Mein Sonntag in Münster. Werner Zillig
der Koch, und zwei Frauen waren dabei, es zuzubereiten. Sie kochten Pilze und Kartoffeln. Als das Essen gar war, trat Eugen mit dem Geigerzähler an den Topf. Ein leichtes Rattern, nicht besonders stark. Eugen hörte sich das Geräusch ein paar Sekunden lang an, dann nickte er mit dem Kopf, und Richard begann, mit einem Schöpflöffel die Essensgefäße, Teller und kleinen Schüsseln, zu füllen.
Nach dem Abendessen rückten Eugen und Simon ihre Sessel näher an das Feuer, um noch ein wenig über grundsätzliche Fragen der Geschichte und Entwicklung der Gruppe zu sprechen. Manchmal setzten sich einige Gruppenmitglieder dazu und hörten verwundert, welch seltsame Ideen da gesponnen wurden. Jeder konnte bei dieser Gelegenheit feststellen, dass Eugen und Simon wirklich allen anderen geistig überlegen waren. Die Führung der Gruppe lag bei ihnen in guten Händen.
Heute setzte sich niemand zu den beiden Philosophen. Alle verkrochen sich nach dem Essen in ihre Ecken, um gleich darauf einzuschlafen. Die Arbeit während des Tages war anstrengend gewesen.
Eugen und Simon, die ihre Stimmen leise zu halten suchten, um die anderen nicht zu stören, waren nach kurzer Zeit bei einem ihrer Lieblingsthemen angekommen: Sie diskutierten darüber, wie es zum Krieg gekommen war. Manchmal, wenn sie sich über eine These besonders uneins waren, kreischte die Stimme Eugens auf, oder Simons Rede wurde von einem konvulsivischen, erbitterten Röhren unterbrochen. Die Schlafenden störte das nicht mehr.
Schon seit Jahren stritten Simon und Eugen über die Entstehungsursachen des Krieges. Sie taten es leidenschaftlich, sehr grundsätzlich und mit der Freude am intellektuellen Wettstreit. Ihre beiden Positionen waren seit Langem unverändert gegensätzlich, aber immer wieder bemühten sie sich, ihren Auffassungen neue Facetten hinzuzufügen. Noch immer hoffte jeder von den beiden, dass er eines Tages den anderen überzeugen werde.
Simon vertrat die Auffassung, an diesem letzten Krieg, wie an allen anderen Kriegen auch, sei die Unfähigkeit des Menschen schuld, seinen technischen Fähigkeiten moralische Schranken zu setzen. Wie auch immer, die Menschen seien nicht imstande, tödliche Auseinandersetzungen zu vermeiden. Sie könnten einfach nicht wissen, ob andere es ehrlich mit ihnen meinten. Misstrauen und Rüstung seien die natürliche Folge. Der Krieg sei immer das Überhandnehmen von Misstrauen und Rüstung.
Eugen setzte dem immer erst einmal entgegen, diese Betrachtungsweise sei viel zu ernsthaft. Heute sei die Zeit gekommen, aus der ironischen Distanz auf die Vergangenheit zu sehen. Gerade weil alles verloren sei, müsse man mit größerer Freiheit an die Erklärung gehen. Er mokierte sich über Simons anspruchsvolle Gedankengebäude und nannte sie bestürzend vollkommen. Sie hätten, wie sich Eugen auszudrücken pflegte, ›philosophische Vorkriegsqualität‹. Vor allem wenn er sich so über Simons Thesen lustig machte, geriet Eugens Stimme völlig außer Kontrolle und begann sich zu überschlagen.
Eugens Erklärung wiederum war so, dass Simon nicht müde wurde, ihr groteske Beliebigkeit anzuprangern. Eugen vertrat nämlich die Meinung, die Kriege seien ein Produkt der außer Kontrolle geratenen Ästhetik. Gerne zitierte er in diesem Zusammenhang Zeitungen, die er bei seinem Besuch in Bamberg in einer Bibliothek eingesehen hatte. Da hätten Journalisten, die es weit von sich gewiesen hätten, dass sie als Verherrlicher des Krieges bezeichnet wurden, seitenlang von der Schönheit und der Präzision neuer Waffen geschwärmt. Sogar die Vernichtungskraft sei häufig mit einer Sprache gefeiert worden, die an Feuilletonberichte über gewisse Opernaufführungen gemahnte. Simon ärgerte sich jedes Mal, wenn Eugen die Zeitungen zu zitieren begann, weil er meinte, dass das eine unfaire Diskussionsweise sei. Er könne diese Behauptungen nicht überprüfen, sodass Eugen einen Vorteil in Anspruch nähme, der ihm nicht zustünde. Vor längerer Zeit, mitten in der Hitze der Diskussion, hatte Eugen darauf geantwortet, er, Simon, könne ja, wenn er Lust habe, nach Bamberg gehen und alles überprüfen. Damals war Simon sehr getroffen gewesen und hatte über zwei Wochen lang kein Wort zu Eugen gesagt.
Auch an diesem Abend waren die beiden nach kurzer Zeit wieder bei ihren alten Thesen. »Was du vergisst«, sagte Simon, »ist die Tatsache, dass das Bewusstsein unserer Vorfahren einfach nicht deinen Konstrukten entsprochen hat. Sie haben sich bemüht, den Krieg zu verhindern. Was du dauernd zitierst, das mögen ja einige Journalisten einmal geschrieben haben. Aber deshalb ist es doch noch lange keine Erklärung für den Krieg!«
Hier kreischte Eugens Lachen so laut auf, dass sich einige Schläfer unruhig herumwarfen und fast aufgewacht wären. »Diese Forderung, mein Lieber, ist ja wieder einmal von bestechender Logik! Unsere Vorfahren! Soll ich wirklich meine Erklärung daran messen, ob sie den Einsichten einer Welt voll Geisteskranker entspricht? Das ist doch wieder so, als ob ich einen von unseren kleinen Narren nur so behandeln dürfte, dass es seinen dumpfen Gefühlen verständlich wird.«
Dies war ein Punkt, an dem sich Simons und Eugens Meinungen wiederum grundsätzlich unterschieden. Während Simon nicht aufhörte zu betonen, man müsse die frühere Geschichte und die eigenen Vorfahren trotz des Krieges mit Ernst und Ehrfurcht betrachten, sprach Eugen immer nur von den Idioten, die vor dem Krieg gelebt und alles verschuldet hätten. Simon wurde atemlos vor Zorn, wenn Eugen derartig blasphemisch sprach. Auch jetzt schwieg er, und man hörte nur ein Atemgeräusch, das sich von einem Röcheln langsam zu einem tiefen Stöhnen steigerte.
An Abenden wie diesem war es schon vorgekommen, dass sie kein Ende gefunden hatten. Am Morgen, wenn die anderen aufstanden, saßen sie noch immer am Feuer und stritten. Heute Abend allerdings überwanden sie diesen Punkt der Diskussion. Sie kamen auf das Thema zurück, das sie am Nachmittag schon einmal besprochen hatten. Es war Eugen, der das Gespräch wieder auf Jolanda brachte.
»Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir die Frage, ob unsere Vorfahren alle Idioten waren, zurückstellen sollten. Wir haben jetzt wichtigere Dinge zu besprechen. Oder bist du anderer Meinung?«
Simon, dem dieses Gezänk über die geistige Verfassung der Vorfahren immer ein wenig zuwider war und der sich nur darauf einließ, weil er meinte, im Namen der Vernunft sprechen zu müssen, nahm diesen Vorschlag Eugens dankbar an. Er wünschte sich manchmal, dass Eugen von dieser merkwürdigen Geschichtsphilosophie ablassen würde. Zusammen könnten sie dann daran gehen, die Geschichte vor dem Krieg sachlich zu diskutieren. Aber Eugen war und blieb ein Surrealist, eine Mischung aus klarem Verstand und verrückten Einfällen. Da musste man ja schon dankbar sein, wenn er wenigstens jetzt einmal die Augen nicht vor den dringenden Problemen verschloss. Jolanda war noch jung, aber Eugen hatte, auch wenn er selbst es am Nachmittag nicht hatte eingestehen wollen, trotzdem recht: Man musste sich rechtzeitig um einen Mann kümmern, der Jolanda angemessen war.
Anschließend redeten sie noch eine halbe Stunde lang darüber, was zu tun sei. Sie kamen überein, dass sie innerhalb von zwei Wochen eine Entscheidung suchen wollten. Auf welche Weise auch immer, Jolanda würde, wenn es soweit war, den schönsten Mann bekommen, den es in ganz Süddeutschland gab. Eugen wollte mit dem Funkgerät weiterhin herumhorchen, ob es noch andere junge Männer gab, die infrage kamen.
Die darauffolgenden Tage verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Manchmal gingen Eugen und Simon mit den anderen Mitgliedern der Gruppe in den Wald, um Nahrung zu sammeln. Meist aber blieben sie vor der Höhle sitzen und beratschlagten, was sie tun wollten. Nachdem eine Woche vergangen war, hatte Eugen noch immer keinen geeigneten anderen Kandidaten mit dem Funkgerät ausfindig machen können. Alles deutete darauf hin, dass der Mann, der südlich von Nürnberg lebte, der einzige war, der über alle äußerlichen Merkmale eines gesunden Mannes verfügte. Rudolf, Eugens Verbindungsmann, hatte nur Gutes berichtet. So lief alles auf die Frage hinaus, wie es gelingen könnte, den Mann zu Jolanda oder Jolanda zu dem jungen Mann zu bringen.
Wie dringend diese Aufgabe war, zeigte sich drei Tage später. Eugen und Simon waren mit in den Wald gegangen. Als sie am Vormittag plötzlich auf den Gedanken kamen, dass es möglich sein musste, aus einem der ausgebrannten Dörfer ringsum so viel Material zu beschaffen, dass ein Fahrzeug gebaut werden konnte, gingen sie zur Höhle zurück. Unterwegs kamen sie an einer kleinen Höhle vorbei, aus der sie deutlich eine klare, unverzerrte Frauenstimme hörten. Als sie der Stimme nachgingen und die Höhle betraten, sahen sie zuerst Jolanda. Sie war bis auf ein dünnes Hemd ganz nackt und kniete vor dem halb ausgezogenen Robert. Die Augen des Narren zuckten nervös hin und her, und aus seinem Mund floss