Mein Sonntag in Münster. Werner Zillig

Mein Sonntag in Münster - Werner Zillig


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uns nach einem Mann für Jolanda umsehen. Du wirst mit mir übereinstimmen, dass bei der einzigartigen Schönheit Jolandas kein Mitglied unserer Gruppe als Mann infrage kommt.«

      »Ich glaube, wir sollten noch ein wenig warten«, sagt Simon. Seine Stimme ist eher ein Keuchen, asthmatisch und röhrend.

      »Und ich sage dir«, singt Eugen dagegen, »dass sie bald vollständig geschlechtsreif sein wird. Hast du denn nicht bemerkt, wie Robert sie immer anstarrt? Warum? Weil die Narren das beste Gespür dafür haben. Darum.«

      Simon, den das Sprechen allzu sehr anstrengt, schüttelt nur den Kopf und gibt so zu verstehen, dass er die Einschätzung Eugens noch immer nicht teilt.

      »Aber du gibst wenigstens zu, dass Jolanda so schön ist, dass wir uns nach einem Mann umsehen müssen, der nicht zur Gruppe gehört, nicht wahr?«

      Hier nickte Simon bedächtig. Er erinnerte sich für einen Augenblick an Jolandas Schönheit. Das heißt nicht, dass Simon an ein schlankes, blondes Mädchen mit hellen, wasserblauen Augen dachte. Nein. Jolanda war klein, rundlich, sogar dick. Sie hatte einen etwas dümmlichen Gesichtsausdruck, war über und über bedeckt mit Pickeln und hatte Füße, die für ein Mädchen ihrer Größe wirklich außergewöhnlich waren. Die Füße verliehen Jolanda ein entenhaftes Aussehen, das sie durch einen watschelnden Gang unterstrich. Und nebenbei gesagt: Jolanda hatte nicht nur ein dümmliches Gesicht, nein, sie war dumm. Hart an der Grenze zu den Narren. Aber sie war schön. Eugen hatte nicht übertrieben. Sie war schön, weil ihr nichts fehlte. Sie hatte Haare, Augen, Ohren, ein vollständiges Gesicht mit richtigen Lippen, Hals, Arme, Beine. Unter ihrem Kleid zeichneten sich bereits kleine Brüste ab. Sie hatte alle körperlichen Eigenschaften der früheren Menschen, und deshalb war sie schön. Um schön zu sein, brauchte man weder Eugens exakt arbeitenden Verstand noch Hermines wunderschöne, dunkle Augen zu besitzen. Schön zu sein, heißt vollständig sein. Eugen hatte recht, man musste sich nach einem Mann umsehen, der ebenso wie Jolanda vollständig war. Zusammen konnten sie die schönsten Kinder in ganz Europa haben. Selbstverständlich gab es keine Garantie. Es war durchaus möglich, dass keines der Kinder überhaupt lebensfähig war. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Jolanda mit einem schönen Mann wunderschöne, vollständige Kinder haben würde, war doch sehr, sehr groß.

      In der Gruppe, der Jolanda ebenso wie Eugen und Simon angehörte, gab es keinen zeugungsfähigen Mann, der schön genug war, um mit Jolanda verheiratet zu werden. Das Problem war nur, dass die anderen Gruppen weit entfernt waren. Wer Jolanda besuchen wollte, musste mitten durch das verstrahlte Gebiet, das rings um die Höhle lag. Bei dieser Reise bestand die Gefahr, dass der junge Mann Genschäden davontrug, die das ganze Vorhaben sinnlos werden ließen. Eugen und Simon dachten schon seit geraumer Zeit über diese Sache nach. Die Chance, einige vollständige Kinder zu bekommen, war zweifellos gegeben. Das war das Wichtigste. Und es lag in ihrer Entscheidung, wie man vorgehen sollte, denn schließlich waren sie die Köpfe der Gruppe. Wenn sie auch alles andere als schön waren, so hatten sie doch einen klaren Verstand, ein Umstand, der ihnen in der Gruppe den Ehrentitel ›die Philosophen‹ eingetragen hatte. ›Das müssen wir unsere Philosophen fragen‹, war eine gängige Redewendung, wenn man vor einem Problem stand und nicht weiter wusste. Jolanda war ein solches Problem.

      »Ich habe gestern mit Rudolf gesprochen. Er sagt, in einer der Gruppen ganz in ihrer Nähe, da gäbe es einen Jungen ungefähr so alt wie Jolanda. Der sei auch ganz und gar vollständig.«

      »Rudolf? Seine Gruppe ist doch südlich von Nürnberg, oder?«, fragte Simon keuchend.

      »Ja schon, aber sonst kennen wir doch niemand. Das ist doch immerhin etwas,«

      Simon ließ seinen großen Kopf wieder bedächtig hin und her pendeln, ehe er antwortete. »Das sind über fünfzig Kilometer. Luftlinie. Das können wir nicht schaffen.«

      Die Höhle, in der die Gruppe lebte, lag in der Fränkischen Schweiz. Die Tatsache, dass Simon sogleich die Entfernung kannte, zeigte, dass er einer war, der viel wusste. Um solche Dinge kümmerte sich sonst keiner in der Gruppe. Wozu auch. Außer Eugen hatte sich noch kein Mitglied der Gruppe jemals mehr als fünf Kilometer von der Höhle entfernt. Überall war stark verstrahltes Gebiet. Mit Rudolf hatte Eugen über das alte Funkgerät gesprochen, das die Gruppe besaß. Das Funkgerät war ein Schatz und unbezahlbar. Nur ganz wenige Gruppen hatten eine solche Zauberkiste. Eugen konnte gegenwärtig mit ungefähr zwanzig anderen Gruppen sprechen. Es wurden freilich immer weniger. Noch vor zwei Jahren waren es ungefähr dreißig gewesen. Irgendwann hatte jedes Gerät einmal einen Defekt. Es gab weder jemanden, der wusste, wie es zu reparieren war, noch Ersatzteile.

      Wie sie es schaffen sollten, einen jungen Mann heil über fünfzig Kilometer zu Jolanda zu bringen, wusste auch Eugen nicht. Einmal, in seiner Jugend, war er selbst auf eine weite Reise gegangen. Er ganz allein, und mit nichts anderem, als einem guten Geigerzähler. Er hatte einfach immer versucht, irgendeinen Korridor in der Landschaft zu finden, der nicht unbegehbar war. Die ganze Gruppe, obwohl sie ihm von der Reise abgeraten hatte, war stolz auf ihn. Von jener Expedition damals stammte auch das Funkgerät. Die harte Strahlung? Nun, Eugen wusste, dass er trotz der Benutzung der Korridore so viel an Strahlung abbekommen hatte, dass seine Lebenserwartung deutlich unter der der anderen Gruppenmitglieder lag. Er war jetzt siebenundzwanzig Jahre alt. Die Reise lag mehr als zehn Jahre zurück. Er rechnete damit, dass er noch fünf, maximal zehn Jahre zu leben hatte. Ohne die Reise damals wäre er vielleicht fünfzig Jahre alt geworden. Aber trotzdem, die Reise hatte sich gelohnt. Er hatte nicht nur das Funkgerät, sondern auch einen Handkarren voller Bücher zurückgebracht. Mithilfe dieser Bücher hatten die Menschen in der Höhle lernen können, und heute gehörten sie sicherlich zu den wenigen Gebildeten in Mitteleuropa. Simon wusste sogar, wie weit Nürnberg von ihrer Höhle entfernt war. Den großen Atlas hatte er damals in einer halbwegs erhaltenen Bücherei in Bamberg gefunden.

      »Wir müssen uns eben etwas einfallen lassen«, sagte Eugen. »Von alleine geht nichts, das ist klar. Aber ich habe da so einige Ideen, die mir durchaus realisierbar zu sein scheinen.«

      Die Sonne war im roten Nebel verschwunden. Aus den Büschen mit den lilafarbenen Blüten, von unterhalb der Höhle, kamen die letzten Sammler mit ihren Beeren und Pilzen zurück. Ein gutes Jahr. Genug zu essen. Keine Niederschläge, die die Nahrung aus dem Wald ungenießbar machten. Was noch gegessen werden konnte und von welchem Zeitpunkt an gehungert wurde, weil die Früchte zu stark strahlten, all das legten Eugen und Simon gemeinsam fest. Sie waren dafür häufig davon befreit, mit den anderen zusammen Früchte zu sammeln. In diesem Jahr würde es leicht gelingen, die Vorräte für den Winter anzulegen.

      Mit den letzten Sammlern kam auch Jolanda zurück. Trotz ihres unbeholfen breiten Gangs kam sie leichter zur Höhle herauf als die meisten anderen. Es gab kaum einen, der nicht eine Krankheit oder eine Missbildung hatte, die ihn beim Gehen behinderte. Und diejenigen, die gut sehen und zupacken konnten, führten die Narren an den Händen. Die meisten der Narren waren durchaus imstande, Früchte zu sammeln. Es musste nur jemand da sein, der sie von Zeit zu Zeit neu anleitete, denn sie vergaßen immer wieder, was sie eigentlich tun sollten. So nahm man sie am Morgen und am Nachmittag mit in den Wald, sie verrichteten geduldig die Arbeiten, die ihnen einer aus der Gruppe auftrug.

      »Wie ist es gegangen?«, fragte Simon, dessen Stimme beim Aussprechen des letzten Wortes aufkreischte.

      »Hier, schau!«, sagte Jolanda stolz und wies auf ihren Korb, der bis zum Rand mit Himbeeren gefüllt war.

      Simon verzog sein Gesicht zu einer anerkennenden Grimasse und ließ seinen Kopf ein paar Mal nach vorne auf seinen Brustkasten fallen. Er hörte mit Vergnügen Jolandas Stimme, die so wohltönend, ohne Zischen oder Kreischen war. Ja, sie mussten wirklich einen Mann finden, der genauso schön war wie Jolanda. Sie verdiente es, dass man sich um sie bemühte. Nur durch solche Menschen wie sie würde auf die Dauer der Bestand der Gruppen gesichert werden können.

      Mit den Sammlern gingen Simon und Eugen zurück zur Höhle. Bald würde die Nacht kommen, sie mussten das Gatter vor die Höhle schieben. Zwar fanden die wilden Hunde jetzt im Sommer genügend Beutetiere, aber es war dennoch besser, wenn man vorsichtig war. Manchmal trieben sich die Hunde auch im Sommer in der Nähe der Höhle herum.

      Als


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