Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf

Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf - Selma Lagerlöf


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wieder umzukehren. Sie war noch immer gleich unschlüssig und unsicher.

      Sie sprach nicht mehr mit den Kindern, sondern ging ganz stumm dahin. In der Allee, durch die sie ging, war der Schatten so tief, daß sie nichts sehen konnte. Es war ihr, höre sie eine Menge Menschen und Stimmen um sich her. Es war ihr, als erklängen angstvolle Rufe von tausend verschiedenen Seiten. »Wir sind soweit weg, alle wir andern!« sagten die Stimmen. »Aber du bist ganz nahe. Geh’ hin und singe du, was wir alle fühlen.«

      Und sie dachte an den einen und den andern, dem der Vorsteher geholfen und dessen er sich angenommen hatte. Es war übermenschlich, wie er sich angestrengt hatte, allen, die in Not waren, zu helfen. »Geh’ hin und singe ihm etwas vor!« flüsterte es ringsum sie her. »Laß ihn nicht sterben, ohne einen letzten Gruß von seiner Schule zu empfangen! Denk’ nicht daran, daß du gering und unbedeutend bist! Denk’ an die große Schar, die hinter dir steht! Laß ihn, ehe er von uns geht, verstehen, wie innig wir alle ihn lieben!«

      Die Lehrerin ging immer langsamer. Da hörte sie etwas, was nicht nur Stimmen und mahnende Rufe in ihrer eigenen Seele war, sondern was aus der äußeren Welt um sie herkam. Es war keine gewöhnliche menschliche Stimme. Es war wie das Zwitschern eines Vogels oder das Zirpen eines Heimchens. Aber es rief trotzdem ganz deutlich, sie solle wieder umkehren.

      Und mehr gehörte nicht dazu, um ihr Mut zu machen, ihr Vorhaben auszuführen. – – –

      Die Lehrerin und die Kinder hatten ein paar Lieder vor dem Fenster des Vorstehers gesungen. Sie fand selbst, daß ihr Gesang so wunderbar schön geklungen hatte in dieser Abendstunde. Es war, als hätten unbekannte Stimmen mitgesungen. Der ganze Raum war gleichsam von Tönen und Lauten angefüllt gewesen. Sie hatten den Gesang nur anzustimmen brauchen, dann hatten ihre Stimmen einen Klang und eine Kraft erhalten, die sie sonst nicht besessen hatten.

      Da tat sich plötzlich die Tür auf, und jemand kam schnell heraus. »Jetzt kommen sie, um mir zu sagen, daß ich nicht mehr singen soll,« dachte die Lehrerin. »Wenn ich ihm nur nicht geschadet habe!«

      Aber das war nicht der Fall. Es war die Bitte, sie möchte ins Haus hineinkommen und etwas ausruhen und dann noch ein paar Lieder singen. Da drinnen kam ihr der Doktor entgegen. »Die Gefahr ist für diesmal vorüber,« sagte er. »Er lag besinnungslos da, und das Herz schlug schwächer und schwächer. Aber als Sie zu singen begannen, war es, als erhalte er einen Gruß von allen denen, die seiner Hilfe bedürfen. Er fühlte, daß für ihn die Zeit, Ruhe zu suchen, noch nicht gekommen sei. Singen Sie ihm noch etwas vor! Singen Sie und freuen Sie sich, denn ich glaube, Ihr Gesang hat ihn ins Leben zurückgerufen! Jetzt dürfen wir uns vielleicht Hoffnung machen, ihn noch ein paar Jahre zu behalten.«

      LII. Die Reise nach Bemmenhög

       Inhaltsverzeichnis

       Donnerstag, 3. November.

      Eines Tages zu Anfang November flogen die Wildgänse über Hallandsås nach Schonen hinein. Mehrere Wochen hindurch hatten sie sich auf den großen Ebenen um Falköping aufgehalten, und da sich noch andere Scharen Wildgänse dort niedergelassen hatten, war es eine vergnügliche Zeit gewesen mit vielen Unterhaltungen zwischen den alten Vögeln und viel Wettstreit in allerlei Leibesübungen zwischen den Jungen.

      Niels Holgersen seinerseits war nicht erfreut über den langen Aufenthalt in Westgötland. Er gab sich Mühe, den Mut aufrechtzuhalten, aber es wurde ihm schwer, sich mit seinem Schicksal auszusöhnen. »Hätte ich nur erst Schonen glücklich hinter mir und wäre im Ausland!« dachte er, »dann wüßte ich, daß ich nichts mehr zu hoffen hätte, und dann würde ich mich Wohl beruhigen.«

      Endlich an einem frühen Morgen brachen die Wildgänse auf und flogen über Halland hinab. Anfangs spürte der Junge gar keine Lust, auf die Landschaft hinabzusehen. Er meinte, da sei ja nichts Neues zu entdecken. Der östliche Teil war bergig mit großen Heideflächen, die an Småland erinnerten, und weiter nach Westen zu war das Land mit runden, kahlen Bergen bedeckt und von Buchten zerschnitten, ungefähr wie in Bohuslän.

      Als die Wildgänse aber die Reise südwärts, an dem schmalen Küstenstrich entlang, fortsetzten, beugte sich der Junge weit über den Hals des Gänserichs vor und verwandte keinen Blick mehr von der Erde. Er sah, wie die Berge spärlicher wurden und die Ebene sich ausbreitete. Und er sah auch, daß die Küste nicht mehr so von Buchten zerschnitten war. Die Schären draußen vor dem Ufer lagen immer mehr vereinzelt, bis sie schließlich ganz verschwanden, und das weite, offne Meer bis dicht ans Festland heranreichte.

      Und dann hörte der Wald auf. Höher nordwärts hatte der Junge ja viele schöne Ebenen gesehen, aber sie waren alle von Wäldern umrahmt gewesen. Überall war Wald. Es war, als wenn das Land eigentlich den Bäumen gehörte, und das bebaute Land lag wie große gerodete Plätze im Walde. Und auf allen Ebenen standen Baumgruppen und kleine Haine, wie um zu zeigen, daß der Wald jeden Augenblick kommen und das Land wieder wegnehmen könne.

      Hier aber war es anders. Hier hatte die Ebene die Übermacht. Sie erstreckte sich ganz bis an den Horizont. Da waren große gepflanzte Wälder, aber kein wildgewachsener Wald. Doch gerade, daß das Land so offen dalag, ein Acker neben dem andern, bewirkte, daß es den Jungen an Schonen erinnerte. Der offne Strand mit dem weißen Sand und den Tanghaufen kam ihm auch so bekannt vor. Ihm wurde so fröhlich und ängstlich zugleich ums Herz, als er das sah. »Jetzt kann ich nicht mehr weit von meiner Heimat entfernt sein,« dachte er.

      Die Landschaft veränderte sich jedoch wieder. Aus Westgötland und Småland kamen Bäche herabgebraust und unterbrachen die Einförmigkeit der Ebene. Seen, Moore und Heideflächen und Flugsand versperrten den Äckern den Weg, diese aber breiteten sich trotzdem beständig weiter aus, bis sich der Hallandås unten an den Grenzen von Schonen mit seinen schönen Schluchten und Tälern erhob.

      Schon mehrmals auf der Reise hatten die jungen Gänse die Alten in der Schar gefragt: »Wie sieht es im Ausland aus? Wie sieht es im Ausland aus?« »Wartet nur, wartet nur! Ihr sollt es bald erfahren!« sagten die Alten, die schon viele Male das Land auf und ab geflogen waren.

      Als die jungen Gänse Wärmlands lange Bergrücken und die blanken Seen dazwischen oder die Felsklippen von Bohuslän oder die schönen Hügel in Westgötland sahen, wunderten sie sich und fragten: »Sieht die ganze Welt so aus?«

      »Wartet nur, wartet nur! Das werdet ihr bald erfahren!« antworteten die Alten.

      Als die Wildgänse über den Hallandås geflogen und eine gute Strecke nach Schonen hineingekommen waren, rief Akka: »Guckt jetzt hinunter! Seht euch um! So sieht es im Ausland aus!«

      Sie flogen gerade über den Sönderås hin. Der ganze lange Höhenzug war mit Buchenwäldern bedeckt, und in den Wäldern lagen schöne Schlösser mit hohen Türmen. Zwischen den Bäumen ästen Rehe und auf den Waldebenen spielten Hasen. Jagdhörner klangen aus den Wäldern, das scharfe Gekläff der Meute drang bis zu der fliegenden Schar hinauf. Breite Wege schlängelten sich durch den Wald und auf ihnen kamen Herren und Damen in glänzenden Wagen gefahren oder auf prächtigen Pferden geritten. Unterhalb des Bergrückens breitete sich der Ringsee aus mit dem alten Bosjökloster auf einer schmalen Landzunge. Die Skäralider Schlucht durchschnitt den Bergrücken, in ihrem Grunde floß ein Bach, und die Felswände waren mit Sträuchern und mit Bäumen bedeckt.

      »Sieht es so im Auslande aus? Sieht es so im Auslande aus?« fragten die jungen Gänse. – »So sieht es überall aus, wo waldbedeckte Bergrücken sind,« rief Akka, »aber das ist nicht sehr oft der Fall. Wartet nur, dann werdet ihr sehen, wie es dort gewöhnlich aussieht.«

      Akka führte die Wildgänse weiter gen Süden, nach der großen Schonenschen Ebene. Die lag da mit breiten Äckern, mit Rübenfeldern, auf denen die Arbeiter in langen Reihen beschäftigt waren, mit niedrigen, weißgetünchten, aneinandergebauten Höfen, mit unzähligen kleinen, weißen Kirchen, mit häßlichen, grauen Zuckerfabriken, und um die Bahnstationen herum mit Dörfern, die einen kleinstädtischen Anstrich hatten. Da waren Torfmoore mit langen Reihen von Torfschobern, Steinkohlengruben mit großen


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