Mein Sonntag in Münster. Werner Zillig

Mein Sonntag in Münster - Werner Zillig


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aber meine Hände, meinen Rücken, meinen Kopf nicht tragen kann. Ich habe den Regen nicht gefunden, nein. Für die neue Gewissheit, dass es Wasser gibt, habe ich den Schlaf eingetauscht. Ich werde von nun an nicht mehr schlafen können, ohne zu versinken. Ich werde nie mehr schlafen, sondern nur noch gehen.

      Ein geröstetes Brot stelle ich mir vor, als ich weitergehe. Draußen vor dem Fenster liegt Schinken. Ich kann Gewürz über den Schinken und das Brot streuen. Unter dem Deckel der kleinen Dose, in der ich das Gewürz aufbewahre, sammelt sich immer ein Rest. Ich muss achtgeben, dass ich ihn nicht, wenn ich den Deckel abnehme, aus Unachtsamkeit auf das Brot fallen lasse. Es wäre zu viel für eine Scheibe Brot. Ich wünsche mir das Brot und kann mir diesen Wunsch erfüllen. Bin ich müde? Warum bin ich nicht ganz wach? Warum gehe ich weiter? Warum bleibe ich nicht stehen, lasse mich hier, gerade hier, nieder mit der Gewissheit: Ich werde versinken. Gibt es noch eine Erklärung? Gibt es eine andere Erklärung als die, dass ich nicht bloß der bin, der immer wieder aufsteht, ohne dass er weiß, warum er aufsteht? Ich freue mich unsäglich, wenn ich auf dem Weg fremde Worte sprechen kann, deren Herkunft ich nicht kenne. Die Worte sagen dennoch genau das, was ich sagen will. Ich habe alle Worte gefunden, die keine Sprache mehr haben, die sie aufnehmen könnte. Ich weiß nicht, wann es war, dass ich diese Worte gefunden habe. Plötzlich waren sie in mir, heute, gestern? Schon immer vielleicht, ich weiß es nicht. Das Wasser kam, und es war doch schon immer da.

      Die Wand wird kommen. Ich glaube daran, weil ich noch lebe. Ich lebe, weil ich noch daran glaube. Ich kann Brot, das ich gekauft habe, essen. Ich glaube daran. Ich kann sterben, weil ich lebe. Ich kann über die Straße gehen, weil die Straße wirklich da ist. Es muss die Straße geben. Der Geruch des Wassers liegt über meinem Wunsch. Ich esse das Brot. Ich rieche die Kälte. Das Geräusch fahrender Autos gefriert. Alles wird, während ich gehe, stehen bleiben und sich nicht mehr bewegen.

      Während der Tage besinne ich mich darauf, dass noch vieles zu tun bleibt.

      Ich bin müde, denn ich schlafe nicht mehr.

      Ich bleibe ein immerwährendes, gleichbleibendes Auge.

      Ich gehe über salziges Wasser. Das Meer trägt mich noch. Vielleicht schauen sie herüber, vom Ufer aus, und sehen mich wie ein dunkles Wunder. Ich kann ihnen nichts sagen. Sie sagen sich selbst, dass das, was auf dem Wasser geht, das sie nicht trägt, ein Wind sein muss und ein Gott. Sie umfassen die Knie und die Hüften derer, die über das Meer zu ihnen kommen. Sie weinen und bleichen unter den Tränen ihre Gesichter. Die Sonne macht die Tränen trocken.

      Ich aber, ich weiß, dass ich ihr Gefangener bin. Ich weiß, dass ich untergehe, wenn ich nicht mehr gehe. Die Wand wird alt sein, sie wird Wurzeln haben und Runzeln. Die Wand wird ein einziges Gesicht haben. Alle alten Gesichter zusammen werden diese Wand bilden. Die Worte werden nur noch die Bedeutung des Augenblicks haben. Sie der Zeit zu erhalten, ist zwecklos.

      Nur die Worte der Augen werden Bestand haben. Sie werden wieder denen gehören, die im flirrenden Licht auf das Wasser hinausstarren. Mit zusammengekniffenen Augen halten sie Ausschau. Stumm fragen sie sich, wann er auftauchen wird. Die Worte gehören jetzt nur noch denen, die auf das Wasser hinaussehen, den Wartenden.

      1978 Die Finger im Licht. Aus: Science Fiction Story Reader 10. Hrsg. von Herbert W. Franke. München: Heyne. (Heyne TB 3602). – Unter dem Pseudonym Heinrich Werner.

      

      Das Familientreffen

      Im Laufe des Nachmittags sind wir alle angekommen. Am Abend war die ganze Familie versammelt. Es ist mehr als fünf Jahre her, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben. Bea, die Jüngste von uns, Siria, meine Lieblingsschwester, Gulo und Misra, die Zwillinge. Und ich, ich bin die Älteste von allen. Wir sitzen um den Kamin und sprechen leise miteinander, berichten von den Erfahrungen der letzten fünf Jahre. Zum Telefonieren fehlt meistens die Zeit. Gulo ist der Einzige, der jedes Jahr einmal jedem von uns einen Brief schreibt. Er ist aus Prestigegründen altmodisch, denn er handelt mit Antiquitäten. Im letzten Jahr kam sein Brief sogar versiegelt. Woher er den Siegellack hatte, weiß ich wirklich nicht. Vermutlich ist er ihm auf einer Auktion in die Hände gefallen. Das Petschaft hatte ein zierliches Wort in den Lack gedrückt: Gulo. Ob er auch mit derselben Frau gekommen ist, weil er uns beweisen will, dass seine Liebe zum Vergangenen vor dem Privatleben nicht haltmacht? Alle meine Schwestern haben neue Männer mitgebracht. Das heißt: Bea hat erstmals einen Mann dabei. Sie ist erst sechzehn. Er heißt Seno – oder Semo, ich weiß nicht mehr genau. Ein dunkelhaariger Knabe, vielleicht ein Jahr jünger noch als sie.

      Es ist spät geworden. Mutter sitzt in ihrem Stuhl, wir anderen auf dem Teppich zu ihren Füßen. Sie lächelt und fragt mit leiser Stimme, ob es nicht Zeit wäre, zu Bett zu gehen. Niemand widerspricht. Schließlich haben wir eine ganze Woche Zeit, um uns die Neuigkeiten zu erzählen. Wir beginnen also mit der Abendzeremonie. Die Männer begeben sich zu der dunklen Wand auf der Kaminseite und setzen sich dort nieder. Die Frauen sitzen ihnen gegenüber. Dugua, die Frau, die mit Gulo gekommen ist, hat als der Gast das Recht der ersten Wahl. Sie nimmt Seno. Seno – so heißt er also – lächelt, steht auf und geht zu ihr. Schade, ich hätte auch Seno genommen. Aber ich habe erst jetzt das Recht zu wählen. Ich wähle Gulo und nehme mir vor, ihn zu fragen, woher er den Siegellack genommen hat. Gulo glättet mit einer raschen Bewegung sein weites Gewand und kommt dann zu mir. Ich streiche ihm über das Haar, er lächelt und küsst mich auf die Wange. Ich bemerke, dass er exotisch duftet, vermutlich nach einem alten Parfüm, das er nach einem Originalrezept aus den Duftstoffen von kostbaren Blumen herstellen lässt.

      Es dauert nicht lange, und auch die anderen haben ihre Wahl getroffen. Auf Bea, die als Letzte ihren Mann für diese Nacht findet und der also im eigentlichen Sinne keine Wahl mehr bleibt, fällt Misras Mann, ein großer, blonder Bursche. Sie scheint mit dem Los nicht unzufrieden zu sein. Wir küssen Mama noch auf die Wange und ziehen uns dann in unsere Zimmer zurück.

      Durch die Papierwand, rechts neben meinem Bett, höre ich Beas leise Stimme, dann nur noch ihren Atem, der immer schneller wird, schließlich nur noch einen kleinen Schrei und ihr Stöhnen, das lange und tief nachklingt. Ich spreche noch ein wenig mit Gulo. Den Siegellack hat er tatsächlich auf einer Auktion ersteigert. Er hat vor, ihn bei einer Produktionsgenossenschaft in großem Stil herstellen zu lassen, und ist sicher, dass es ein Verkaufsschlager wird. Ja, Gulo ist ein geschäftstüchtiger Mann. Das Parfüm hat ihm Dugua geschenkt. Es ist synthetisch, allerdings sehr teuer. Die Hersteller bemühen sich, den Duft der Blumen völlig naturgetreu nachzuahmen. Nur bei den sehr teuren Markenartikeln gelingt das.

      Gulo ist ein guter Mann, ich habe ihn mit einer Art wehmütiger Stimmung gewählt, weil ich mich an die frühere Zeit erinnert fühle.

      Er war vierzehn Jahre alt, ich einundzwanzig, nein, zweiundzwanzig. Ich habe ihn genommen. Ja, ich war ein Jahr lang seine Lehrerin. Er war sehr begabt, wenn ich so sagen soll. Und seine Begabung ist in all den Jahren nicht geschwunden. Er will seine Zärtlichkeit nicht an das Geschäft verraten. Seine Hände streicheln noch immer mit kaum merkbarer Sanftheit über meinen Rücken, dass ich mich voller Verwunderung frage, wie man in aller Geschäftigkeit sich diese Sanftheit der Hände erhalten kann. O ja, ich liebe meinen Bruder Gulo! Während meine Begierde unter seinen Händen in viele einzelne Gefühle zerspringt, bin ich dem Zufall denkbar, dass ich neben Gulo liege. Wäre es nicht schön, ein Kind zu haben, das mich mit ebenso sanften Bewegungen streichelt? Doch ich werde kein Kind haben. Diesmal nicht.

      Manchmal stelle ich mir vor, dass es vielleicht für Fremde und für die Menschen vergangener Zeiten seltsam sein könnte, wenn sie unsere Form des Zusammenlebens in der heutigen Gesellschaft erlebten. Oder ist es nicht seltsam für jemanden, der vor zweihundert Jahren sein ganzes Leben mit ein und demselben Mann verbracht hat, zu sehen, dass jede Frau heute das Recht hat, zu jeder Zeit einen anderen Mann zu nehmen? Und auch die Folgen dieser Freiheit müssten sich für Fremde sehr seltsam ausnehmen. So, dass wir alle keine Väter haben. Das heißt: Natürlich haben wir alle einen Vater. Die eine oder andere weiß sogar einiges über den Mann, der sie gezeugt hat. Aber das ist natürlich unwichtig. Ich zum Beispiel weiß nicht, wer damals der Urheber meines Lebens war. Wozu


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