Mein Sonntag in Münster. Werner Zillig

Mein Sonntag in Münster - Werner Zillig


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Patrick. Auch der Junge antwortet mit einem lang gezogenen Ja.

      Gleich darauf bricht im Saal Jubel aus. Simon, der Zeremonienmeister, hat es so einstudiert. Jolanda und Patrick rühren sich nicht von der Stelle. Die Verwirrung ist den beiden Jungvermählten ins Gesicht geschrieben. Simon deutet die Miene der beiden als Ausdruck des Glücks, Eugen empfindet im Anblick der ganzen Szene ein Gefühl erregender Sonderbarkeit.

      »Nun wollen wir feiern!«, sagt Simon und gibt dem Brautpaar einen Wink. Beide wenden sich um und schreiten mit bewusst langsamen Schritten zur Tür.

      Die Zuschauer folgen. Draußen im Freien sind Tische und Bänke aufgestellt, und es beginnt das Hochzeitsessen, ein Mahl mit ungeahnten Überraschungen in der Speisenfolge. Von allem ist genug da, Bohnen, Salat, verschiedene Soßen und vor allem: Fleisch. Genießbares, zartes Fleisch. Dazu serviert man Einheimischen wie Gästen Apfelwein. Es ist mit einem Wort ein wunderbares, unvergessliches Fest. Eugen und Simon gehen, nachdem sie gegessen haben, zwischen den Tischen umher. Überall sagt man ihnen, wie unvergleichlich schön die Trauung am Morgen gewesen sei, wirklich unvergleichlich schön.

      Es ist Eugen, der am Mittag bemerkt, dass Robert nicht unter den Hochzeitsgästen sitzt. Er fragt zuerst Simon. Auch der weiß nicht zu sagen, wann Robert sich entfernt hat. War er überhaupt bei der Trauung anwesend? Sie wissen es nicht. Sollte man das ganze Fest zerstören, jetzt, da die Stimmung ihren ersten Höhepunkt erreicht hat? Simon und Eugen beschließen, erst einmal unauffällig zu suchen. Sie vergewissern sich, dass Robert wirklich nicht bei den anderen sitzt, dann gehen sie durchs Dorf. Als sie den Narren nach einer halben Stunde noch nicht gefunden haben, wird Simon unruhig, während Eugen meint, dass Robert schon in der Nähe sein werde. Er habe sich doch nie von der Gruppe entfernt.

      Eugen behält recht. Nach ungefähr einer Stunde finden sie Robert hinter einem Haus am Rande des Dorfes. Er sitzt ruhig auf dem Boden und blinzelt in die Sonne.

      »Möchtest du nicht mit uns feiern, Robert?«, fragt Eugen.

      Robert scheint die Frage verstanden zu haben. Langsam, ohne Simon und Eugen anzublicken, schüttelt er den Kopf. Er ist – ja, er ist ohne Frage traurig, und Trauer hat man zu respektieren. Die Trauer der Narren ist in nichts geringer als die der Verständigen. Robert wird, wenn das Fest geendet hat, wieder mit zurückfahren, gewiss. Jetzt soll er, wenn er es so will, hier allein bleiben dürfen.

      Als Eugen und Simon schweigend zum Festplatz zurückgehen, sind sie sich, ohne dass sie darüber ein Wort verlieren müssten, darin einig, dass Roberts Trauer dem Tag nichts von seiner Feierlichkeit nimmt. Der Kontrast erhöht das freudige Gefühl, gibt der Festlichkeit eine gewisse Randschärfe und verhindert so, dass der Tag ins diffuse Wohlgefühl abgleitet.

      »Wir werden hoffen dürfen«, sagt Simon endlich. Er fügt nicht hinzu, worauf sie hoffen sollen. Aber das ist auch nicht notwendig. Eugen grinst ihn von der Seite her an. In spöttischer, herzlicher Freundschaft.

      1980 Ein Mann für Jolanda. Aus: SF-International 1. Hrsg. von Herbert W. Franke. München: Goldmann. Goldmann TB 23345.

      

      Das Mädchen aus der weißen Zeit

      »Georg, wir gehen jetzt«, rief Frau Klein und hob ihre Skier auf. Georg ging zur Tür seines Zimmers, um sich von seiner Mutter zu verabschieden. Sie fuhr zusammen mit seinem Vater und Katia, seiner Schwester, über das Wochenende zum Skilaufen. »Ja, tschüs denn!«

      »Willst du nicht noch mit rauskommen und Vater und Katia Auf Wiedersehen sagen?«, fragte Frau Klein.

      »Ach Gott, ihr fahrt doch nicht zum Südpol! Sag ihnen halt, dass ich mich hier verabschiedet habe.«

      Frau Klein warf ihrem Sohn einen vorwurfsvollen Blick zu, so einen Ja-wenn-die-Kinder-älter-werden!-Blick, dann ging sie aus der Wohnung, und Georg trottete zur Haustür, um sie hinter seiner Mutter zuzumachen. Er fühlte sich sehr unwohl. Alle diese Bräuche! Guten Tag und Auf Wiedersehn, Mein Name ist – Gestatten Sie, dass – Dürfte ich Sie bitten – idiotisch! Die ganze Welt ging ihm auf die Nerven. Es war Zeit, dass er in sein Labor kam und nichts mehr von diesem ganzen Firlefanz hörte. Er nahm den Schlüssel vom Brett und ging hinunter in den Keller.

      Hier im Keller, in seinem kleinen Labor, fühlte er sich wohl. Hier hatte er alle Bücher, Aufsätze, Tabellen, Werkzeuge und Materialien, um sich seine eigenen Dinge zu bauen. Das, was ihn interessierte. Seine Eltern und Katia verstanden davon sowieso nichts. Es war gut, dass sie weggefahren waren. So hatte er Zeit für sein entscheidendes Experiment. Die neue Chronobox war schon seit über vier Wochen fertig, und alle Tests waren erfolgreich verlaufen. Gegenüber der alten hatte er diese Box in vielen Punkten verbessert. Außerdem war sie jetzt so geräumig, dass er bequem selbst darin Platz hatte. Natürlich war sie nicht so groß wie die Riesenboxen in den Labors der Universitäten und der Industrie, aber das war egal. Die Technik beherrschte er jedenfalls. Georg betrachtete die Kontrollinstrumente. Die Box wurde seit dem Vormittag aufgeladen. Noch eine Viertelstunde ungefähr, dann war es soweit. Er setzte sich in den alten Sessel in der Ecke und stellte auf dem kleinen Rechner die Vibrationswerte ein. Alles andere konnte er vom Innern der Box aus steuern. Er wartete. Eine rote Lampe leuchtete auf und zeigte an, dass die Ladung für die Box ausreichend war. Jetzt – ja, jetzt war es soweit. Georg stand auf und mühte sich um Festigkeit und Entschlossenheit. Er zitterte trotzdem ein wenig. Angst war das nicht. Das Gefühl ähnelte jenem Schwindel, der einen überkommt, wenn man in großer Höhe über ein breites, festes Brett gehen soll. Wenn das Brett sich am Boden oder nur einen Meter darüber befände, dann wäre alles ganz leicht. Aber so?

      Überlege nicht zu viel, sagte Georg zu sich selbst. Es ist alles in Ordnung. Er legte die Hand auf den schweren Würfel in der Mitte des Raums. Kaum mehr als einen Meter Kantenlänge hatte das Ding. Aber es würde genügen. Er hatte es ja schon ausprobiert. Er passte bequem hinein. Also, Luke auf!

      Georg drückte auf den Knopf des elektrischen Flaschenzugs. Der Elektromotor straffte die Kette und hob langsam und gleichmäßig den schweren Deckel der Kiste hoch. Ungefähr einen halben Meter über der Box blieb der Lukendeckel dann stehen, und Georg stieg ein. Vor sich hatte er die schmale Konsole mit den Instrumenten. Die Innenbedienung für den Flaschenzug, die Anzeigen für die Vibrationswerte und die Zeit- und Raumkoordinaten, die verschiedenen Stellhebel zur Veränderung der Koordinaten während der Fahrt – und dann der rote Startknopf. Von oben tönte das Summen des Flaschenzugs, der die Decke auf die Luke herunterließ. Das harte Einrasten des zentnerschweren Stahlbetonteils, das die Umgebung schützen sollte – fertig? Ja, fertig, natürlich. Was würde geschehen, wenn er – vielleicht fand er nicht mehr zurück, oder die Reise wurde nicht richtig gesteuert? Inmitten seiner Zweifel und Überlegungen, plötzlich und sogar für sich selbst ein wenig noch überraschend, drückte Georg auf den roten Knopf. Für einen kurzen Augenblick geschah nichts, und er glaubte eben diesen kurzen Augenblick lang, dass nun gar nichts mehr geschehen würde.

      Aber dann setzten die Vibrationen ein. Das Innere des Betonwürfels zerstob in weniger als einer tausendstel Sekunde. Dass er zu wenig Dämpfung habe, dachte Georg noch, dann verlor er das Bewusstsein.

      Als Georg Klein aus der Ohnmacht erwachte, glaubte er zuerst, er befände sich noch immer im Innern der Chronobox. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein entscheidendes Experiment gelungen war. Nach einigen Überlegungen griff er nach oben und löste den Verriegelungshebel. Als die Luke daraufhin einen Spaltbreit aufsprang, wusste er, dass er nicht mehr in seinem kleinen Kellerlabor war: Blau. Blauer Himmel! Nein, doch nicht. Aber was? Georg richtete sich auf, indem er mit einer Hand die Luke ganz aufdrückte. Er stand in der inneren Schale seiner Chronobox. Die äußere, zentnerschwere Hülle war verschwunden, sie war im Labor zurückgeblieben. Hier war nur der dünne Metallmantel des Innenraums. Also war das Experiment doch gelungen. Aber was bedeutete das? Wo war er, und in welcher Zeit befand er sich? Georg hatte sich lange genug mit der Theorie der Raum-Zeit-Verschiebung beschäftigt und wusste, dass diese Fragen, auch wenn man sie fast zwangsläufig stellen wollte, völlig ohne Sinn waren. Er war außerhalb des Weltraums, in dem sich die Erde drehte. Deshalb war es sinnlos,


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