen Vorträge über Erziehung, sie turnten miteinander, gründeten einen Gesangverein und kamen fast jeden Abend zu Vorlesungen und musikalischen Aufführungen zusammen. Und außerdem waren da Bücher, Badehäuser und Klaviere, alles zu ihrer Verfügung. Der Zweck des Ganzen war, daß sich alle glücklich und Wohl befinden und fröhlich sein sollten.
Allmählich wurde es ihr klar, wie unschätzbar es war, die schönen Tage des Sommers auf einem großen schwedischen Herrenhof verbringen zu dürfen. Das Schloß, in dem der alte Herr wohnte, lag auf einem Hügel, der fast von allen Seiten von einem See umgeben und nur durch eine schöne steinerne Brücke mit dem Lande verbunden war. Sie hatte nie etwas so Schönes gesehen wie die Blumengruppen auf der Terrasse vor dem Schloß, wie die alten Eichen im Park, wie den Weg am See entlang, wo die Bäume über das Wasser hinabhingen, oder wie den Aussichtspavillon auf der Felsenklippe über dem See, Die Schulgebäude lagen dem Schloß gerade gegenüber auf grünen schattigen Wiesen, aber es stand ihr frei, im Schloßpark zu lustwandeln, sooft sie Zeit und Lust hatte. Es war ihr, als habe sie nie gewußt, wie schön der Sommer sei, bis sie ihn an einem so herrlichen Ort verbringen durfte.
Nicht daß eine große Veränderung mit ihr vorgegangen wäre. Mutig und selbstbewußt wurde sie nicht, aber sic fühlte sich froh und glücklich. Sie wurde förmlich durchwärmt von all dieser Güte. Sie konnte sich ja nicht unglücklich fühlen an einem Ort, wo alle es gut mit ihr meinten und ihr zu helfen bemüht waren. Als der Kursus beendet war und die Schüler Nääs verlassen sollten, war sie ganz neidisch auf alle, die dem alten und dem jungen Herrn