Mein Sonntag in Münster. Werner Zillig
Kreise stehend, die Arme wie zu Beginn des Tanzes um Schultern und Hals der Nebenstehenden geschlungen, beenden wir den Tanz. Das Synharmonicum spürt die ersten Anzeichen unserer Erschöpfung auf und überträgt sie in eine feierliche und erhabene Schlussmelodie. Wir drängen uns eng aneinander und steigen wie eine einzige, ganz mit sich einig gewordene Frau aus dem Wasser. Nachdem die Musik in einem Harfenakkord verklungen ist, greifen wir, noch ein wenig atemlos, zu den Badeumhängen. Wir sind gerüstet. Wir sind rein und berechtigt, die Zeremonie des Familientages zu begehen.
Nach dem Mittagsmahl folgt das Vorbereitungsbad der Männer. Natürlich hat es nicht die Kraft, die das Bad der Frauen hervorbringt. Dazu ist es nicht eingerichtet. Um das Teichbecken sind kleine Tische mit Stühlen aufgestellt worden. Wir sitzen zusammen mit unserer Mutter da und trinken Sekt. Die Männer betreten den Raum und legen ihre Badeumhänge ab. Mutter schaltet das Synharmonicum ein, das nun die Symphonie, die von uns vor dem Mittagsmahl geschaffen worden ist, noch einmal wiedergibt. Das Wasser im Teich ist das, in dem die Frauen gebadet haben. Auch das ist traditionell so. Zu den Klängen der Harfenmelodie steigen die Männer in den Teich, und unsere Blicke folgen ihnen. Wir freuen uns über den Anblick dieser schönen, starken Körper, die im Tanz den Versuch machen, die Gemeinschaft der Frauen nachzuahmen. Es kann ihnen nicht gelingen. Wir alle wissen, dass Männer zur wirklichen Ekstase unfähig sind. Sie wollen uns gefallen, und ihr Tanz erfreut uns wie das Spiel der Kinder, die die Schönheit der erwachsenen Frauen darstellen wollen, indem sie deren Bewegungen und Grußformeln imitieren. Die Schwestern erzählen von ihren Männern, wo sie sie kennengelernt haben, von ihren Vorzügen und ihren Nachteilen. Währenddessen haben die Männer ein wenig scheu und ungeschickt mit der Reinigungszeremonie begonnen. Der darauf folgende männlich-ungeschickte Schlusstanz macht jedem klar, dass zwischen der Seele der Frauen und den engen und fantasielosen Geistern der Männer immer ein unüberbrückbarer Unterschied bestehen wird, der nur in glücklichen Fällen außerordentlichen Zufalls einmal unterbrochen wird: wenn ein Mann geboren wird, der die Fähigkeiten der Frauen in seinem brustlosen Körper trägt. In der vergangenen Nacht habe ich mir überlegt, ob nicht Gulo ein solcher Mann ist. Doch der Tanz unten im Teich macht in aller Deutlichkeit klar, wie weit auch er davon entfernt ist, die freie Seele einer Frau zu besitzen. In seinem Gesicht erkennt man die männliche Ängstlichkeit, als er mit den anderen jenen ekstatischen Paukensatz zu ertanzen sucht, den wir heute Morgen erschaffen haben. Wir lachen, vom Sekt und von der Lust des Tanzens erheitert, da wir die bewussten Verrenkungen der Männer sehen. Diese nehmen uns das Lachen nicht übel, sie wissen um die Überlegenheit der Frauen. Von wem auch die Zeremonie des Vorbereitungstages erdacht worden ist, er hat uns damit ein Mittel in die Hand gegeben, die Freiheit und Macht der Frauen darzutun.
Mit dem Vorbereitungsbad ist der wichtigste Teil des Vorbereitungstages beendet. Am späten Nachmittag gehen wir mit den Männern spazieren. Mutters Haus liegt inmitten einer sehr anmutigen, hügeligen Landschaft. Es ist Herbst und die Blätter der Bäume sind rot. Neben mir geht Seno, dem ich ein Kompliment für die exzellente Zubereitung des Duftöls mache. Der Junge lächelt und blickt vor sich auf den Weg, ja es scheint, als erröte er sogar ein wenig. Er ist allerliebst, ich überlege, ob ich Bea nicht fragen soll, wie viel sie für Seno verlangt. Ich weiß, dass ich ihn nicht einfach tauschen kann. Frano habe ich nur als Verlegenheitslösung mit zu diesem Familientag gebracht. Frano ist ein guter Liebhaber, doch er ist ein wenig zu dick geworden. Er ist erst vierundzwanzig Jahre all und isst doch schon so viel, als wäre er fünfunddreißig und ohne Hoffnung, noch einmal auf einem Familientag oder bei einer ähnlichen Gelegenheit erlöst zu werden. Nein, Bea wird mir Seno nicht einfach so überlassen. Sie kennt ihn, wie sie mir während des Vorbereitungsbades der Männer erzählt hat, erst seit ungefähr vier Wochen, und wenn ich die Blicke, die sie manchmal mit Seno tauscht, richtig deute, ist sie sogar noch ein wenig verliebt in ihn. Ich werde ihr zehntausend Dollar anbieten oder, wenn es sich zeigen sollte, dass Seno zärtlich sein kann, möglicherweise sogar fünfzehntausend.
Bei der Abendzeremonie habe ich die erste Wahl, und ich wähle Seno. Er ist überaus scheu und zurückhaltend. Ob dies damit zusammenhängt, dass ich ziemlich genau doppelt so alt bin wie er? Ich glaube es nicht. Er scheint zu wissen – irgendwie mit einem nahezu weiblichen Instinkt scheint er es zu spüren, dass ich seine Zurückhaltung liebe. Ich gewinne sogar den Eindruck, dass er trotz seiner Jugend mehr über Frauen weiß als irgendein Mann vor ihm. In der Nacht zeigt mir Seno, dass ich recht habe. Er ist von einer über alle Maßen weisen, wissenden Zärtlichkeit. Ich bin sicher: Er – er ist einer jener wenigen Männer, deren Seele die Größe der weiblichen Empfindungen zu ahnen vermag. Wiewohl ich weiß, dass man, wegen der Kürze des Gedächtnisses in diesen Bereichen, sehr vorsichtig mit der Verwendung der Superlative sein muss: Am anderen Morgen bin ich mir völlig sicher, einem der genialen Männer begegnet zu sein, deren Geist und Sensibilität an den Geist und die Sensibilität der Frauen heranreicht. Seno hat sich während des Vorbereitungsbades selbst verborgen gehalten, weil er sah, dass seine Fähigkeit zur freien Ekstase die anderen nur verwirrt und beschämt hätte. Nur gegenüber einer Frau darf er zeigen, dass er wie eine Frau sein kann. Eine weibliche Seele in einem jungen, männlichen Körper, das ist die Erfüllung menschlicher Möglichkeiten! An diesem Morgen ist mir klar, dass ich dieses Haus nur mit Seno verlassen will. Was immer Bea verlangt, sie soll es bekommen.
Dieser Tag, der Tag nach der Reinigungszeremonie, ist der völligen Erholung gewidmet. Obwohl ich durchaus sicher bin, dass es unschicklich ist, diesen Tag der Erholung mit einem Mann zu verbringen, gehe ich doch wenigstens am Vormittag eine Stunde lang mit Seno spazieren. Ich lege meinen Arm auf seine Schulter, er lächelt. Er versteht mich in vollkommener Weise. Es muss erlaubt sein, mit Seno zusammen unter den herbstlichen Bäumen zu gehen. Ist er nicht einer Frau ebenbürtig, ja sogar mehr als eine Frau? Da ich das denke, erschrecke ich. Es ist blasphemisch, Derartiges zu denken. Aber Seno ist in der Tat nur so vollkommen – in ihm wohnt die Seele einer Frau, und in der Gestalt des Mannes hat er zugleich die Fähigkeit, den Frauen Lust und Zärtlichkeit zu bringen. Bea ist zu jung, sie kann nicht wissen, dass sie mit Seno eine Ausnahme gefunden hat. Sie wird enttäuscht werden, wenn sie sich einen anderen Mann sucht. Sie muss immer enttäuscht werden. So aber kann sie auch nicht ermessen, wie viel mehr an Freude ihr Seno gibt. Ich werde ihr das sagen. Offenheit ist die Tugend der Frauen. Nur dort, wo Frauen von Männern unterdrückt werden, entwickeln auch sie den hinterhältigen, machtgierigen Charakter der Männer. Wir sind Schwestern, und ich kann sicher sein, dass Bea mir Seno überlassen wird. Gerade weil ich ihr sage, dass sie mit Seno einen unbezahlbaren Mann verliert. Kein Betrag kann diesen Wert aufwiegen. Noch heute Abend werde ich mit ihr sprechen. Oder soll ich die Zeremonie des Familientages abwarten? Ich habe das Gefühl, dass ich bis übermorgen warten sollte, ehe ich mit Bea spreche.
Am Abend wählt Siria, die heute die erste Wahl hat, ebenfalls Seno. Es ist außergewöhnlich, sehr außergewöhnlich, dass ein Mann dreimal bei der Abendzeremonie als Erster genommen wird. Man spricht unter Frauen nicht über diese selbstverständlichen Dinge: Männer sind durch andere Männer zu ersetzen. Die Gefahr, einen Mann durch wiederholte Bevorzugung stolz und überheblich zu machen, wiegt schwerer als die Erwartung einer Nacht. Doch alle scheinen den Wert Senos zu spüren. Ich erinnere mich eines Begriffs, den ich, als ich noch zur Schule ging, in der historischen Anthropologie kennenlernte; die Lehrerin gab sich alle Mühe, uns die Bedeutung dieses Wortes klar zu machen. Es ist ihr nur sehr unvollkommen gelungen. Nun plötzlich begreife ich in einem seltsamen, geringen Schmerz, der meine Brust durchzieht, welches Gefühl dies gewesen sein muss: Eifersucht. In meinem Innern schlage ich danach wie nach einem Insekt, und das Gefühl fliegt schnell davon. Es ist nicht tot, es wird wiederkommen…
Dann der Morgen, der Tag der Familienzeremonie. Als ich neben dem großen, blonden Burschen, der mit Misra gekommen ist, erwache, rieche ich den strengen Duft des Gewürzweines. An der Tafel tragen wir schon alle die weiten, seidenen Festgewänder, und meine Schwestern und Dugua haben wie ich das Haar mit einem breiten Band zurückgebunden. Freude und Feierlichkeit mischen sich in den Geruch des Weines. Die Zeit vor dem Mittagessen vergeht mit dem Abstimmen der einzelnen Geräte. Das Gelingen der Familienzeremonie hängt von der Genauigkeit der Geräte ab, und diese kann nur voll ausgenutzt werden, wenn man genügend Zeit hierauf verwendet, die einzelnen Blocks genauestens auszupegeln. Mutter übergibt jedem von uns nach dem