Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
lustig machte, und er wollte schon zornig werden, als er entdeckte, daß das Ganze ein Irrtum war. Es hatte angefangen zu wehen, und hier hatte er gestanden und war so schläfrig geworden, daß er das Heulen des Windes im Schornstein für eine Menschenstimme hielt!
Er wandte sich um und sah nach der Stubenuhr, und die schlug im selben Augenblick elf tiefe Schläge. Schrecklich, wie spät es geworden war!
»Es wird wohl Zeit, daß du zu Bett kommst,« dachte er. Da fiel ihm ein, daß er noch nicht seine Runde über den Hof gemacht hatte, wie er das jeden Abend zu tun pflegte, um zu sehen, ob alle Türen und Luken geschlossen, und ob alle Lichter ausgelöscht waren. Das hatte er noch nie versäumt, seit er Herr auf dem Hof gewesen war. Schnell zog er den Rock an und ging in das Unwetter hinaus.
Er fand alles, wie es sein sollte, bis auf die Tür der leeren Scheune, die der Wind aufgerissen hatte. Er ging ins Haus, um den Schlüssel zu holen, verschloß die Scheune und steckte den Schlüssel in die Rocktasche. Dann ging er wieder in die Stube, zog den Rock aus und hängte ihn ans Feuer. Es war ein fürchterliches Wetter draußen mit dem schneidend kalten Wind und dem schneegemischten Regen. Und in dem Wetter stand sein altes Pferd draußen, ohne auch nur eine Decke über sich zu haben. Er hätte ihm doch wohl Obdach geben sollen, wo es doch hier in die Gegend gekommen war.
Drüben im Wirtshaus, dem Bauerhof gegenüber hörte der Junge eine alte Wanduhr mit gesprungenem Klang elf Schläge schlagen. Da war er gerade im Begriff das Vieh loszubinden, um es nach der Scheune auf dem Bauerhof zu bringen. Es währte eine Weile, bis er sie alle geweckt und aufgerichtet hatte, aber schließlich war das in Ordnung, und in einer langen Reihe, der Junge als Wegweiser voran, kamen sie auf den Hof des geizigen Bauern gezogen.
Während der Junge mit alledem beschäftigt war, hatte der Bauer die Runde über den Hof gemacht und die Scheune abgeschlossen, und als Niels nun mit den Tieren kam, war die Tür geschlossen. Er blieb ganz bestürzt stehen. Nein, er konnte sie nicht dastehen lassen. Er mußte ins Haus und sich den Schlüssel verschaffen.
»Sorge du dafür, daß sie ruhig sind, während ich den Schlüssel hole,« sagte er zu dem alten Pferd, und damit lief er davon.
Mitten auf dem Hof blieb er stehen und überlegte, wie er ins Haus kommen sollte. Während er dastand, sah er zwei kleine Fußgänger des Weges kommen und vor dem Wirtshaus stehen bleiben.
Er sah sofort, daß es zwei kleine Mädchen waren, und er lief näher an sie heran, in der Hoffnung, daß sie ihm vielleicht helfen könnten.
»So, Birte Marie,« sagte die eine, »nun mußt du nicht mehr weinen. Nun sind wir bei dem Wirtshaus. Hier werden wir schon Unterkunft finden.«
Kaum hatte das kleine Mädchen das gesagt, als der Junge ihr zurief: »Nein, es nützt nichts, daß ihr versucht, Unterkunft im Wirtshaus zu finden. Das ist ganz unmöglich. Aber hier im Bauerhaus haben sie keine Gäste. Da solltet ihr hingehen.«
Die kleinen Mädchen hörten die Worte ganz deutlich, aber sie konnten den, der sprach, nicht sehen. Sie wunderten sich aber nicht so sehr darüber, denn es war so stockdunkel. Die größte von ihnen antwortete sogleich: »Nein, da gehen wir nicht hin, denn die Leute, die da wohnen, sind schlecht und geizig. Sie sind schuld daran, daß wir auf der Landstraße betteln gehen.«
»Das kann ja sein,« erwiderte der Junge, »aber ihr solltet doch hineingehen. Ihr werdet sehen, daß es geht.«
»Dann wollen wir es versuchen, aber du sollst sehen, wir kommen nicht einmal hinein,« sagten die beiden kleinen Mädchen und gingen nach dem Wohnhaus und klopften an.
Der Bauer stand noch vor dem Feuer und dachte an das Pferd, als es klopfte. Er ging hinaus, um zu sehen, was es sei und dachte dabei, er wolle sich nicht überreden lassen, irgendeinen, der des Weges kam, bei sich aufzunehmen. Aber gerade als er die Tür ein klein wenig öffnete, benutzte ein Windstoß die Gelegenheit. Er riß ihm die Tür aus der Hand und schlug sie gegen die Wand. Er mußte auf die Treppe hinaus, um die Tür zuzuziehen, und als er wieder in die Stube hineinkam, standen die beiden kleinen Mädchen schon da drinnen.
Es waren ein Paar arme Bettelkinder, zerlumpt und schmutzig und hungrig, ein Paar arme kleine Mädel, die jede einen Sack schleppten, der ebenso lang war wie sie selber.
»Wer läuft denn noch so spät in der Nacht auf der Landstraße herum?« fragte der Bauer mit strenger Stimme.
Die beiden Kinder antworteten nicht gleich, sondern stellten erst ihre Säcke hin. Dann gingen sie auf ihn zu und reichten ihm ihre kleinen Hände zum Gruß. »Wir sind Anna und Birte Marie aus Engärdet,« sagte die ältere, »und wir möchten gern um Unterkunft bitten.«
Er nahm die Bettelkinder zur Tür hinauswerfen, als wiederum eine Erinnerung in ihm aufstieg. Engärdet, war das nicht das kleine Haus, wo eine arme Witwe mit ihren fünf Kindern gewohnt hatte? Aber die Witwe schuldete seinem Vater einige hundert Kronen, und der Vater hatte ihr Haus verkauft, um zu seinem Gelde zu kommen. Die Witwe zog dann mit den ältesten Kindern nach Norrland, um Arbeit zu suchen, während die beiden jüngsten von der Armenordnung versorgt wurden.
Ihm war bitter zumute, als er sich dessen erinnerte. Er wußte, daß sein Vater viel Böses hatte hören müssen, weil er das Geld eingetrieben hatte, das ihm doch von Rechtswegen zukam.
»Was macht ihr denn jetzt?« fragte er die Kinder mit strenger Stimme. »Sorgt denn die Armenverwaltung nicht für euch? Warum lauft ihr herum und bettelt?«
»Dagegen können wir nichts machen,« antwortete das ältere von den Kindern. »Die Leute, bei denen wir wohnen, haben uns auf Betteln ausgeschickt.«
»Dann habt ihr ja auch eure Säcke voll und könnt euch über nichts beklagen,« sagte der Bauer. »Es wird wohl am besten sein, wenn ihr nun etwas von dem, was ihr da habt, herausholt und euch satt esset, denn hier ist nichts mehr zu bekommen. Alle die Frauenzimmer sind schon zu Bett gegangen. Und dann könnt ihr euch in die Ofenecke legen, so daß ihr nicht friert.«
Er machte eine Handbewegung, als wolle er sie von sich weisen, und seine Augen hatten fast einen harten Ausdruck. Er mußte ja froh sein, daß er einen Vater gehabt hatte, der sein Hab und Gut zusammenhielt. Sonst hätte er am Ende als kleiner Junge auch mit dem Bettelsack herumlaufen müssen so wie diese beiden.
Kaum hatte er den Gedanken ausgedacht, als die scharfe, spottende Stimme, die er heute abend schon einmal gehört hatte, ihn Wort für Wort wiederholte. Er lauschte und wußte sofort, daß es nichts war, nichts weiter als der Wind, der im Schornstein heulte. Aber das merkwürdige war, daß als der Wind die Worte wiederholte, sie ihm so sonderbar dumm und hart und falsch vorkamen.
Die Kinder hatten sich indessen nebeneinander auf den harten Fußboden hingelegt. Sie hatten noch keine Ruhe gefunden, sondern lagen da und murmelten.
»Schweigt still, hört ihr!« sagte er. Er war so gereizt, daß er sie gern hatte schlagen können.
Aber sie fuhren fort zu murmeln, obwohl er ihnen noch einmal zurief, daß sie still sein sollten.
»Als Mutter fortging,« sagte eine klare, kleine Stimme, »hat sie mir das Versprechen abgenommen, daß ich jeden Abend mein Abendgebet sprechen soll. Und das muß ich tun, und Birte Marie auch. »Wenn wir ›Nun schließ ich meine Augen‹ gebetet haben, werden wir ganz still sein.«
Der Bauer saß da, ohne sich zu rühren, und hörte die Kleinen ihr Gebet sagen. Dann ging er auf und nieder, auf und nieder mit langen Schritten, und dabei rang er seine Hände, als sei er in großer Not.
Das Pferd abgearbeitet und zuschanden gemacht und diese beiden Kinder an den Bettelstab gebracht! Und beides das Werk seines Vaters! Was sein Vater tat, war am Ende doch nicht ganz richtig gewesen.
Er setzte sich aus einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände. Plötzlich begann es in seinem Gesicht zu zittern und zu beben, und Tränen traten ihm in die Augen. Er beeilte sich, sie abzutrocknen, aber es kamen neue Tränen, und er bekam genug damit zu tun, sie zu beseitigen. Aber es half alles nichts, es kamen immer mehr.
Nun öffnete die Mutter die Tür der Kammer, und er beeilte