Mein Sonntag in Münster. Werner Zillig
in der Mitte des August die Arbeiten wider alles Erwarten vorzeitig abgeschlossen waren, musste Eugen erst einmal lernen, Fahrrad zu fahren. Er übte lange Zeit unter der Anteilnahme der ganzen Gruppe, die am Rande seiner Versuchsstrecke aufgereiht war. Eine von Grasbüscheln übersäte Straße, rechts und links die Mitglieder der Gruppe, auf der Straße Eugen, der erste kleine Anläufe nahm. Er machte Fortschritte, wobei das größte Problem blieb, dass sein linker Arm viel zu schwach für diese Fahrt war. Simon fand die Lösung. Er brachte an dem Fahrradlenker eine Stange an, auf deren Ende sich Eugen wie auf eine Krücke stützen konnte. Von da an war vieles einfacher, und Eugen machte zusehends Fortschritte.
Anfang September beherrschte Eugen das Fahrrad vollkommen. Auch die Fahrversuche mit dem Karren waren gut verlaufen. Dem Transport stand nichts mehr im Wege.
Eugen, der die Nürnberger Gruppe bereits in den vergangenen zwei Monaten von dem Fortgang der Arbeiten über Funk informiert hatte, meldete jetzt, dass alle Vorbereitungen zu einem guten Ende gebracht seien. Die anderen funkten zurück, dass sie alle, vor allem aber der junge Mann, für den Jolanda bestimmt sei, mit großer Spannung auf den Transport warteten.
Die Gruppe in der Höhle lebte in den letzten Tagen vor der Abreise in fiebriger Spannung. Sogar die Narren, die den Sinn des Treibens nicht verstehen konnten, liefen aufgeregter als sonst umher. Vorräte für Eugen und Jolanda wurden zusammengestellt. Eugen arbeitete zusammen mit Simon die endgültige Route aus, die Simon fahren sollte. An mehreren Punkten der Strecke wurden Ausweichstraßen für den Fall festgelegt, dass das Gebiet zu stark strahlte.
Dann, am 9. September, war es soweit. Die letzten Vorbereitungen waren abgeschlossen. Die Sonne schien und machte die mit dem Staub des Krieges immer noch angereicherte Atmosphäre wieder rötlich dunstig. Es war warm. Die ganze Gruppe begleitete Eugen und Jolanda zur Straße. Dort stieg Jolanda in den Kasten, der bis auf winzige, mit einfachen Filtern versehene Öffnungen verschlossen wurde. Eugen winkte noch einmal allen zu und gab Simon die Hand. Dann stieg er auf das Fahrrad, und das Gespann rollte zuerst langsam, dann schneller werdend die mäßig geneigte Straße hinab. Noch einmal hob Eugen mit einer altertümlich wirkenden, sportlichen Geste den linken, dürren Arm, ehe er hinter der Kurve verschwand …
Simon und Eugen hatten ausgerechnet, dass die Reise, wenn keine außergewöhnlichen Schwierigkeiten auftreten würden, ungefähr eine Woche dauern konnte. Dabei hatten sie berücksichtigt, dass Eugen häufig Straßen nehmen würde, die wie die blinden Gänge eines Labyrinths vor einer zerstörten Brücke oder einer zugeschütteten Stelle endeten. Obwohl also eine Woche vergehen musste, ging Simon doch am Abend zu dem Funkgerät und sprach mit der Nürnberger Gruppe in einer Weise, als könnte Eugen mit Jolanda schon eingetroffen sein. …
Ihm fehlte plötzlich die vertraute schrille Stimme. Wo war Eugen jetzt? Wo fand er eine ruhige Stelle für die Nacht? War er vielleicht trotz des bereitgehaltenen Geigerzählers schon in einen Bereich gekommen, in dem er vom Rad gestürzt war, weil sein Körper lautlos zerstört worden war?
In der Nacht träumte Simon, wie Eugen mit dem Fahrrad zwischen grünen Wiesen dahinfuhr. Die Sonne schien von einem blauen Himmel. Simon wunderte sich noch im Traum, denn in seinem ganzen Leben hatte er nie einen blauen Himmel gesehen. Der Himmel war rot. Wie oft hatte er mit Eugen darüber gesprochen, dass die Erde, wenn man sie von einem Satelliten aus noch einmal betrachten könnte, ein rötlich-gelber Planet wäre. Nicht mehr blau wie früher. Hier, in seinem Traum, fuhr Eugen in einen blauen Herbsttag. Und, was ebenso wunderlich war: Eugen, dessen Stimme doch in Wirklichkeit schrill und misstönend war, sang mit einer angenehmen Baritonstimme ein Lied, während er mit dem Fahrrad durch die Landschaft fuhr. Außerdem die Arme! Eugen hatte zwei gesunde Arme! Und ein Gesicht, das nicht mehr in spastische Zuckungen geriet, wenn er den Mund aufmachte. Ein ruhiges, schönes Gesicht hatte Eugen in dem Traum. …
Am Morgen, als Simon erwachte, sah er noch immer das Bild aus seinem Traum vor sich. Der Traum steigerte seine Unruhe, die ihn gleich nach dem Erwachen wieder befiel. Es war merkwürdig, an diesem zehnten September gab er den Sammlern, die am Morgen wie gewohnt in den Wald gingen, ganz allein die Anweisungen. Beim Frühstück konnte er sich mit Eugen nicht wie sonst über ein philosophisches oder historisches Thema streiten. Die Gruppe schien mit einem Male nur noch aus Narren zu bestehen.
Der erste Tag verging, und der zweite Tag verging. Simons Unruhe wuchs ebenso wie sein Gefühl der Einsamkeit. Wieder funkte er nach Nürnberg und ließ sich von Schilderungen der vorbereiteten Begrüßungsfeierlichkeiten ablenken. Und auch in den folgenden Nächten träumte er von Eugen.
Die Träume allerdings änderten sich. Einmal träumte er, dass Simon müde und unaufmerksam mitten hinein in ein Strahlenfeld gefahren war. Er hatte zu spät das Rattern des Geigerzählers bemerkt. Er stieg vom Rad. Schon wurde ihm übel. Nach einiger Zeit bildeten sich Blasen auf der Haut, und unter der Haut sammelte sich Wasser, das den Körper Eugens bald unförmig werden ließ. Am Ende platzten alle diese Blasen gleichzeitig auf, und Simon sah, wie Eugen, der tapfere Eugen, dampfend auf den Asphalt floss und in den Rissen der alten Fahrbahn versickerte.
Er erwachte darauf und spürte eine schreckliche Atemnot, röchelte, stöhnte, weckte damit einige der Schlafenden, die ihn stützten, sodass er aufstehen und ein paar Schritte gehen konnte. Auf diese Weise wurde zwar sein Atem rasch wieder ruhiger, aber die ganze Nacht über und auch am folgenden Morgen verließ ihn eine quälende, nervöse Angst nicht mehr. Sie nistete sich in seinem Kopf fest, bedrohte ihn mit neuen Träumen, denen er ganz und gar hilflos ausgeliefert war.
Noch mindestens drei Tage. Drei volle Tage – und Nächte! –, in denen die Ungewissheit schlimmer war als jede schlechte Nachricht. Unbemerkt wuchs der Hass auf Jolanda in Simon. Als er ihn plötzlich bemerkte, war es zu spät. Er giftete innerlich gegen ihre Schönheit, die ihn und Eugen zu dieser verrückten Unternehmung verleitet hatte, und sagte immer wieder zu sich, dass Eugen tausendmal mehr wert war als diese geile Jolanda. Eugen, ein philosophischer Mensch, dazu mutig, o ja, über alle Maßen mutig. Ein wenig exzentrisch, nun, das schon, aber auch ein anregender Gesprächspartner. Dagegen dieses Mädchen. Sie hatte alle körperlichen Vorzüge der Menschen vor dem Krieg, aber sie hatte keinen Verstand und, was noch viel schlimmer war, sie hatte kein Gefühl für das Denken. Für so ein Wesen, für solch eine leere Hülle riskierte Eugen sein Leben. Welch ein Wahnsinn!
Frühestens in zwei Tagen werden sie ankommen, sagt sich Simon und sucht sich selbst zu beruhigen. Frühestens in zwei Tagen. Doch dann, Simon ist an diesem Nachmittag zufällig in der Höhle, piepst das Funkgerät. Simon kann die Nachricht zuerst kaum glauben, und die anderen wiederholen sie daraufhin: Sie sind gerade angekommen. Alles ist in Ordnung. Eugen und Jolanda sind wohlauf.
Dann ist Eugen selbst am Mikrofon: »Hallo, Simon!« Das vertraute Kreischen, es ist kein Zweifel mehr möglich. »Es war alles ganz leicht. Ich habe fast keine Strahlung abbekommen. Vielleicht war es Glück. Jedenfalls führten alle Straßen durch schwach kontaminiertes Gebiet. Nur unwesentlich mehr als zu Hause in der Höhle.«
»Du bist ganz gesund?«, dröhnt Simons Stimme gerührt.
»Soweit man bei mir noch davon sprechen kann«, kreischt Eugen ironisch zurück. »Ich bin natürlich müde. Aber sonst fühle ich mich nicht schlechter als vor der Reise.«
Eugen muss aufhören zu sprechen, die Batterien sind sonst zu schnell erschöpft. Am Abend will er noch einmal anrufen und eingehender berichten. Außerdem – er deutet es geheimnisvoll an – hat er noch ›einen Plan‹.
Der Plan ist verrückt, aber beim zweiten Hinsehen kann Simon nichts mehr entdecken, was der Verwirklichung im Wege stünde. Eugen hat vorgeschlagen, die ganze Gruppe, soweit sie noch Rad fahren könne, solle die restlichen Räder, die bei der Reparaturaktion übrig geblieben sind, instand setzen. Der Weg sei erkundet. Alle könnten innerhalb von zwei Tagen nach Nürnberg fahren. Beide Gruppen zusammen könnten dann die Hochzeit von Jolanda feiern.
Es gibt da natürlich Bedenken, aber der Gedanke ist zu verlockend. Heraus aus dem engen Kreis der Höhle, andere Menschen sehen, eine Hochzeit zwischen zwei schönen jungen Menschen feiern. Lauter Neuigkeiten, die noch vor ein paar Tagen unerreichbar waren. Simon überlegt nur einen