Mein Sonntag in Münster. Werner Zillig
ihn vorsichtig an der Schulter. Er spürte unter seinen Fingerspitzen den seidigen Stoff des Gewandes, aber der andere bemerkte ihn offenbar noch immer nicht. Eine Art Verzweiflung überkam Georg. Er fühlte sich ausgeschlossen und grenzenlos allein. Dieses Gefühl war nicht zu ertragen, und so ging er mitten hinein in den Kreis, den die Gruppe gebildet hatte. Er stellte sich reihum vor jedem auf, beugte sich vor und sagte ein paar Worte. Es gab niemanden, der auch nur den Versuch gemacht hätte, an ihm vorbei zu sehen. Alle ohne Ausnahme sahen sie direkt durch ihn hindurch. Am Ende, als er schon nicht mehr hoffte, irgendein Zeichen zu erhalten, ging er auf einen Jungen zu, fasste ihn bei den Füßen und warf ihn, indem er die Füße hochhob, auf den Rücken. Einige aus der Gruppe lachten jetzt, aber es blieb keinen Moment lang unklar: Sie lachten nur über den, der da rücklings im Gras lag. Ihn beachtete keiner.
Für einige Zeit stand Georg ratlos zwischen den weiß gewandeten Jungen und Mädchen. Dann ging er weiter, hinüber zu einer anderen Gruppe. Dort erging es ihm nicht anders als bei der ersten. Er wusste sich jetzt keinen Rat mehr und setzte sich einfach ins Gras und dachte nach. Er konnte sich irgendeine fadenscheinige Erklärung für alle diese Merkwürdigkeiten ausdenken, natürlich; aber eine wirkliche Erklärung gab es nicht; er spürte das sofort. Einfach weitergehen, das wollte Georg nicht. Oder zurückgehen zur Box? Nach Hause, ohne zu wissen, was auf diesem merkwürdigen Planeten, hier in diesem Garten vorging? Das wollte er auch nicht. Nein, das war ganz und gar unmöglich. Also konnte er nur warten. Es saß sich angenehm hier, fand Georg nach einiger Zeit. Es war ihm, als gehörte er hierher. Er wusste nicht, warum er das dachte, wo er doch so einsam und ausgestoßen hier herumhockte. Aber er fühlte sich wohl.
Der Tag ging dahin. Die kleinen bunten Vögel waren ein wenig stiller geworden. Die Mädchen und die Jungen in ihren weißen Gewändern gingen umher, sprachen miteinander, lachten. Sie waren alle (warum sah Georg das erst jetzt?) sehr ruhig und feierlich. Auch wenn sie lachten. Sie kamen ihm wie Auserwählte vor. Er wusste nicht, wie er auf diesen Gedanken kam. Hunger schienen sie jedenfalls keinen zu haben. Georg lachte ein wenig, als er zu sich selbst sagte, dass das kein gutes Zeichen für eine Auserwähltheit war. Aber vielleicht hatten sie doch Hunger? Denn jetzt gaben sie sich Zeichen und riefen sich Worte zu, die Georg nicht verstand. Und dann standen alle auf und gingen, so wie sie gekommen waren, wieder auf den Hügel zu.
Als sie ein Stück weit gegangen waren, flogen alle Vögel von den Bäumen auf und zogen, wieder eine große bunte Wolke, über die Dahingehenden hinweg.
Georg, der überlegt hatte, ob er den Gruppen folgen oder zu der Box zurückgehen sollte, hatte nicht sogleich bemerkt, dass ein Mädchen in seiner Nähe stehen geblieben war. Es ging nicht mit den anderen zurück, sondern stand unschlüssig und wartete. Als alle anderen schon beinahe die Anhöhe erreicht hatten, wandte es plötzlich den Kopf und – das war eine Täuschung. War es keine Täuschung? Das Mädchen sah herüber? Es lächelte ein wenig spöttisch und kam auf ihn zu. Georg fühlte, dass er dumm und fassungslos dastand, während das Mädchen auf ihn zukam. Konnte es ihn denn sehen, und warum konnte es ihn jetzt plötzlich sehen? Das Mädchen stand vor ihm und sah ihn an. Es lächelte, und Georg hatte das Gefühl, es zu kennen. Dabei sah es niemandem ähnlich. Keine seiner Mitschülerinnen sah so aus. Es hatte ein, nun ja: es hatte ein strahlendes Gesicht, ein Gesicht, dessen Eigenart keine Beschreibung wiedergibt. Große Augen, blau wie die Luft hier und ebenso durchsichtig, langes, hellblondes Haar. Das Mädchen war ungefähr so alt wie er, aber er hatte dennoch das Gefühl, viel jünger zu sein als dieses Mädchen. Wäre sie ihm auf der Erde begegnet, dann hätte er sich in sie verliebt, hoffnungslos, und er hätte gleichzeitig gewusst, dass er es nie auch nur kennenlernen würde, und das hätte ihn, gegen alle Logik, überhaupt nicht gestört. So schnell ging das alles. Tausend Gedanken in diesem Augenblick – und vollkommene Verwirrung. Georg Klein begriff: Die Gefahren, die auf unbekannten Planeten drohen, treten nicht unbedingt in der Gestalt von Monstern auf. Das wusste er in diesem Moment. Er wusste es, aber verstand nicht, warum es so war. Das Mädchen öffnete den Mund. Es sagte etwas in seiner singenden Sprache, und Georg verstand, was es sagte. Er verstand die Sprache nicht, aber er spürte, wie sich die Bedeutung dessen, was das Mädchen gesagt hatte, in seinem Kopf auftat. Die Bedeutung kam irgendwoher, irgendwo aus der Richtung, aus der in den Köpfen der Menschen auch die Gedanken kommen, die sie dann in Worte fassen und aussprechen. Er wusste einfach, was die Bedeutung dieser Worte war. Sie hatte gesagt: »Willkommen in der weißen Zeit!«
»Guten Tag«, sagte er, »ich heiße Georg Klein.« Georg wusste nicht, was er sagen sollte.
»Ich heiße Krina«, sagte das Mädchen. Es schien verstanden zu haben, was er gesagt hatte. »Woher kommst du?«
»Ich komme von der Erde«, antwortete er. »Aber das ist nicht wichtig. Ich kann dir nicht sagen, wo die Erde ist. Sie liegt in einem anderen Kosmos und in einer anderen Zeit.«
»Und warum bist du zu uns gekommen?«, fragte Krina.
»Das ist Zufall. Ich habe nur einen ungefähren Bereich in der Chronobox eingestellt. Die Sensoren haben dann die Signale von diesem Planeten empfangen. Die Landung und alles das ging automatisch.«
»Das kann ich nicht verstehen«, sagte Krina. »Aber ich weiß, dass du nicht einer von uns bist. Niemand kommt in die weiße Zeit mit solchen Kleidern.«
Jetzt fiel Georg ein, dass er viele Fragen hatte. Vor allem: Wie kam es, dass die Bewohner dieses Planeten genauso aussahen wie die Menschen auf der Erde? Wer waren sie? Und warum hatten alle anderen so getan, als ob sie ihn nicht sehen könnten?
»Warum wir so aussehen wie du, das weiß ich nicht«, sagte das Mädchen auf seine Frage hin.
»Und warum die anderen dich nicht gesehen haben? Nun ja, sie leben in der weißen Zeit. Deshalb.«
»Das verstehe ich nicht. Was bedeutet das: in der weißen Zeit leben? Sie haben sich doch auch gegenseitig gesehen. Sie haben sich unterhalten. Warum haben sie mich nicht gesehen?«
»Du weißt nicht, was die weiße Zeit ist«, antwortete Krina. »Deshalb verstehst du das alles nicht. Wenn man in der weißen Zeit lebt, sieht man nur die Menschen, mit denen man sich in Übereinstimmung befindet, in Harmonie, verstehst du? Alle anderen sieht man nicht, man hört sie nicht, sie sind überhaupt nicht da. Manche von uns können viele von den anderen sehen, manche sehen nur wenige. Es gibt aber keinen, der alle anderen sieht. Ich habe dich die ganze Zeit über gesehen. Ich nehme an, dass ich die Einzige bin, die dich sieht.«
»Und wer lebt alles in der weißen Zeit?«, fragte Georg weiter.
»Man wird in der silbernen Zeit geboren. Dann, wenn man kein Kind mehr ist und nicht mehr versorgt werden muss, kommt man in die weiße Zeit. Die weiße Zeit verlässt man, wenn man jemanden gefunden hat, mit dem man sein ganzes Leben verbringen möchte. Von diesem Zeitpunkt an kann man übrigens alle anderen sehen. Vorher nicht. Ja, und dann kommt noch die grüne und die braune Zeit. Solange man kräftig ist und arbeiten kann, bleibt man in der grünen Zeit und sorgt für alle anderen Zeiten mit. In der braunen Zeit blickt man auf das Leben zurück und bemüht sich um die Weisheit.«
»Das ist seltsam«, sagte Georg. »Bei uns ist das ganz anders. Bei uns leben alle in Familien. Die alten Leute leben manchmal in Altenheimen. Wenn sie nicht mehr für sich selbst sorgen können.«
»Das ist sehr interessant«, hörte Georg in seinem Kopf. »Ich möchte noch mehr erfahren. Mir scheint, ihr lebt wirklich ganz anders. Obwohl ihr uns so ähnlich seht. Aber wir müssen jetzt zurückgehen. Es wird bald dunkel werden. Das Tor wird gleich geschlossen. Die Vögel sind alle schon zurückgeflogen. Komm!«
Georg sah auf seine Uhr. Er konnte das Mädchen nicht begleiten, denn in einer knappen halben Stunde wurde die Box automatisch zurückgeholt. Die Zeit war festgelegt, er konnte sie von hier aus nicht verändern. Das sagte er auch zu Krina.
»Wo ist diese Box?«, fragte Krina.
»Dort«, antwortete Georg und deutete mit dem Finger in die Richtung, in der die Box stand.
»Kannst du morgen wiederkommen?«
»Morgen? Was bedeutet für euch morgen?«
»Morgen,